Massaker in Kundus – Bombenterror für Mädchenschulen ?

Bundeswehr raus aus Afghanistan!


 

Bei der von der Bundeswehr angeforderten Bombardierung zweier von Taliban in der Nähe von Kundus gekaperten Tanklastwagen sind nicht 56 ( wie vom Verteidigungsministerium behauptet ), sondern mindestens 125 Menschen getötet worden.

Das musste selbst ‚Bild am Sonntag’ unter Bezug auf ein zehnköpfiges NATO-Untersuchungsteam einräumen. Die tatsächlichen Opferzahlen dürften noch höher liegen, denn viele Leichen sind in Stücke gerissen worden oder fast vollständig verbrannt, zudem werden Tote in Afghanistan üblicherweise sehr schnell beerdigt.

von Michael Schilwa, Sputendorf

Die gebetsmühlenartig wiederholte Linie der Bundeswehr lautet: Wir führen keinen Krieg, sondern schützen den zivilen Aufbau. Nur wenn wir angegriffen werden, schießen wir zurück.

Auf den Vorfall in der Nähe von Kundus trifft nichts davon zu: Nach Augenzeugenberichten versammelten sich hunderte von Dorfbewohnern bei den zwei entführten Tanklastern, von denen einer in einer Sandbank im Fluss Kundus stecken geblieben war, um sich Benzin zu holen.

Weder wurden deutsche oder andere Besatzungstruppen angegriffen, noch sticht die Schutzbehauptung der Bundeswehr, mit der Bombardierung habe ein Selbstmordattentat auf den Bundeswehrstützpunkt in Kundus mit Hilfe der Tanklaster verhindert werden müssen, denn die Kidnapper brachten die Laster etwa 7 KM südwestlich von Kundus in ihre Gewalt und flohen dann mit diesen weiter in südwestliche Richtung, entfernten sich also von der Stadt.

Weder zeigten die Luftaufnahmen, die Oberst Klein ( so heißt der Mann ) zur Anforderung der Bomber veranlassten, dass sich um die beiden Tanklaster ausschließlich Taliban – Kämpfer versammelt hatten ( selbst der Sprecher von US-General McChrystal musste zugeben, dass „nur Schatten“ zu erkennen gewesen seien ) noch trifft die Vermutung von Verteidigungsstaatssekretär Kossendey zu, zum Zeitpunkt der Luftangriffe ( nach Mitternacht) könnten unmöglich so viele Menschen auf den Beinen gewesen sein – im Fastenmonat Ramadan beginnen zu dieser Zeit die Vorbereitungen für das Nachtmahl.

Halten wir also fest, was Fakt ist: Um fliehende Benzindiebe zu stoppen, lässt die Bundeswehr ein Massaker an richten ! Dennoch möchte Verteidigungsminister Jung nicht von Krieg sprechen. Weder das Blutbad selbst noch die verhaltene bis scharfe Kritik der Außenminister Italiens, Frankreichs, Englands, der EU-Außenbeauftragten, des spanischen Regierungschefs, des stellvertretenden UN-Gesandten für Afghanistan etc. pp. bringen Jung dazu, seine sture Behauptung zu korrigieren, es seien „ausschließlich terroristische Taliban“ getötet worden. Während Jung noch zivile Opfer leugnet, gehen TV-Bilder um die Welt, die den kommandierenden US-General in Afghanistan McChrystal beim Krankenhaus-Besuch von bei dem Luftangriff schwer verletzten Kindern zeigen. Ab Montagmittag – afghanische Behörden gehen inzwischen von „mindestens 134 Toten“ aus, darunter „viele Kinder“ – rudert das Verteidigungsministerium zurück und spricht von „möglicherweise einigen“ zivilen Opfern.

Jung trägt die politische Verantwortung für diesen Bombenangriff und die persönliche Verantwortung für den versuch, die Öffentlichkeit zu täuschen. Dass ein solcher Minister nicht sofort gefeuert wird, sagt viel über den Charakter einer Regierung aus. Auch wenn sich durch einen anderen Minister die deutsche Politik in Afghanistan nicht ändern würde – Jung muss weg!

Der Begründung des ‚Netzwerk Friedenskooperative’ ist nichts hinzuzufügen: „Wenn es ein Krieg ist, war das ein Kriegsverbrechen, ist es kein Krieg, war es Massenmord“

Propaganda-Märchen

Die ‚Bild am Sonntag’ macht sich Sorgen um die Demokratie: „Bislang ist es gelungen, den Afghanistan-Einsatz weitgehend aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Die deutschen Soldaten, die am Hindukusch Leib und Leben riskieren, haben einen Anspruch darauf, dass das so bleibt ! „

Daraus wird wohl nichts, denn in Kundus sind die Propaganda-Märchen der Kriegsbefürworter und Kriegsverharmloser gleich mit zerbombt worden.

Erstens sollen wir glauben, dass es einen Unterschied gäbe zwischen (militärischer) Operation Enduring Freedom (OEF) und (ziviler) International Security Assistance Force (ISAF) – gerne ergänzt durch das Bild von ruppigen US-Cowboys, denen menschliche „Kollateral – Schäden“ egal sind und bedenkenträgerischen deutschen ISAF-Militärs, denen das Wohl der lokalen Bevölkerung über alles geht. Seit dem Massaker von Kundus alles Makulatur.

Zweitens das Mantra vom zivilen Wiederaufbau. Dass die Bundeswehr in Afghanistan ist, um Brunnen zu bohren und Mädchenschulen zu beschützen, glaubt außer dem Verteidigungsminister und ein paar „Anti-Deutschen“ kein Mensch.

69 Prozent aller Deutschen hielten den Afghanistan-Krieg im Juli 2009 für falsch und befürworten einen „möglichst schnellen“ Rückzug der Bundeswehr ( 2007 waren es nur 55 Prozent ) und das trotz eines kriegstreiberischen medialen Dauertrommelfeuers ( von Hobby-Globalstrategen bis zum schwer verwundeten Obergefreiten bei ‚Anne Will’).

Seit Freitag letzter Woche brauchen einige Kinder aus Kundus jedenfalls keine Schulen mehr.

Drittens wird uns eingetrichtert, dass in Afghanistan nicht Krieg gegen die Bevölkerung, sondern gegen den „internationalen Terrorismus“ in Gestalt der Taliban geführt wird.

Abgesehen davon, dass die heutigen „Terroristen“ zu Zeiten der sowjetischen Besatzung Afghanistans vom Westen gefeierte und von der CIA finanzierte „Freiheitskämpfer“ waren – in Afghanistan wenden sich nicht nur die Taliban, sondern z.B. auch Frauenrechtsgruppen wie RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan, zentrale Losung: „Weder USA noch Dschihadisten (Heilige Krieger, M.S.) und Taliban !“) gegen die ausländischen Besatzer.

Deutsche und internationale Hilfsorganisationen erklären unisono, nur dort vernünftig arbeiten zu können, wo es keine Besatzungstruppen gibt. Das heißt nicht, die Taliban zu verharmlosen oder ihrer erzreaktionären Ideologie auch nur einen Millimeter entgegen zukommen (s.u.), aber was die „westliche Wertegemeinschaft“ (vulgo der Imperialismus) in Afghanistan betreibt ist Feuer mit Öl zu löschen.

Deutlich wird das, wenn z.B. der Provinzgouverneur von Kundus, Mohammad Omar (im Gegensatz zu seinen deutschen „Partnern“) Klartext spricht: „Die Dorfbewohner haben den Preis dafür bezahlt, dass sie den Aufständischen helfen und ihnen Unterschlupf gewähren.“

Das Zitat erinnert an Ex-US-Außenminister Kissinger, der anlässlich des CIA-gesteuerten

Pinochet-Putsches gegen Präsident Allende 1973 sinngemäß erklärte, er sei nicht bereit ein Land aufgrund der Unverantwortlichkeit seiner Bevölkerung dem Kommunismus zu überlassen.

Übrigens sind alleine in diesem Jahr in Afghanistan über 800 Zivilisten von NATO-Truppen umgebracht worden. Kein Krieg gegen die Bevölkerung ?

Kapitalismus heißt Krieg

Eins muss man Oberst Klein und seinen Mitstrategen lassen: Ein Gefühl für Timing und historische Kontinuitäten. Fast punktgenau 70 Jahre nach dem Überfall der faschistischen Wehrmacht auf Polen zeigt die Bundeswehr, was man unter „Traditionspflege“ zu verstehen hat.

In der ‚Jungen Welt’ vom 3.9.09 beschäftigt sich Winfried Wolf mit dem sechzigigsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen und zieht am Ende seines Artikels einige Parallelen zum Angriffskrieg in Afghanistan.

Natürlich ist der Afghanistan-„Einsatz“ ein politischer Test, wie weit man schon wieder gehen kann – die Leute müssen eben an Kriege gewöhnt werden. Während die Bundeswehr 1999 in Jugoslawien „nur“ aus der Luft operierte, soll sie heute in Afghanistan zum ersten mal seit 60 Jahren am Boden als Angriffsarmee eingesetzt werden.

„In einem Bericht der Financial Times Deutschland vom 18.6.09 zur Lage vor Ort (in Afghanistan, M.S.) wird Hans-Christoph Grohmann, der Anführer der schnellen Eingreiftruppe, bei der Vorstellung eines Bundeswehroffiziers mit den Worten zitiert:

„ Das ist der erste (deutsche, W.W.) Oberleutnant, der nach 1945 eine Infanteriekompanie im Angriff geführt hat.“ (junge Welt vom 3.9.09)

Wirklich beängstigend ist der Zusammenhang zwischen sozialer Krise und Kriegsbereitschaft.

62 % der deutschen Soldaten in Afghanistan stammen aus Ostdeutschland, d.h. dort wo die Arbeitslosigkeit teilweise doppelt so hoch ist wie in Westdeutschland melden sich (bezogen auf die Einwohnerzahl) dreimal so viele junge Männer zum Kampfeinsatz.

Denn der ist für viele durchaus lukrativ: 13.000 € zusätzlich zum Grundsold in 4 Monaten.

Aber es wird nicht nur psychologisch und politisch getestet, sondern auch ganz praktisch.

Etwa deutsche Waffen. In Afghanistan zum Einsatz kommen u.a. EADS-„Kampfdrohnen“ und der „kettengetriebene Panzermörser Wiesel 2“ von Rheinmetall. Kein Wunder also, dass mitten in der tiefsten Krise der so genannten „Realwirtschaft“ die Profite von Rheinmetall, Krauss-Maffei, Diehl, Thyssen, und EADS steigen.

Dass es am Ende des Tages natürlich nicht um „Freedom and Democracy“, sondern um Rohstoffe und „Geostrategie“ geht, bestreiten nicht mal mehr FAZ-Redakteure (man gönne sich hin wieder einen der Leitartikel von Josef Joffe, der aus seinem – imperialistischen – Herzen nun wahrlich keine Mördergrube macht). Genau DAS meint SPD-Fraktionschef Struck, wenn er davon spricht, dass Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird.

Terror ist der Krieg der Armen – Krieg ist der Terror der Reichen

Linke dürfen nicht nach dem Motto „Meines Feindes Feind ist mein Freund“ verfahren. Auch wenn die Taliban dem deutsch/europäischen und US-amerikanischen Imperialismus immer wieder schmerzliche Niederlagen bereiten, bedeutet das nicht, dass Linke daran auch nur irgendwie anknüpfen könnten (wie manche „Anti-Imperialisten“ meinen, die alle Islamisten und Despoten dieser Welt in einer gemeinsamen Front versammeln möchten, solange sie nur eine Meinungsverschiedenheit mit dem US-Imperialismus haben).

Die Taliban sind durch und durch reaktionär und extrem frauenfeindlich, verteidigen die feudalen Dorf- und Stammesstrukturen und halten die eigenen Leute in dumpfer Unwissenheit. Das Taliban-Regime von 1996 – 2001 war ein Paradies für Warlords, Drogenbarone und Stammesfürsten.

Wer für die barbarische Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan 2001 verantwortlich ist,

Musik hören verbieten will und die Steinigung von „Ehebrecherinnen“ normal findet, kann von Linken nicht (auch nicht noch so kritisch) unterstützt werden.

Auch wenn es in einem derart rückständigen und geschundenen Land wie Afghanistan unwahrscheinlicher klingt als in „entwickelten“ Weltregionen: Auch für die afghanischen Arbeiter und Bauern ist die einzige (Überlebens)Perspektive die einer sozialistischen Revolution. Die Imperialisten aus dem Land jagen und die klerikal-feudale Ordnung stürzen, sind zwei Seiten einer Medaille.

Von Böcken und Gärtnern

Die Allerletzten, die sich gegen die Taliban als Frauenrechtler und Menschenrechtsverteidiger aufspielen dürfen, sind allerdings imperialistische Politiker und Militärs.

Ginge es tatsächlich um Menschenrechte und den Kampf gegen den Terror, müsste die NATO in Riad (der saudischen Hauptstadt) und nicht in Kabul oder Kundus einmarschieren.

Der saudische wahabitische Islam ist mindestens so frauen- und menschenrechtsfeindlich wie der paschtunische Talibanismus. Die Attentäter von „Nine-Eleven“ waren überwiegend Saudis, kein einziger stammte aus Afghanistan. Kritik an der Feudal-Diktatur in Saudi-Arabien kommt in den Mainstream-Medien aber so gut wie nicht vor – die saudische Königsfamilie verfügt schließlich über exzellente Beziehungen zum Bush-Clan, ist unersetzlicher Öl-Lieferant für die NATO-Staaten und zudem ein zuverlässiger Partner bei der Niederhaltung der Völker des Nahen Ostens.

Aber auch deutsche grüne und sozialdemokratische Politiker sollten sich heuchlerische Kritik und Krokodilstränen zum Massaker von Kundus lieber sparen. Dass ausgerechnet Schröder jetzt einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan bis 2015 fordert, ist nicht mehr als eine Lachnummer. Es war die Schröder/Fischer-Regierung, die mit ihrer „bedingungslosen“ (Schröder) Unterstützung des US-Imperialismus nach den Anschlägen von 2001 erst den Weg zur deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan frei machte.

Erinnert sei auch an den Jugoslawien-Krieg. Insbesondere ohne die grüne „Friedenspartei“ wäre der erste imperialistische Angriffskrieg Deutschlands seit 1945 an der „Heimatfront“ nicht durchsetzbar gewesen.

Pazifismus und Antimilitarismus

Marxisten arbeiten in der Friedensbewegung eng und vertrauensvoll mit Pazifisten zusammen ohne selbst welche zu sein.

Wir lehnen Selbstmordattentate und Bombenanschläge auch in Afghanistan ab. Erstens trifft es fast immer die „Falschen“, nicht die für den Krieg verantwortlichen Militärs und Politiker, sondern Bauern, Busfahrer, Krankenschwestern. Zweitens ist es die falsche Strategie, denn sie setzt nicht auf Massenmobilisierung, sondern eine Atmosphäre des Hasses und der Angst.

Despotische Regimes lassen sich aber nicht „weg bomben“.

Andererseits hat auch der afghanische Widerstand jedes Recht auf bewaffneten Widerstand gegen die Besatzer. Gegen deutsche Eingreiftruppen, amerikanischen Delta-Forces (die übrigens auch und gerade in der Region Kundus eingesetzt werden) oder brutalisierte Blackwater-Söldner helfen leider keine Sozialforen.

Die LINKE wählen und verändern

Die LINKE ist die einzige Anti-Kriegspartei im deutschen Bundestag. Und wer will, dass 69 Prozent der Bevölkerung, die einen schnellen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan wollen, auch im neuen Bundestag wenigstens eine Vertretung (wenn schon nicht die Mehrheit) haben, muss am 27.9. die LINKE wählen.

Aber wählen alleine reicht nicht. Der Kampf gegen Militarisierung und Auslandseinsätze muss vor allem auf der Straße, in den Betrieben, Schulen , Universitäten geführt werden.

Der Aufruf der LINKE zu einer Protestkundgebung gegen den Bombenterror in Afghanistan vor dem Brandenburger Tor am Dienstag, den 8.9.09 ist ein wichtige und schnelle Reaktion. Es reichen aber keine medial inszenierten Kundgebungen, sondern jetzt sollte die Partei auf allen Ebenen eine wirkliche Kampagne für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan organisieren und in Städten und Gemeinden Proteste, Aktionen und Veranstaltungen durchführen. Aber leider ist die außerparlamentarische Mobilisierung ansonsten speziell in Ostdeutschland und Berlin keine Stärke der LINKEN.

Auch ist die klare Anti-Kriegshaltung der LINKEN nicht für immer und ewig in Stein gemeißelt. Der Hebel zu einer Änderung des bisherigen Nein zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr wird wie immer die Aussicht auf Regierungsbeteiligung sein. Noch ist das kompromisslose Nein zum Krieg eine der Lafontainschen „Brandmauern“ (allerdings steht eine Regierungsbeteiligung der LINKEN 2009 sowieso nicht auf der Tagesordnung), wobei auch er sich positiv für eine deutsche Beteiligung an so genannten Blauhelmeinsätzen ausspricht. Kollege Gysi denkt da schon mal weiter. Nicht umsonst nahm er das für deutsche Linken besonders sensible Thema Israel (Pro-Zionismus als „Staatsraison“ auch für die LINKE) zum Anlass, den „Anti-Imperialismus“ für „von gestern“ zu erklären. Die eigentlichen Adressaten dieser Botschaft sind die potentiellen grünen und sozialdemokratischen Koalitionspartner 2013. Denn eines zeigt die Geschichte der Bundesrepublik seit 1945: Unter kapitalistischen Bedingungen an die Regierung kommt nur, wer die „Westbindung“ der Bundesrepublik, vulgo die NATO, bedingungslos akzeptiert.

Die Entwicklung der Grünen von der Friedens- zur Kriegspartei sollten wir der LINKEN ersparen.

Schluss mit dem Bombenterror !

Sofortiger und bedingungsloser Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan !

Michael Schilwa ist Mitglied der Partei DIE LINKE.