Stuttgart: Der Sturm nach der Stille

Der Teilabriss des Stuttgarter Bahnhofs hat begonnen.


 

Ende Juli hatte die Errichtung des Bauzauns am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs für eine vier Tage anhaltende Welle zivilen Ungehorsams mit Straßenblockaden, Spontandemos, Besuchen im Rathaus und beim Landtag gesorgt.

von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

In den folgenden Wochen wuchs die Beteiligung an den Protesten noch einmal deutlich an, auf bis zu 30.000 TeilnehmerInnen, die Organisatoren hatten aber einen gewissen Erfolg, die Bewegung in die Bahnen etablierter Protestformen zurückzulenken. Bei dem Schweigemarsch am 20. August gab es auf einem Transparent die Parole, das sei die „Stille vor dem Sturm“. Fünf Tage später war es mit der Stille vorbei und der Sturm brach los.

Tag X

Am Mittwoch, dem 25. August begann der Abriss des Nordflügels des Hauptbahnhofs. Im Vorfeld hatten die S21-Macher angekündigt, den Nordflügel Stockwerk für Stockwerk abzutragen. Jetzt wurde ein über mehrere Stockwerke reichendes Loch in die Fassade gerissen. Für das Lügenpack kommt es auf eine Lüge mehr oder weniger nicht mehr an.

In kurzer Zeit kamen Hunderte und dann Tausende DemonstrantInnen zum Bahnhof und blockierten die Zufahrt.

Andere blockierten die Kreuzung Heilbronnerstr./Arnulf-Klett-Platz vor dem Bahnhof, an der stundenlang nur Rettungswagen mit Blaulicht durchgelassen worden. Andere Kreuzungen in der Innenstadt wurden ebenfalls blockiert, so dass der Verkehr in der Innenstadt stundenlang weitgehend lahm gelegt wurde und stadteinwärts lange Staus entstanden.

Am Spätnachmittag wollte Oberbürgermeister Schuster das Stuttgarter Weindorf eröffnen, eines der „Events“, mit denen die Stadt Stuttgart ihr Image international aufpolieren und Touristen anlocken will. Dieses Jahr fand die Eröffnung unter massivem Polizeischutz und unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, aber begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm. „Die Rufe der Protestler kann auch die launig aufspielende Band nicht übertönen.“ (Stuttgarter Zeitung)

DemonstrantInnen kletterten auf das Dach des Hauptbahnhof-Nordflügels und entrollten ein Transparent: „Brandstifter Schuster – raus aus dem Rathaus“. Sie erklärten, sie würden oben bleiben, bis Verkehrsminister Ramsauer einen Baustopp verkünde.

Um 18.00 Uhr beginnt vor dem Nordflügel eine Protestkundgebung. In Redebeiträgen wird zu Recht erklärt, dass der Abriss bautechnisch zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs notwendig ist und nur dazu dient, Fakten zu schaffen, in der Hoffnung, den Protest gegen Stuttgart 21 so zu entmutigen. Die Gefühle der DemonstrantInnen sind zwiespältig, viele sind zornig, viele sind entsetzt, viele sind verzweifelt. Aber es überwiegt die Entschlossenheit, diese Rechnung der Stuttgart-21-Mafia nicht aufgehen zu lassen. Viele haben die Hoffnung, dass der Abrissbeginn die letzte Karte ist, die die S21-Mafia ausspielen kann. Sie hoffen, dass Stuttgart 21 am Ende ist, wenn der Protest jetzt nicht nachlässt, sondern sich noch einmal steigert. Wir wissen natürlich nicht, was auf der Gegenseite hinter den Kulissen los ist. Richtig ist aber, dass eine Steigerung der Massenproteste, des zivilen Ungehorsams der richtige Weg ist, auch wenn wir keine Garantie übernehmen können, dass wir nur ein paar Tage vom Ziel entfernt sind.

Kurz vor dem Ende der Kundgebung kam die Nachricht, dass AktivistInnen die Abfahrt des TGV nach Paris gestoppt hatten. Das erhielt großen Beifall von den DemonstrantInnen und bissige Kommentare vom Podium, dass der TGV in Paris ebenfalls in einem Kopfbahnhof endet, den dort niemand in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof verwandeln will und Stuttgart offenbar auch ohne Stuttgart 21 nicht vom Hochgeschwindigkeitsverkehr abgeschnitten sei. Der TGV konnte etwa eine Dreiviertelstunde aufgehalten werden, was beim Zugverkehr insgesamt zu einigem Durcheinander führte.

Nach dem traditionellen „Schwabenstreich“ (ab 19.00 Uhr eine Minute Lärm) zog ein großer Demonstrationszug durch die Stuttgarter Innenstadt, während andere AktivistInnen weiterhin Kreuzungen besetzt hielten.

Die Straßenblockaden nach der Errichtung des Bauzauns Ende Juli waren ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei gewesen. Diesmal hielt sich die Polizei bis weit in die Nacht zurück und ließ die BlockiererInnen gewähren und beschränkte sich darauf, den Verkehr umzuleiten.

Jugendoffensive und SAV

AktivistInnen der Jugendoffensive und Mitglieder der SAV waren an vielen der Proteste beteiligt: dem Besuch bei der Weindorf-Eröffnung, der TGV-Blockade, Straßenblockaden. Wir halfen auch, DemonstrantInnen von gut besetzten Blockaden zu Blockaden zu dirigieren, die dünner besetzt waren.