Soll die SPD Teil von Bündnissen gegen Kürzungspolitik sein?

Debatte zwischen Dirk Spöri und Wolfram Klein


 

1977 übersprang die SPD in Westdeutschland die Marke von einer Million Mitglieder. Nachdem die Mitgliederentwicklung der Partei schon in den Achtzigern rückläufig war, verlor die Sozialdemokratie seit 1990 400.000 Mitglieder – und halbierte sich fast auf etwa 500.000 (2008 wurde sie erstmals von der CDU überrundet).

Auch die Zusammensetzung wandelte sich. Unter Neumitgliedern haben Yuppies und Karrieristen hohes Gewicht, die Zahl der betrieblich und gewerkschaftlich Aktiven ist stark zurückgegangen. Während 1972 allein nach dem Misstrauensvotum gegen SPD-Kanzler Willy Brandt in kurzer Zeit 100.000 unter 35-Jährige in die Partei eintraten, so sind heute nur sechs Prozent der Mitglieder jünger als 29 Jahre, 44 Prozent sind über 60.

Kam die SPD unter Brandt bei der Bundestagswahl 1972 auf 45,8 Prozent, so erhielt sie letztes Jahr nur 23 Prozent. Berücksichtigt man die stetig gesunkene Wahlbeteiligung, so sind die Verluste noch dramatischer.

PRO: Dirk Spöri, Mitglied im Landesvorstand der LINKEN Baden-Württemberg und Unterstützer des Netzwerks „marx21“

Am 12. Juni demonstrierten in Berlin und Stuttgart 45.000 Menschen gegen das „Sparpaket“. Wenige Tage nach Ankündigung durch die Regierung wurde so ein deutliches Zeichen der Ablehnung gesetzt. In Stuttgart riefen unter anderem auch die Landesbezirke von DGB und ver.di zu der Demonstration auf, jedoch nicht die IG Metall.

Im Mai entschlossen sich auch die Landesverbände von SPD und Grünen, die Demonstration zu unterstützen. Deren Reden gingen in Pfiffen und Sprechchören unter. Damit drückte sich die berechtigte Wut darüber aus, dass auch SPD und Grüne mit Agenda 2010, Hartz IV, Rente ab 67 und Steuersenkungen für Reiche und Konzerne keine sozialere oder friedlichere Politik als Schwarz-Gelb betrieben hatten.

Sollten SPD und Grüne überhaupt Teil von Bündnissen sein und auf Demonstrationen reden dürfen? Wenn wir „Griechisch lernen“ und auch in Deutschland zu wirklich großen Demonstrationen und politischen Streiks kommen wollen, braucht es einen viel größeren Protest als am 12. Juni. Um das zu erreichen, ist die Unterstützung auch von der IG Metall, ebenso wie von SPD und Grünen nötig.

Die SPD hat sich auch unter Schwarz-Gelb nicht grundsätzlich gewandelt: Sie stimmte im Bundestag dem Afghanistan-Einsatz zu und Steinmeier verteidigt weiterhin Agenda 2010 und Hartz IV.

Auch die Kritik des Kürzungspaketes durch die SPD ist inkonsequent. Dem Paket fehle die „soziale Balance“. Das heißt im Umkehrschluss, dass eine Ergänzung des Pakets beispielsweise durch eine Reichensteuer die Kürzungen bei Hartz-IV-Betroffenen und Armen für die SPD akzeptabel machen würde.

Doch trotz dieser Politik wählen weiterhin viele Menschen die SPD und erhoffen sich von ihr, dass sie dabei hilft, die Kürzungspläne von Merkel zu stoppen. Und viele wünschen sich mit Blick auf die Atompläne der Regierung eine Stärkung der Grünen.

In NRW wählten 41 Prozent der ArbeiterInnen und 33 Prozent der Angestellten die SPD. 51 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder stimmten für die SPD. Ähnlich war es bei der Bundestagswahl. In den Bundesvorständen der großen DGB-Gewerkschaften findet sich derzeit kein Mitglied der LINKEN, jedoch Mitglieder von SPD, Grünen und sogar der CDU.

Die Wandlungen der SPD sind nichts Neues. Schon in den siebziger Jahren wurde mit Helmut Schmidt jede Hoffnung zerstört, die viele Menschen zuvor in Willy Brandt gesetzt hatten. Weiter zurück: 1914 stimmte die SPD – mit Ausnahme von Karl Liebknecht – den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg zu. Die Unterstützung für den Krieg führte zur – schon in den Vorkriegsjahren politisch absehbaren – Spaltung der Partei.

Doch trotz dessen war die gerade gegründete KPD in den zwanziger Jahren bereit zu gemeinsamen Aktionen mit der SPD im Rahmen ihrer Strategie der „Einheitsfront“. So heißt es in den „Thesen zur Taktik der Komintern“: „Die Einheitsfronttaktik ist einfach eine Initiative, durch die die Kommunisten allen Arbeitern, die zu anderen Parteien und Gruppen gehören und allen unorganisierten Arbeitern vorschlagen, sich in einem gemeinsamen Kampf […] zusammenzuschließen. […] es ist die Erfahrung des Kampfes, die die Arbeiter von der Unvermeidbarkeit der Revolution und der historischen Bedeutung des Kommunismus überzeugen wird.“

Dabei kann man sich die Bündnispartner jedoch nicht aussuchen. So heißt es weiter: „Das Wichtigste in der Taktik der Einheitsfront ist und bleibt die […] Zusammenfassung der Arbeitermassen. Der wirkliche Erfolg der Einheitsfronttaktik erwächst von „unten“, aus den Tiefen der Arbeitermasse selbst. Die Kommunisten können dabei aber nicht darauf verzichten, unter gegebenen Umständen auch mit den Spitzen der gegnerischen Arbeiterparteien zu unterhandeln.“ Der gemeinsame Kampf der Arbeiter gegen den Kapp-Putsch 1920 ist ein Beispiel für den Erfolg der Strategie. Unter anderem nach dieser Aktion konnte auch die USPD für den Zusammenschluss mit der KPD gewonnen werden.

Das Hin und Her der SPD vom „Hoffnungsträger“ zum „Verräter“ und zurück zeigt, dass eine unabhängige sozialistische Kraft notwendig ist, die die Interessen von Beschäftigten, Arbeitssuchenden, Studierenden und Rentnern konsequent vertritt. DIE LINKE hat hier eine große Verantwortung. DIE LINKE geht von einer Krisenhaftigkeit des Kapitalismus aus, nicht wie die SPD von einen Betriebsunfall, der von Regierungsseite zu regulieren ist.

Aber klar ist auch: Niemand kommt als „konsequenter“ Gegner des Kapitalismus auf die Welt. Es gilt, in den sozialen Auseinandersetzungen die Menschen zu überzeugen. DIE LINKE sollte selbstbewusst auf ihre besseren Argumente vertrauen – und an der Vorbereitung der Demonstrationen, Streiks und Kämpfe mitwirken.

Erfolgreiche Kämpfe gegen das Kürzungspaket würden das Selbstbewusstsein vieler Menschen stärken und damit den Weg für weitere Aktionen – gegen Entlassungen, Kriegseinsätze, Studiengebühren, Atomenergie und vieles mehr – bereiten. Die Kritik an SPD und Grünen wäre in keinem dieser Kämpfe vergessen und es wäre Aufgabe nicht nur der LINKEN, daran zu erinnern.

Gemeinsame Bündnisse dürfen politische Konflikte zwischen den Bündnispartnern nicht unter den Tisch kehren, aber gemeinsame Bündnisse und daraus resultierende erfolgreiche Proteste sind das beste Argument gegen alle, die glauben, eine SPD-Regierung würde alles anders und besser machen.

CONTRA: Wolfram Klein, Mitglied im Vorstand der LINKEN in Stuttgart-Bad Cannstatt und Mitglied des SAV-Bundesvorstands

Ob es ein Bündnis gegen Kürzungsmaßnahmen stärkt, wenn sich eine Partei an ihm beteiligt, hängt davon ab, wofür diese Partei steht. Rot-Grün ermöglichte dem deutschen Kapital die Durchsetzung ganz zentraler Projekte wie die Beteiligung am Jugoslawien-Krieg (dem ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr) oder der Agenda 2010, dem größten Angriff auf die sozialen Sicherungssysteme seit Gründung der Bundesrepublik. In den Ländern und Kommunen, in denen die SPD heute Regierungspartei ist, betreibt sie den gleichen Kahlschlag wie die CDU.

Wenn wir den Kampf gegen Sozialkürzungen auf das für die SPD Akzeptable beschränken, können wir vielleicht eine Spekulationssteuer fordern (wie das die SPD Baden-Württemberg in ihrem Aufruf für die Demo am 12. Juni gemacht hat), aber die Kürzungspolitik nicht grundlegend bekämpfen.

Viele TeilnehmerInnen würden zudem das Gefühl bekommen, sie würden nur instrumentalisiert, damit SPD und Grüne wieder an die Regierung kommen. Auch das würde den Protest schwächen.

Dagegen stärkt es den Widerstand, ihn mit Protesten gegen Kürzungen der Länder und Kommunen zu verbinden (auch die von SPD und Grünen). Besonders deutlich ist das gerade in Stuttgart, wo jeden Montag Tausende gegen Stuttgart 21 demonstrieren. Es hat das Stuttgarter Krisenbündnis gestärkt, sich gegen Stuttgart 21 zu positionieren. Es hätte es geschwächt, das mit Rücksicht auf die Stuttgart-21-Partei SPD zu unterlassen.

Wenn einzelne Mitglieder oder sogar Gliederungen der SPD bereit sind, auf dieser Grundlage mitzuarbeiten, ist das natürlich etwas anderes; dann ist es ihr Problem, dass sie in einer Partei sind, die den Kapitalismus verteidigt.

Es stimmt, dass auch andere Kräfte wie die Spitzen der Gewerkschaften bisher Kürzungen nicht konsequent ablehnen, sondern nur ausgewogenere Kürzungen ohne soziale Schieflage (siehe ver.dis Kampagne „Gerecht geht anders“) fordern. Bei den Gewerkschaften ist das ein Ausdruck davon, dass ihre Führungen das kapitalistische System nicht grundlegend in Frage stellen, das in seiner gegenwärtigen Krisenperiode auf Kürzungen angewiesen ist. Kein Wunder, an ihren Spitzen stehen meist SPD-Mitglieder (oder Grünen-Mitglieder wie ver.di-Chef Bsirkse).

Damit die Gewerkschaften konsequent die Inter-essen ihrer Mitglieder vertreten, müssen wir für einen politischen Bruch der Gewerkschaften mit der SPD kämpfen. Die Gründung der WASG und die wachsende Unterstützung für DIE LINKE in den Gewerkschaften waren wichtige Schritte in diese Richtung. (Im Übrigen widerspiegeln diese Prozesse auch die Haltung von mehr und mehr ArbeiterInnen, die in der SPD eben kein Instrument mehr zur Durchsetzung ihrer Anliegen sehen). Auch wenn die Linkspartei selbst zwiespältig ist und da, wo sie mitregiert, Kürzungspolitik betreibt, unterscheidet sich die Zwiespältigkeit der LINKEN von der Eindeutigkeit der SPD, die ihren Frieden mit dem kapitalistischen System gemacht hat und eine rein bürgerliche Partei geworden ist.

Im 19. Jahrhundert war die SPD als Arbeiterpartei gegründet worden. Seit dem Ersten Weltkrieg hat sie eine bürgerliche Führung, die in allen entscheidenden Momenten das kapitalistische System verteidigte. In den neunziger Jahren verwandelte sie sich dann aber aus einer Arbeiterpartei mit bürgerlicher Führung in eine durch und durch kapitalistische Partei, auch wenn ihre Wählerschaft weiterhin hauptsächlich aus der Arbeiterklasse kommt. Aber in der Vergangenheit wurde die SPD nicht nur aus einem Mangel an Alternativen, sondern aus Überzeugung gewählt. Sie wurde von ArbeiterInnen als „ihre“ Partei betrachtet – viele setzten sich im eigenen Umfeld engagiert für die Partei ein. Das ist heute längst nicht mehr der Fall. Deshalb sind alle Vergleiche mit der Einheitsfrontpolitik der KPD gegenüber der SPD in den zwanziger Jahren schief.

Natürlich kann es trotzdem heute noch Illusionen in sozialdemokratische Parteien geben, zum Beispiel in Griechenland im letzten Herbst in die PASOK-Partei, die wenige Monate später für die Herrschenden den schlimmsten Sozialkahlschlag seit Jahrzehnten durchpeitschte. Bei Schröders Wahlsieg 1998 gab es auch Erwartungen – aber keinen großen Mitgliederzustrom wie rund um Brandts Wahlsieg 1972.

Früher sahen viele ArbeiterInnen die SPD als Interessenvertretung, als Kraft der Veränderung und wurden deshalb in ihr aktiv. Es tobten heftige Auseinandersetzungen in der Partei, immer wieder wurde realer Druck auf die Parteiführungen ausgeübt. Damals waren SPD-Mitglieder an der Basis von Gewerkschaften und in Betrieben aktiv (gaben zum Beispiel eigene Betriebszeitungen heraus) oder engagierten sich in Bürgerinitiativen. Wenn sie für eine Demo mobilisierten, machte das einen wichtigen Unterschied. Heute ist nur ein blasser Schatten davon übrig.

Heute ist der Aufbau neuer Parteien für Beschäftigte und Erwerbslose notwendig, in Deutschland und international. Damit DIE LINKE heute ein Ansatzpunkt für die Arbeiterklasse auf der politischen Ebene ist, muss sie gegen alle Parteien des Kapitals unabhängig sein. Damit der Kampf von Bündnissen gegen Kürzungsmaßnahmen Erfolge erzielen kann, muss die Bereitschaft bestehen, die Konfrontation mit den Herrschenden einzugehen – eine Rücksichtnahme auf die SPD würde dem im Wege stehen.