Der Staat ist nicht neutral

Friedrich Engels hat den Staat einmal als eine Formation bezeichnet, die in letzter Instanz aus bewaffneten Menschen besteht – bewaffnet, um die Interessen der jeweils ökonomisch herrschenden Klasse zu verteidigen. Diese marxistische Charakterisierung des Staates widerspricht vollkommen der bürgerlichen Darstellung, alle Macht ginge vom Volk aus.


 

von Anja Balssat, Aachen

Wenn der Staat eine neutrale Institution wäre, dann könnten die Mitglieder der deutschen Industriellen-Familie Quandt im Staat nicht mehr und nicht weniger Einfluss geltend machen, wie ihre Angestellten. Für die Quandts, die mehrheitlich den BMW-Konzern kontrollieren, ist der Staat ein Instrument zur Niederhaltung der unterdrückten Klasse. So lange die Arbeiterklasse im Kapitalismus gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und sich ausbeuten zu lassen, so lange weiß die besitzende Klasse – die über die Banken, Konzerne und Versicherungen verfügt – alle staatlichen Einrichtungen für ihre Klassenherrschaft zu nutzen.

Konkret: Wenn streikende Arbeiter die Werkstore bei BMW blockieren würden, um den Einsatz von Streikbrechern zu verhindern, dann wird die Polizei den Quandts gegen die Streikenden helfen und nicht umgekehrt. Jedenfalls gibt es viele Fälle, in denen Polizei und Justiz Streikbrechern Zugang zu bestreikten Betrieben verschafft haben, aber es gibt keinen Fall, in dem die Polizei sich auf die Seite der Streikenden gestellt und Streikbrecher verjagt hätte.

Nicht unser Staat

Wie aktuell Friedrich Engels Worte sind, konnten wir jüngst beim G8-Gipfel beobachten. Ein Großaufgebot der „besonderen Formation bewaffneter Menschen“ wurde eingesetzt. Aber nicht, um das Demonstrationsrecht zu garantieren, sondern um die Einschränkung und mehr als einmal sogar das Verbot von Demonstrationen durchzusetzen.

Natürlich gibt es in Deutschland demokratische Rechte. Diese Rechte mussten jedoch erkämpft werden. Das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren, Demonstrationen und Versammlungen durchzuführen, das Wahlrecht, alles musste gegen den erbitterten Widerstand der Herrschenden durchgesetzt werden.

Und weil wir immer noch in einer Klassengesellschaft leben, und weil die Klassengegensätze zunehmen, sind alle demokratischen Rechte und Freiheiten bedroht. Die Einschränkung des Versammlungsrechts in Heiligendamm, aber auch bei Antifa-Demos, sind nur die jüngsten Beispiele. Eben in dem Maße, wie Klassengegensätze offensichtlicher werden, ArbeiterInnen und Jugendliche immer mehr beginnen, sich zur Wehr zu setzen, in dem Maße versuchen die Herrschenden, erkämpfte Rechte wieder einzuschränken.

Die staatliche Gewalt, die sich heute gegen Globalisierungskritiker richtet, wird sich zukünftig gegen den Vormarsch der Arbeiterklasse richten. Streikende KollegInnen, die zunehmend die Eigentumsfrage aufwerfen, stellen eine Gefahr für die besitzende Klasse dar. Um ihre Macht zu verteidigen, werden die Besitzenden immer mehr bereit sein, staatliche Gewalt einzusetzen, je stärker sie ihre Stellung bedroht sehen.

Utopie Klassenharmonie

Heute herrscht eine Minderheit über die Mehrheit. Nämlich die Minderheit der Kapitalbesitzer über die Mehrheit der arbeitenden beziehungsweise arbeitslosen Bevölkerung. Was ist das anderes als die Diktatur des Kapitals, wenn die Eigentümer eines Konzerns, oder Manager im Auftrag der Eigentümer, über die Schließung einer Fabrik entscheiden können? Wenn also eine Handvoll Menschen, die von niemandem gewählt wurde, Zehntausende mit einem Federstrich zu Arbeitslosigkeit und Armut verdammen kann. Um diese Diktatur des Kapitals aufrecht zu erhalten, braucht man eben einen riesigen Staatsapparat mit Polizei, Geheimdiensten und Justiz.

Übergangsgesellschaft

Das Ziel von MarxistInnen ist eine klassenlose Gesellschaft und damit das Ende der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Eine Staatsmaschinerie zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere gäbe es dann logischer-weise nicht mehr.

Eine sozialistische Umwälzung würde bedeuten, dass die Großbetriebe in Gemeineigentum überführt und die Wirtschaft demokratisch geplant würde. Die Bedürfnisse von Mensch und Umwelt würden zählen. Der gesellschaftliche Reichtum könnte allen zu Gute kommen. Die Arbeit ließe sich auf alle aufteilen und deutlich verkürzen. Moderne Produktionstechnologien könnten die Menschen von stupider Arbeit befreien.

Wenn die Mehrheit durch eine sozialistische Revolution die ökonomische Macht erlangt hat, wären wir dort angelangt, was Karl Marx und Friedrich Engels „Diktatur des Proletariats” nannten. Damit meinten sie aber nicht eine totalitäre Herrschaft einer Minderheit, sondern die demokratische Herrschaft der Mehrheit (ArbeiterInnen) über die Minderheit (Kapitalisten). Aber die Arbeiterklasse an der Macht könnte nicht von einem Tag auf den anderen auf jede Form von Staatsmacht verzichten. Denn die ehemals herrschende Klasse würde auf die eine oder andere Art weiter existieren. Erstens, weil die Besitzer der Banken und Konzerne sich nicht in Luft auflösen würden, sondern alles versuchen würden, um ihre Macht und ihren Besitz zurück zu erobern. Und zweitens, weil die sozialistische Revolution ja nicht an einem einzigen Tag in allen Ländern der Welt gleichzeitig stattfinden wird. Das bedeutet aber, dass die Kapitalisten immer noch in vielen Ländern die Macht in ihren Händen halten und versuchen werden, das erste revolutionäre Land für den Kapitalismus zurück zu erobern. Mit dieser Situation sah sich die junge Sowjetunion konfrontiert. Die durch die Revolution gestürzten Unternehmer und Großgrundbesitzer wurden aus dem Ausland mit Geld, Waffen und mit Interventionsarmeen in ihrem Feldzug gegen die revolutionäre Sowjetunion unterstützt.

Arbeiterstaat

Für MarxistInnen stellt sich die Situation in dieser Übergangsgesellschaft etwa folgendermaßen dar: Um die Eroberung der ökonomischen Macht abzusichern, ist nun die Arbeiterklasse in die Rolle versetzt, die neuen politischen und ökonomischen Verhältnisse zu verteidigen. Der bürgerliche Staat ist ein Instrument in den Händen einer Minderheit zur Unterdrückung der Mehrheit. Auch der Arbeiterstaat ist ein Instrument zum Machterhalt, doch mit neuer Qualität. Denn jetzt herrscht umgekehrt die Mehrheit über eine Minderheit.

Doch der Arbeiterstaat ist nicht etwa der alte Staatsapparat unter neuem Kommando. Er ist etwas völlig neues, personell und nach seinen Methoden. Alle Menschen in Leitungsfunktionen werden gewählt, sind jederzeit abwählbar und bekommen keinerlei Privilegien, sondern ein Gehalt, das nicht über einem Durchschnittslohn liegt. Das gilt für alle Bereiche: also demokratische Wahl der Leitung in Polizei und Armee auf allen Ebenen und auch Wähl- und Abwählbarkeit von Richtern, Schulleitungen, Fabrikleitungen. Statt einer von der Bevölkerung isolierten Berufsarmee sollten die Beschäftigten demokratisch kontrollierte bewaffnete Einheiten bilden.

In dem Maße, wie sich die praktische Überlegenheit der neuen sozialistischen Gesellschaft zeigt und die sozialistische Revolution sich international ausbreitet, in dem Maße schwindet die Gefahr, dass die ehemals herrschende Klasse irgendeine Aussicht auf Wiederherstellung der alten kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse hat. In dem Maße, wie sich die Gesellschaft zu einer klassenlosen Gesellschaft entwickelt, verschwindet die Notwendigkeit der Staatsgewalt zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft. Der Arbeiterstaat stirbt deshalb ab. Jede Form staatlicher Macht gehört dann „ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt“ (Friedrich Engels).

Stalins monströser Staat

Dass in der Sowjetunion unter Stalin und seinen Nachfolgern der Staat nicht mehr und mehr abstarb, sondern, im Gegenteil, immer monströser wurde, war der untrügliche Beweis, dass sich hier erneut eine Minderheit zum Herrscher über die Mehrheit aufgeschwungen hatte. Diesmal eine privilegierte Kaste von Bürokraten über die Arbeiterklasse. Die besonderen Gründe dafür haben wir in der Juni-Ausgabe der Solidarität ausgeführt.

Räte

Wie eine Gesellschaft organisiert sein könnte, in der es keine Unterdrückung mehr gibt, kann man ansatzweise in früheren Revolutionen sehen. Den Anfang machte die Pariser Kommune 1871, die sofort das Prinzip der Wähl- und jederzeitigen Abwählbarkeit aller öffentlichen Leitungsfunktionen einführte, und die Bezahlung auf einen durchschnittlichen Arbeiterlohn beschränkte. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, und deshalb auch selber für die Umsetzung ihrer Beschlüsse sorgen.

In der Russischen Revolution 1905 entstanden spontan die Arbeiterräte. Das wiederholte sich in der Revolution 1917 und 1918 in Deutschland. Man darf davon ausgehen, dass eine sozialistische Gesellschaft nach dem Prinzip der Räte funktionieren wird.

In einer sozialistischen Gesellschaft wird es natürlich immer noch Verwaltungsaufgaben geben. Der Produktionsprozess in der Wirtschaft und das Zusammenleben der Menschen müssen irgendwie geregelt werden. Dazu bedarf es aber keines besonderen Apparates. Um das Entstehen einer neuen Bürokratie zu verhindern, schlug Lenin neben den bereits genannten Mitteln noch vor: „Sofortiger Übergang dazu, dass alle die Funktionen der Kontrolle und der Aufsicht verrichten, dass alle eine zeitlang zu ‘Bürokraten’ werden, so dass daher niemand zum Bürokraten werden kann“ (Lenin, „Staat und Revolution“).

Wer also möchte, dass irgendwann Bilder prügelnder Polizisten nur noch im Museum zu sehen sein werden und der ganze Staatsapparat auf dem Müllhaufen der Geschichte landet, der sollte sich dem Kampf für eine klassenlose Gesellschaft anschließen.