Öffentlicher Dienst: Es wäre mehr drin gewesen

Mit dem Tarifergebnis im Öffentlichen Dienst wird eine Chance vertan, für alle deutliche Verbesserungen zu erzielen


 

In einem Zehn-Punkte-Papier hatten die Arbeitgeber ursprünglich weitere Lohnkürzungen und die flächendeckende Einführung der 40-Stunden-Woche gefordert. Der Schlichterspruch stellte ebenfalls eine Provokation dar. Davon musste die Arbeitgeberseite aber rasch abrücken und sich auf ein Ergebnis einlassen, das sie vor Monaten noch in der Luft zerrissen hätte.

von Angelika Teweleit, Berlin

Zwei Warnstreik-Wellen von insgesamt 400.000 Beteiligten hatten Eindruck hinterlassen. Die Streikbereitschaft war riesig. Die Unterstützung in der Bevölkerung war so groß wie lange nicht. Doch die ver.di-Führung setzte den Kampf aus und ließ sich auf ein Ergebnis ein, bei dem mehr als nur ein paar „Kröten“ geschluckt wurden, wie ver.di-Chef Frank Bsirske es bezeichnete. Es kann auch nicht von einer „massiven Einkommenserhöhung“ die Rede sein, wie auf ver.di-Flugblättern behauptet wird.

Zu wenig Geld

Nach Jahren von Reallohnverlusten war für viele die Forderung nach mindestens 200 Euro beziehungsweise acht Prozent in zwölf Monaten schon der Kompromiss. Einige ver.di-Gliederungen hatten noch höhere Forderungen vorgeschlagen (ver.di Hessen zum Beispiel mindestens 300 Euro, ver.di NRW 9,5 Prozent und mindestens 200 Euro).

Der Sockelbetrag beläuft sich auf 50 Euro. Dazu kommen 3,1 Prozent im Jahr 2008. Die 7,9 Prozent (50 Euro plus 3,1 Prozent ab 1. Januar 2008 (West) und ab 1. April (Ost) plus 2,8 Prozent 2009) beziehen sich auf 24 Monate. Was heißt das? Wenn man von einer Inflationsrate von drei Prozent ausgeht, bleiben 2008 nur 2,1 Prozent und 2009 gibt es nach diesem Abschluss schon wieder Reallohnverluste: minus 0,2 Prozent. Eine Erhöhung der Arbeitszeit um eine halbe Stunde entspricht außerdem einer Kürzung des Stundenlohns um 1,3 Prozent. Das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di hat ausgerechnet, was das Ergebnis für bestimmte Entgeltgruppen und Bereiche bedeutet: www.netzwerk-verdi.de.

Zu viele „Kröten“

Die Arbeitgeber konnten sich mit einer weiteren Arbeitszeitverlängerung in westdeutschen Kommunen durchsetzen. Stellenabbau und verschlechterte Übernahmechancen für Azubis werden die Folge sein. Das hätte konsequent abgewehrt werden müssen. Gegen die Arbeitgeber-Forderung nach Einführung der 40-Stunden-Woche hätte ver.di von Anfang an eine Gegenforderung aufstellen müssen.

In Ostdeutschland gilt jetzt nicht nur weiter die 40 Stunden-Woche, sondern auch bei den Einkommen setzt sich die Schlechterstellung fort. In den Krankenhäusern bekommen die Beschäftigten im Jahr 2008 rund 570 Euro weniger. Mit dieser Einigung kommt es zu einer weiteren Aufsplitterung in verschiedene Berufsgruppen, unterschiedliche Tarife und regionalisierte Ergebnisse. Das wird sich in Zukunft noch bitter rächen.

Mit 24 Monaten Laufzeit haben die ver.di-Verhandlungsführer ein weiteres Zugeständnis gemacht. Damit wurde auch die Möglichkeit genommen, den Druck im Wahljahr 2009 zu erhöhen, um dann noch mehr herauszuholen.

Eigene Stärke nicht ausgespielt

Bsirske sagte auf einer Versammlung in Stuttgart, er hätte „in den letzten 35 Jahren noch nie so viel Wut und Entschlossenheit in den Betrieben gesehen“. Diese Kampfbereitschaft hätte genutzt werden müssen. Die über zwei Millionen Beschäftigten im Nahverkehr, in den Kliniken, bei der Müllabfuhr, in den Kitas, in den Verwaltungen hätten mit einem bundesweiten Vollstreik die Arbeitgeber in die Knie zwingen können. Wenn kein Flugzeug gestartet wäre, wenn die Schleusen bestreikt worden wären, dann hätte massiver ökonomischer Druck ausgeübt werden können. Die Profite der Konzerne wären empfindlich getroffen worden.

Es hatte zwar Warnstreiks bei den Flughäfen gegeben – aber äußerst zahm: Der Interkontinentalverkehr war gar nicht bestreikt worden. Also genau der Bereich, wo der Anteil der Geschäftsreisen besonders hoch ist und ein Ausweichen auf die Bahn unmöglich. Bei der Lufthansa waren zum Beispiel nur 300 der 1.800 Flüge innerhalb Europas am 5. März verhindert worden. Nur zeitweilig hatte man die Flughafenfeuerwehr in den Ausstand einbezogen – sonst wäre der Flugverkehr komplett zum Erliegen gekommen.

Bei einem Vollstreik hätten die KollegInnen mit denen in anderen Bereichen zeitgleich die Arbeit niederlegen und machtvoll demonstrieren können. Durch gemeinsame Gegenwehr mit den Beschäftigten im Einzelhandel, bei der Post, bei der BVG oder im Kfz-Handwerk hätte eine bundesweite branchenübergreifende Streikbewegung geschaffen werden können.

Opposition in ver.di aufbauen

Vor den Folgen hatten nicht nur die Arbeitgeber Angst, sondern auch die ver.di-Führung. Diese fürchtete, dass – wenn die Schleusen für einen Arbeitskampf geöffnet sind – sich die Bewegung nicht mehr halten lassen wird. Ein Streik von Millionen wäre ein Dammbruch gewesen, bei dem sich der Unmut über Sozialkahlschlag, Profitgier und die Politik der Regierung in breiten Widerstand hätte verwandeln können.

Die heutige Gewerkschaftsspitze ist fest in das bürgerliche System integriert. Da sie keine über den Kapitalismus hinaus gehende Perspektive hat, landet sie bei Verzichtspolitik und Absenkungstarifverträgen wie dem TVÖD. Die Einkommen der Bürokraten sind denen der Politiker näher als denen der Basis. Darum schrecken sie auch vor einer Streikbewegung zurück, in der ihre Position hinterfragt und sogar herausgefordert werden könnte. Eine solche Bewegung hätte auch dazu führen können, dass – von den Streiks ermutigt – eine Umkehr der Umverteilungspolitik der letzten Jahre hätte eingefordert werden und die Radikalisierung hätte weitergehen können. Auch das passt Bsirske und Co. nicht.

Das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di fordert KollegInnen dazu auf, bei der Mitgliederbefragung gegen das Tarifergebnis zu stimmen und sich aktiv am Aufbau einer Opposition in ver.di zu beteiligen, die für eine programmatische und personelle Alternative kämpft.

Angelika Teweleit ist Mitglied der SAV-Bundesleitung