Was steckt hinter der Sarrazin-Debatte?

Die Unterstützung für Sarrazins migrantenfeindliche Thesen wurde von Medien und Politik gemacht.


 

Die Verkaufszahlen des Buches und die Umfragen zeigen, dass Sarrazins Thesen – zumindest in der verkürzten Form, in der sie öffentlich diskutiert werden – auf Interesse und bei Teilen der Bevölkerung sogar auf Zustimmung stoßen. Doch diese Unterstützung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern bewusst gemacht worden, von den Medien und den angeblich so schockierten Politikern der bürgerlichen Parteien.

von Claus Ludwig, Sozialistischer Stadtrat, Die LINKE.Köln

Sarrazins Buch ist mit einer massiven medialen Kampagne gepusht worden. An der Spitze stand die BILD-Zeitung, die sich als Sarrazins Werbeträger betätigt. Der BILD-Spruch „Das muss man doch noch sagen dürfen“ war ein geschickter Schachzug. So wird impliziert, es gäbe Tabus in der Integrationsdebatte. Dabei wird seit Jahren darüber öffentlich gestritten, Sarrazin selbst konnte sich umfassend darüber in den Medien ausbreiten.

Aber es geht nicht allein um BILD. Dass diese Zeitung von Zeit zu Zeit rechte Propaganda aufwärmt, ist bekannt. Wichtiger ist, dass auch „seriöse“ Medien sich daran beteiligen, Sarrazins Thesen zu verbreiten. Eine ernsthafte Analyse seiner Aussagen war fast nirgendwo zu finden. Die bürgerlichen Medien nahmen teilweise eine voyeuristische Haltung ein: Man gruselt sich und zeigt sich schockiert, wie bei einem Splatter-Film oder einem Schmuddel-Porno, aber findet es irgendwie doch spannend.

Andere Kommentare vertreten die Linie, dass Sarrazin über das Ziel hinaus schießen und sich im Ton vergreifen würde, aber echte Probleme ansprechen würde. Das ist auch die Haltung nahezu aller bürgerlichen Politiker. Sie haben kurz hyperventiliert und sich aufgeregt, als Sarrazin von den „jüdischen Genen“ sprach, aber dies nicht einmal zum Anlass genommen, deutlich zu machen, dass er damit Anknüpfungspunkte für Nazis bietet und faktisch als deren Wegbereiter agiert. Der SPD-Fraktionsvorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern, Nieszery, meinte, Sarrazin hätte auf „In der Sache … auf Integrationsprobleme“ aufmerksam gemacht. Minister Gutenberg meint, Sarrazin hätte „die richtige Debatte“ angestoßen und fordert – wie Sarrazin selbst, BILD und der rechte Rand von „ProNRW“ bis zur NPD – eine Integrationsdebatte „ohne Scheuklappen“.

Diese Hauptlinie der bürgerlichen Politik wird flankiert von den Rechtslauslegern aller Parteien, die positiv an Sarrazin anknüpfen, darunter von Klaus von Dohnanyi (SPD), ehemaliger Erster Bürgermeister von Hamburg, der Sarrazin inhaltlich unterstützt und die Behauptung, dass „Gruppen, die sich bisher nicht durch Arbeit und Leistung hervorgetan haben (manche Deutsche oder Teile von Migranten) mehr Kinder bekommen und so das Leistungsniveau der Nation langfristig absenken könnten.“ für richtig erklärt.

Für die Meisten dürften die Fragen von Stil, Ton und Höflichkeit zweitrangig sein. Sarrazins Inhalte sind von Politik und Medien für zulässig erklärt worden, also findet er auch Unterstützung bei Teilen der Bevölkerung. Wobei anzumerken ist, dass nur Teile der Sarrazinschen Positionen öffentlich debattiert werden. Die über Jahre von Medien und bürgerlichen Politikern geschürten Ängste vor einer wachsenden Einwanderung, die angeblich soziale Probleme verursacht, wird von Sarrazin missbraucht, um eine neue Qualität rassistischer Positionen zu verbreiten. Viele denken, dass er zwar mit seinen Aussagen über „Gene“ zu weit gegangen sei, aber Recht damit hat, dass Migration ursächlich für gesellschaftliche Probleme ist. Wenn dieselben Leute dann lesen, dass Sarrazin unter anderem auch verpflichtende Zwangsarbeit für alle arbeitsfähigen Erwerbslosen fordert und bei Weigerung mit der Streichung staatlicher Transferleistungen und der gesetzlichen Krankenversicherung droht, werden sie hoffentlich noch einmal darüber nachdenken, wem sie da auf den Leim gehen. Denn Sarrazin vertritt im Kern einen brutalen, neoliberalen Kapitalismus. Er argumentiert gegen Lohnerhöhungen und für Sozialkürzungen, sein Rassismus ist die ideologische Flankierung nackter Kapitalismusunterstützung.

Medienkampagne und ausbleibender Gegenwind

Eine Gegenaufklärung ist noch nicht im Gange. Gewerkschaften und DIE LINKE halten sich unerklärlicherweise zurück. Auf der DGB-Website ist zwar per Suchfunktion eine klare Einschätzung Sarrazins durch Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach zu finden, auf der Website von ver.di eine Pressemitteilung des ver.di-Migrationsausschusses Frankfurt/Main, aber Argumente gegen dessen Thesen findet man bisher, außer auf der Webseite der IG Metall, nicht, geschweige denn an prominenter Stelle.

DIE LINKE hat einige Pressemitteilungen zum Thema veröffentlich, die aber seltsam lau klingen. Irritierend häufig wird darin vom „Ansehen der Bundesbank“ oder der Bundesrepublik gesprochen. Dass Sarrazins Thesen rassistisch sind, wird erwähnt, aber eine Argumentation ist auch bei der LINKEN nicht zu finden. Dabei wäre es dringend nötig, dass die großen Organisationen der Arbeiterbewegung eine Offensive gegen den Rassismus starten.

Dass sich laut Umfragen 16 bis 18 Prozent vorstellen können, eine „Sarrazin-Partei“ zu wählen, ist das Produkt sowohl von jahrelangen Kampagnen gegen Muslime und MigrantInnen als auch der durch die Wirtschaftskrise verstärkten Zukunftsängste vieler Menschen, aber auch einer Wochen andauernden medialen Berichterstattung und einer gezielten Verharmlosung seiner Vorschläge seitens der etablierten Parteien.

Angesichts der Krise dieser Parteien liebäugeln Teile der herrschenden Klasse und ihrer politischen Vertreter damit, eine „rechtspopulistische“ Partei zu gründen und eine Alternative rechts von der CDU aufzubauen. Als Protagonisten wurden bisher Merz (CDU) und Clement (SPD) gehandelt. Solch eine Partei würde auf Rassismus und Islamophobie basieren und den Druck auf Erwerbslose und Lohnabhängige verstärken.

Sarrazins Provokationen werden als Testballons genutzt, um zu checken, wieviel Unterstützung eine „seriöse“, aus dem Establishment gestartete Rechtspartei hätte – im Unterschied zu den diversen Projekten aus der unzuverlässigen faschistischen Schmuddelecke wie „ProNRW“, NPD usw.

In den europäischen Nachbarländern sind „rechtspopulistische“ Parteien – also Parteien, deren faschistischer Charakter nicht klar erkennbar oder deren klassische faschistische Elemente (Schlägerbanden, „Kampf um die Straße“) schwach oder gar nicht vorhanden sind und die sich erst einmal auf bürgerliche-parlamentarische Methoden beschränken – sehr viel weiter entwickelt.

Die FPÖ in Österreich liegt stabil bei rund 20 Prozent und treibt das gesamte politische Leben nach rechts, in den Niederlanden ist die rassistische Wilders-Partei an der Regierung beteiligt. Diese Parteien spielen eine wichtige Rolle für das Kapital: Sie schwächen den Widerstand gegen Sozialabbau und Lohndumping durch Spaltung, lenken von den sozialen Fragen ab und die Unzufriedenheit auf die jeweiligen Sündenböcke.

Die Gesetzgebung ist weiterhin von Diskriminierung gegenüber MigrantInnen geprägt. Aber zumindest verbal haben SPD und CDU eingestanden, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist. Vor allem die CDU will vermeiden in den Großstädten zu einer strukturellen Minderheitspartei zu werden, weil sie nur als konservativ-christlich gesehen wird. Die verbale Akzeptanz einer multi-ethnischen, meist multikulturell genannten Wirklichkeit hat es den Herrschenden teilweise erschwert, Rassismus als Spaltungsinstrument einzusetzen. Dass Sarrazin jetzt diese große öffentliche Plattform erhält zeigt, dass Teile des Bürgertums es für notwendig halten, neben ihren schon vorhandenen Parteien ein weiteres Instrument in Form eine gröberen Klotzes bereit zu halten.

Potenzial für Rechte

Die Umfragen für Sarrazin sind gepusht worden, aber sie sind natürlich nicht nur ein mediales Produkt. Tatsächlich existiert auch in Deutschland das Potenzial für eine rechte Partei. Während der „echte“, „klassische“ Rasssimus, der Menschen anderer Hautfarbe für „minderwertig“ erklärt, über die letzten Jahrzehnte abgenommen haben, sind andere Formen von Rassismus gestärkt worden. Der „Wohlstandschauvinismus“ gegen MigrantInnen, die uns angeblich die Arbeitsplätze wegnehmen, ist immer wieder kampagneförmig hervorgeholt worden – z.B. in der Asyldebatte der frühen 90er Jahre – und ist bei Teilen der Bevölkerung verankert. Die Propaganda gegen den Islam, die auch für die Rechtfertigung westlicher Kriegseinsätze im Irak und Afghanistan wichtig ist, hat ebenso Wurzeln geschlagen.

Trotz des kurzfristigen wirtschaftlichen Aufschwunges in Deutschland herrscht – zu Recht – ein Gefühl von Krise vor. Die öffentlichen Haushalte kollabieren, die Löhne stagnieren seit Jahrzehnten, die Armut wächst. Die Frustration ist groß. Gerade in Zeiten, in denen wenig Klassenkämpfe stattfinden, in denen eine geringe Selbstaktivität bei den ArbeitnehmerInnen herrscht, in denen die Alternativen der Gewerkschaften und der Partei DIE LINKE schwach ausgeprägt sind, können rassistische Ideen sich auch in Schichten der arbeitenden Bevölkerung verbreiten.

Die Unterstützung für Sarrazin mag schwinden, der Start einer Partei rechts der CDU wird auf viele konkrete Hindernisse stoßen. Doch die Zustimmung für Sarrazin in Teilen der Bevölkerung und die zynische Reaktion der Vertreter des Establishments sind eine klare Warnung an die Arbeiterbewegung und an die Linke: Der Rassismus bleibt eine Waffe der Herrschenden, um die Spaltung in der arbeitenden Bevölkerung zu vertiefen, Widerstand klein zu halten und Repressionen gegen Gruppen der Bevölkerung in Gang zu setzen.

Die Gewerkschaften und DIE LINKE sollten sofort in die Debatte eingreifen, seine Thesen als Hetze entlarven und Argumente gegen Sarrazin breit streuen. Sie sollten auf die Konsequenzen für die Lage der Lohnabhängigen hinweisen, wenn sich rassistische Ideen durchsetzen. Zurückhaltung ist nicht angebracht, man kann diese Debatte nicht totschweigen oder sich wünschen, es gäbe sie nicht.