Gesundheit in einer sozialistischen Gesellschaft

Was bei nichtkapitalistischen Verhältnissen, was bei einem freien, kostenlosen Zugang zu medizinischen Einrichtungen möglich wäre


 

Es wäre leicht, hier über die katastrophalen Entwicklungen im Gesundheitswesen zu schreiben, aber es soll an dieser Stelle darum gehen, wie Gesundheitsversorgung im Sozialismus aussehen könnte.

Natürlich kann das im Detail keiner wissen, aber einige Eckpunkte können sicherlich heute schon schlaglichtartig beleuchtet werden. Denn vieles für die Gesundheit und zur Vermeidung von Krankheit Notwendige ist bereits seit über hundert Jahren bekannt, wird aber wegen den menschenverachtenden „Gesetzmäßigkeiten des Marktes“ erst in einer sozialistischen Gesellschaft umgesetzt werden.

von Carsten Becker, Vorsitzender der ver.di-Betriebsgruppe am Berliner Uniklinikum Charité*

Die größten katastrophalen Missstände heutiger Gesundheitspolitik haben ihre Ursache im Unvermögen, auf der Grundlage der derzeitigen Gesellschaftsordnung längst gewonnene Erkenntnisse umzusetzen.

Armut macht krank – Die Verhältnisse machen krank

Die meisten Menschen, die auf Grund einer Erkrankung sterben, sterben an heilbaren Krankheiten. Hunger und Armut sind die Haupttodesursachen auf unserem Planeten. Der Zugang zu sauberem Wasser und anderen hygienischen Mindeststandards, ist das, was den meisten Menschen fehlt.

„Die wachsende Kluft zwischen denen, die Zugang und jenen, die keinen Zugang zu einer Grundversorgung haben, tötet jeden Tag 4.000 Kinder“, sagt UNICEF-Direktorin Carol Bellamy. Nur ein Drittel der Menschen in Asien und Afrika haben Zugang zu sanitären Einrichtungen. Die Verbesserung des Gesundheitszustandes ist in erster Linie einfach eine Frage der Verbesserung der Lebensbedingungen. Und diese Erkenntnis ist weder neu noch ausgesprochen sozialistisch.

„Die Bedingungen des Wohlseins sind aber Gesundheit und Bildung, und die Aufgabe des Staates ist es daher, die Mittel zur Erhaltung und Vermehrung der Gesundheit und Bildung in möglich größtem Umfange durch die Herstellung öffentlicher Gesundheitspflege und öffentlichen Unterrichts zu gewähren. Wenn der Staat es zulässt, dass durch irgend welche Vorgänge, sei es des Himmels oder des täglichen Lebens, Bürger in die Lage gebracht werden, verhungern zu müssen, so hört er rechtlich auf, Staat zu sein, er legalisiert den Diebstahl (die Selbsthülfe) und beraubt sich jedes sittlichen Grundes, die Sicherheit der Personen oder des Eigenthums zu wahren. Dasselbe ist der Fall, wenn er zulässt, dass ein Bürger gezwungen wird, in einer Lage zu beharren, bei der seine Gesundheit nicht bestehen kann“ (Rudolf Virchow, Arzt, 1848).

Länger leben

Auch vor unserer Haustür haben die gesellschaftlichen Bedingungen sogar wieder im verstärkten Maße unmittelbare Auswirkung auf die Gesundheit. In den armen Stadtvierteln Berlins ist die durchschnittliche Lebenserwartung zehn Jahre kürzer als in den noblen Vierteln im Südwesten der Stadt. Nicht den Zustand beschreiben war das Ziel des Artikels, aber dieses macht deutlich, wie schnell Milliarden von Menschen auf diesem Planeten länger und gesünder Leben könnten, ohne auch nur eine Pille dafür schlucken zu müssen.

Eben solches gilt auch für die Arbeitsbedingungen. Stress, Arbeitsverdichtung, zu lange Lebensarbeitszeit, Nachtarbeit und Schichtdienst (allein das verkürzt die Lebenserwartung statistisch gesehen um zehn Jahre), Arbeitslosigkeit und in weiten Teilen der Welt Kinderarbeit – all dieses im Interesse der Beschäftigten konsequent anzugehen, wäre ein weiterer Meilenstein zur Genesung der Menschheit. Arbeitspolitik ist Gesundheitspolitik!

Zugang zu medizinischen Einrichtungen

Ein weiterer einfacher, aber ebenso wirksamer Schritt wäre der freie, kostenlose Zugang zu medizinischen Einrichtungen und Medikamenten. Es sind allein die gesellschaftlichen Bedingungen und die Profitgier der Pharmakonzerne, sowie der Industrie für Medizinprodukte beziehungsweise -geräte, die dieses verhindern und Millionen von Menschen an heilbaren/behandelbaren Erkrankungen sterben lassen.

Flächendeckende Schwangerenvor- und -nachsorge und ausreichender Impfschutz für alle Kinder dieser Welt würde die Kindersterblichkeit auf einen Schlag um ein Vielfaches reduzieren.

Dieses zu erreichen ist Teil der so genannten Millenium Development Goals der Vereinten Nationen (UN) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Beide Institutionen stehen ja nun nicht in dem Ruf, ausgesprochene Kritiker der herrschenden Gesellschaftsordnung zu sein. So verbleiben diese Ziele als zynischer und moralinsaurer Fingerzeig auf Kongressen und Konferenzen. Ihre Durchsetzung aber, zum Wohle der Menschen, als Aufgabe denjenigen, die eine neue Gesellschaftsordnung errichten wollen und werden.

Krankheiten und Behinderungen im Sozialismus?

Auch in einer sozialistischen Gesellschaft oder auch später noch, wenn diese sich weiterentwickelt hat, werden Menschen krank, kommen krank oder mit Behinderungen oder Fehlbildungen auf die Welt.

Wer geboren wird, muss sterben. „Denn alles, was entsteht ist wert, dass es zu Grunde geht“ (Goethe, „Faust“). Aus diesem biologischen Grundsatz schöpft die Natur dieses Planeten ihre Kraft zu Vielfalt, Veränderungen und Weiterentwicklung, auch die der Gattung Mensch.

Die Verinnerlichung dieses Grundsatzes in der Gestaltung eines menschenwürdigen Lebens auch in Krankheit und/oder mit Behinderung, sowie ein menschenwürdiges Sterben werden die Hauptaufgaben der Medizin der Zukunft sein.

Natürlich wird es weitere Durchbrüche in der Diagnostik und Behandlung von Leiden und Erkrankungen geben. Insbesondere, wenn die Forschung nicht mehr behindert wird durch ihre Bezahlbarkeit und die künftige Profitabilität auf dem Gesundheitsmarkt.

Auch wird es sicherlich Veränderungen in Diagnostik und Behandlungen geben, wenn die „Schulmedizin“ von der Profitgier des Gesundheitsmarktes befreit und mit dem verknüpft werden könnte, was von der „alternativen Medizin“ und der „Naturheilkunde“ übrig bleibt, wenn diese von ihrem esoterischen und pseudo-religiösen und religiösen Beiwerk befreit werden.

Frage der Ethik

Aber es wird auch ethische Instanzen geben müssen, die entscheiden, was von dem, was möglich ist, auch gemacht wird oder eben bewusst nicht gemacht wird. Wollen wir wirklich, zu Forschungszwecken, wie jetzt in Großbritannien möglich, Chimären (Organismen mit Erbinformationen verschiedener Lebewesen) züchten, in denen menschliches Erbgut und tierische Zellen miteinander verknüpft und zur embryonalen Reife gebracht werden?

Wer entscheidet, was ethisch verwerflich ist oder ob es nicht doch für die Forschung (Grundlagenforschung) unerlässlich ist? Dies gilt es sicherlich noch zu diskutieren.

Für demokratische Strukturen im Gesundheitswesen

Gesundheit im Sozialismus bedeutet zunächst also Verbesserung der Lebensbedingungen und einen freien Zugang zu medizinischen Einrichtungen. Ergänzt durch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen würde dieses zur wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes der Menschheit beitragen.

Eine von „Marktzwängen“ befreite Forschung und eine Bildung für alle werden zu einem enormen Schub in wissenschaftlichen Erkenntnissen allgemein und damit auch zu verbesserter Diagnostik und Behandlung in der Medizin führen.

Die Errichtung von demokratischen Strukturen in den Gesundheitseinrichtungen, in denen Beschäftigte, ExpertInnen, PatientInnen und Bevölkerung zusammen arbeiten, werden ebenfalls weitere Veränderungen und Verbesserungen in der Gesundheitspolitik bringen.

Die größten Veränderungen werden aber, in meinen Augen, geschaffen durch eine neue Sicht auf Gesundheit und Krankheit in einer von Profitgier sowie Ausgrenzung und Unterdrückung befreiten Gesellschaft.

*Angabe der Funktion dient nur zur Kenntlichmachung der Person


Rudolf Virchow (1821-1902)

Der Arzt Rudolf Virchow setzte sich für eine medizinische Grundversorgung der Bevölkerung ein. „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen.“ Auf Virchow geht die Einrichtung erster kommunaler Krankenhäuser in Berlin zurück, wie das in Berlin-Moabit (1875 gegründet, inzwischen geschlossen). Auch Parks und Kinderspielplätze sollten die Lage der städtischen Werktätigen und ihrer Familien verbessern.

Ab 1869 war Rudolf Virchow maßgeblich daran beteiligt, dass Berlin um 1870 eine Kanalisation und eine zentrale Trinkwasserversorgung erhielt.

Virchow beteiligte sich an der Märzrevolution 1848. 1861 war er Gründungsmitglied und Vorsitzender der Deutschen Fortschrittspartei. Sein Ziel war die „Freiheit mit ihren Töchtern Bildung und Wohlstand“. Besonders für den Aufbau einer staatlichen Gesundheitsfürsorge setzte er sich ein. Er forderte eine soziale Medizin, die auf dem Boden naturwissenschaftlicher Aufklärung stehen sollte.