Vor 100 Jahren: Internationaler Sozialistenkongress in Stuttgart

Vom 18.-24. August 1907 fand in Stuttgart der 7. Kongress der Sozialistischen Internationale statt. 884 Delegierte, Vertreter von sozialistischen Parteien und Gewerkschaften nahmen an diesem historischen Ereignis teil. Darunter waren die prominentesten Vertreter der Arbeiterbewegung: Bebel, Kautsky, Mehring, Luxemburg, Liebknecht, Zetkin, Lenin, Trotzki, Jaurès, Adler, Vandervelde.


 

Beschlüsse, Verlauf und Stimmung des Kongresses sowie eine Massenkundgebung mit 60.000 Teilnehmern am Nachmittag des Eröffnungstages gehören zu den Glanzzeiten in der Geschichte der sozialistischen Bewegung.

Im Nachhinein betrachtet liefert dieser Sozialistenkongress von 1907 eine Erklärung für den Niedergang der Sozialdemokratie und die Zustimmung zu den Kriegskrediten sieben Jahre später. Hinter den Meinungsverschiedenheiten von 1907 verbarg sich bereits die Kluft zwischen Marxismus und Reformismus.

von Ursel Beck, Stuttgart

[siehe auch: Broschüre zum Sozialistenkongress]

Der Marxismus setzte sich in den Resolutionen von 1907 durch. Der Reformismus siegte in der praktischen Politik. Und im Laufe der Zeit gelang es den reformistischen Kräften sogar, den Marxismus aus den Resolutionen und Grundsatzprogrammen zu verbannen. Zum Verständnis des Sozialistenkongresses von 1907 und der nachfolgenden Entwicklung ist es notwendig, die Geschichte des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts zu betrachten.

Imperialismus

Im späten 19. Jahrhundert hatte der Kapitalismus aufgehört, im nationalstaatlichen Rahmen eine fortschrittliche Rolle zu spielen. Die Produktivkräfte waren bis zum Punkt der Überproduktion entwickelt. Eine sozialistische Gesellschaft wäre bereits ab diesem Zeitpunkt fähig gewesen, die Gesellschaft harmonisch weiterzuentwickeln. Die Arbeiterklasse war jedoch noch nicht in der Lage, eine sozialistische Umgestaltung durchzuführen. Die Bourgeoisie versuchte, mit den Wirtschaftskrisen auf ihre Art fertig zu werden. Sie zog von ihren nationalstaatlichen Stützpunkten hinaus in die ganze Welt. Überschüssige Waren und Kapital wurden exportiert. Der Weltmarkt wurde geschaffen. Um die Jahrhundertwende war die Welt unter den kapitalistischen Großmächten aufgeteilt. Jede Neuaufteilung musste zu Kriegen führen, denn Krieg ist die Fortsetzung des internationalen Konkurrenzkampfes mit anderen Mitteln.

Massenparteien

Die imperialistische Entwicklung des Kapitalismus bedeutete für die Arbeiterklasse in Europa eine neue Stufe ihrer Entwicklung. Wie Marx vorausgesehen hatte, entstanden auf der Grundlage einer wachsenden Arbeiterschaft Massenorganisationen des Proletariats. Dies bereitete den Aufbau einer neuen Internationale auf höherer Ebene vor. Die Zweite Internationale wurde auf dem theoretischen Fundament des Marxismus aufgebaut und konnte – im Gegensatz zur Ersten Internationale – einen Massencharakter annehmen.

Am 100. Jahrestag des Sturms auf die Bastille wurde am 14.7.1889 in Paris die Zweite Internationale gegründet. Der 1. Mai als internationaler Kampftag geht auf einen Beschluss dieses Gründungskongresses zurück.

Reformismus

Wegen des anhaltenden Aufschwungs gerieten die Führungskreise der internationalen Sozialdemokratie zunehmend unter den Druck und den Einfluss ihrer kapitalistischen Umwelt. Kompromisse und Verhandlungen über Kleinigkeiten mit den Vertretern der herrschenden Klasse wurden ihnen zur Gewohnheit. Während das Elend in den Kolonien wegen der unbeschränkten imperialistischen Ausplünderung absolut zunahm, erhielten die Arbeiter in Europa aufgrund des Drucks ihrer Massenorganisationen höhere Löhne und bessere Lebensbedingungen. Vor allem aber verbesserten sich die Lebensbedingungen der parlamentarischen Vertreter und Funktionäre der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften.

Schließlich hatte sich der Charakter der Führung der proletarischen Massenorganisationen vollständig verändert. Noch immer unterstützten diese Leute in Worten die Ziele des Sozialismus, noch immer verkündeten sie in wohlklingenden Worten den Internationalismus, aber in der Praxis hatten sie sich auf den Standpunkt der Verteidigung des kapitalistischen Systems und ihrer jeweiligen Nationalstaaten gestellt. Dieser sich allmählich vollziehende, politische Verfall von Teilen der internationalen Sozialdemokratie wurde erst beim Ausbruch des 1. Weltkrieges offenkundig.

SPD

Die deutsche Sozialdemokratie war für diese Entwicklung das beste Beispiel. Aufgebaut auf dem Erbe von Marx und Engels, angewachsen zu einer echten Massenpartei der Arbeiterklasse war sie die führende Partei, der ganze Stolz der Sozialistischen Internationale. Jahrzehntelang hatten die SPD-Führer die historische Aufgabe der Sammlung der proletarischen Massen erfüllt.

Als sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Weltlage und die Klassengegensätze in Deutschland verschärften, waren sie nicht mehr imstande, die neuen Aufgaben einer neuen Periode zu erfassen und entsprechende Kampfmethoden anzuwenden. Der rechte, offen reformistische Parteiflügel um Bernstein gewann immer mehr Einfluss. Der SPD war das revolutionäre Rückgrat gebrochen. Diese Wendung innerhalb der SPD konnte auf die II. Internationale nicht ohne Auswirkung bleiben, wie sich 1907 in Stuttgart zeigte.

Zwischen dem Amsterdamer und Stuttgarter Kongress lag das größte historische Ereignis der Arbeiterbewegung seit der Pariser Kommune: die russische Revolution von 1905. Aber die Führer der II. Internationale hielten es nicht für nötig, die Bedeutung dieser Revolution deutlich zu machen und aus ihrer Niederlage die Lehren zu ziehen. Auf der Tagesordnung des Kongresses standen folgende Punkte:

1.Die Kolonialfrage

2.Frauenstimmrecht

3.Die Beziehungen zwischen den politischen Parteien und Gewerkschaften

4.Die Ein- und Auswanderung der Arbeiter

5.Der Militarismus und die internationalen Konflikte

Kolonialpolitik

Die früheren Kongresse hatten die Kolonialpolitik prinzipiell abgelehnt. Diese Position wurde in der Antragskommission nur noch von einer kleinen Minderheit verteidigt. Für die Reformisten war die Unterstützung ihrer Kolonialpolitik ein Kernpunkt ihrer Politik. Mit der Begründung, dass kein direkter Übergang von der Barbarei zum Sozialismus möglich sei, wurde die gewaltsame Einbeziehung der unterentwickelten Länder in das kapitalistische Weltsystem gerechtfertigt. Außerdem wurde erklärt, dass Europa die Kolonien brauche wegen der unentbehrlichen Rohstoffe, als Auswanderungsgebiet für die Überbevölkerung und schließlich als Absatzgebiet für die Überproduktion der europäischen Industrie.

Im Resolutionsentwurf stand der Satz: Der Kongress „verwirft nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik, die unter sozialistischem Regime zivilisatorisch wird wirken könne". Der Kongress folgte nicht der reformistischen Mehrheit der Antragskommission, sondern dem Änderungsantrag der Minderheit. Danach wurde mit einer Mehrheit von 127 zu 108 Stimmen der Satz über die „sozialistische Kolonialpolitik" gestrichen und durch die bis dahin schärfste Verurteilung der Kolonialpolitik durch einen Sozialistenkongress ersetzt. Allerdings entwickelte die Linke auch keine Perspektiven darüber, wie die sozialistische Revolution der entwickelten und unterentwickelten Länder miteinander verknüpft sein könnte. Sie hatte keine Vorstellung, welche Haltung ein sozialistisches Regime eines Industriestaates gegenüber den unterentwickelten Ländern einnehmen müsste.

Gewerkschaften

In der Frage des Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaften versuchte vor allem die Mehrheit der deutschen Delegation die Neutralität der Gewerkschaften durchzusetzen. Die Hälfte der deutschen Delegation waren Gewerkschaftsführer. Sie bildeten einen Teil des rechten Flügels auf dem Kongress. Mit der Neutralität der Gewerkschaften versuchten sie, sich der Verpflichtung zur Umsetzung der radikalen Kongressbeschlüsse zu entledigen. Dieser Versuch scheiterte jedoch auf dem Kongress.

Ausländerfrage

In der Diskussion über die Ein- und Auswanderung der Arbeiterklasse setzte sich die Kluft zwischen Marxisten und Reformisten fort. Die Reformisten brachten die Beschränkung der „ Übersiedlungsfreiheit" für rückständige Arbeiter aus unterentwickelten Ländern in die Diskussion. Der Kongress lehnte das ab und forderte stattdessen die „Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen oder sie ihnen erschweren…

Frauenwahlrecht

Gleichzeitig mit dem Sozialistenkongress fand in Stuttgart 1907 zum ersten Mal eine Internationale Sozialistische Frauenkonferenz und der Gründungskongress der Sozialistischen Jugendinternationale statt. In der Diskussion über das Frauenstimmrecht begrüßte der Kongress ausdrücklich die Abhaltung der Frauenkonferenz und verpflichtete in einer einstimmig angenommenen Resolution alle nationalen Parteien zum Kampf für das allgemeine Frauenwahlrecht.

Militarismus

Das bedeutendste Ergebnis des Stuttgarter Kongresses war die Resolution zum Tagesordnungspunkt: Der Militarismus und die internationalen Konflikte. Grundlage der Diskussion war ein Resolutionsentwurf von August Bebel. Bebel hielt eine Rede, in der ein Abschwenken von der revolutionären Vergangenheit offensichtlich wurde. Die Rede wurde von allen Seiten heftig kritisiert. Die tiefen Gegensätze unter den Delegierten waren kaum zu überbrücken. Erst ein radikaler Zusatz zur Resolution Bebel, von Rosa Luxemburg und den russischen Delegierten Lenin und Martow eingebracht, ermöglichte einen Kompromiss und die einstimmige Annahme der Resolution. Luxemburg, Lenin und Martow gelang es mit ihrem Zusatzantrag, dem revolutionären Marxismus zum Sieg zu verhelfen. Die Sozialisten wurden verpflichtet, nicht nur gegen den Ausbruch von Kriegen bzw. für deren rasche Beendigung zu kämpfen, sondern auch „die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen".

Der Kongress endete mit folgenden Worten des Kongress-Vorsitzenden und Reichstagsabgeordneten Paul Singer „Jeder gehe mit dem Bewusstsein in sein Land zurück, weiter zu arbeiten, weiter zu wirken, die Arbeiterklasse der Welt zu organisieren, ihre Herzen und Köpfe zu revolutionieren, um sie reif zu machen für den einstigen großen Entscheidungskampf (das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle: ‚stürmischer, lang anhaltender Beifall"). Kameraden! Mit dem Wunsch auf Wiedersehen in Kopenhagen schließe ich den Kongress mit unserem alten Kampfruf: Hoch die internationale, revolutionäre Sozialdemokratie und das Proletariat aller Länder!"

1912 fand vor dem Hintergrund der unmittelbaren Gefahr des Weltkriegs der letzte Kongress der II. Internationale statt. In dem vom Kongress einstimmig angenommenen „Manifest der Internationale" wurden die entscheidenden Absätze der Stuttgarter Resolution gegen den Krieg zitiert. Mit allen Mitteln (einschließlich Generalstreik und Bürgerkrieg) sollte ein sinnloses Gemetzel zwischen den Völkern verhindert werden. Das war das letzte Wort der II. Internationale vor dem Krieg.

Erster Weltkrieg

Zwei Jahre später stimmten die Parlamentsfraktionen der großen Parteien der Internationale in Deutschland wie in Frankreich für die Kriegskredite. Fast alle Führungen der Parteien der II. Internationale gingen mit Kriegsausbruch in das Lager ihrer jeweiligen nationalen Bourgeoisie über, die sie vorher für die Kriegstreiberei verantwortlich gemacht hatten. Sie stellten sich „mit dem Willen zum Siege" und zum „Durchhalten" auf Seite der noch unlängst als Verbrecher gebrandmarkten herrschenden Klassen und ihrer Regierungen, schlossen mit ihnen Burgfrieden und machten sich mitverantwortlich, dass sich die Arbeiter aller Länder gegenseitig auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkrieges ermordeten.

Dieses Vergehen am Sozialismus kam so unerwartet, dass selbst Lenin die Ausgabe des „Vorwärts", die sich für die Zustimmung zu den Kriegskrediten aussprach, für eine Fälschung des deutschen Generalstabs hielt. Die in jahrzehntelanger Arbeit mit großen Opfern aufgebaute Internationale brach damit bei ihrer ersten ernsthaften Bewährungsprobe innerhalb weniger Tage zusammen.

[ Broschüre zum Sozialistenkongress]