Stalinismus: Ein Irrweg der Geschichte

Wie es nach der Russischen Revolution von 1917 zur Herrschaft einer Bürokratie kam
Sozialismus sei zwar eine schöne Idee – aber leider nicht machbar. So oder ähnlich denken viele. Schließlich ist der historisch erste Versuch, den Kapitalismus durch ein alternatives System zu ersetzen, nachweislich gescheitert. Aber war die Entwicklung zum Stalinismus wirklich unvermeidlich?


 

Erwuchs das totalitäre System der Sowjetunion sogar zwangsläufig aus den Ideen Lenins und der Politik der revolutionären Partei, den Bolschewiki, wie viele Kritiker behaupten?

von Antje Zander, Berlin

Das undemokratische und bürokratische System des Stalinismus hat es nicht von Anfang an gegeben. Als 1917 in Russland der Kapitalismus durch die Oktoberrevolution abgeschafft worden ist, entstand für eine kurze Zeit der demokratischste Staat, der bis heute jemals existiert hat. Das Land der Großgrundbesitzer wurde unter den Bauern aufgeteilt. Fabriken, Banken, Bergwerke, Bodenschätze wurden aus Privatbesitz zu Eigentum der Gesellschaft. Die zaristische Polizei, Geheimdienst, Justiz löste man auf. Stattdessen übernahmen Räte (russisch „Sowjets“), die Macht. Diese Räte waren von den ArbeiterInnen, Bauern und Soldaten spontan aus ihren eigenen Reihen gebildet worden. Die Mitglieder dieser Räte waren frei und direkt gewählt und jederzeit abwählbar. Sie verfügten über keinerlei Privilegien, denn keiner sollte mehr verdienen als diejenigen, die er vertrat.

Als erste Maßnahme der Räte-Regierung wurde sofort ein Waffenstillstand mit Deutschland verfügt, um endlich den Krieg zu beenden. Die Leitung der Betriebe ging nach und nach in die Hände von Arbeiterräten über. In den Räten und innerhalb der Partei der Bolschewiki wurde offen diskutiert und frei kritisiert.

Die Revolution blieb isoliert

Die Bolschewiki wussten damals allerdings auch, dass der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft neben der demokratischen Kontrolle und Verwaltung durch die ArbeiterInnen auf einer raschen wirtschaftlichen Entwicklung basiert. Eine freie Gesellschaft muss zuallererst frei von Armut und Mangel sein. Doch Russland war damals ein rückständiges, bäuerlich geprägtes Land. 70 Prozent der Bevölkerung konnten weder lesen noch schreiben. Deshalb sahen die Bolschewiki die Russische Revolution als Beginn einer internationalen Revolution. Sie nahmen an, dass der Kapitalismus auch in den wichtigen imperialistischen Kernländern gestürzt werden würde – als eine Voraussetzung für einen erfolgreichen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft weltweit.

Wie erwartet hatte die russische Revolution eine enorme Ausstrahlungskraft auf die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern. Europa wurde nach dem Ende des I. Weltkrieges von einer revolutionären Welle erfasst. In Deutschland übernahmen im November 1918 Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. Doch anders als in Russland versagte in Deutschland und auch in anderen Ländern die Führung der Arbeiterbewegung. Die revolutionären Kräfte waren schlecht organisiert. Die Spitze der Sozialdemokratie beging offenen Verrat und beteiligte sich an der gewaltsamen Niederschlagung des Arbeiteraufstandes. Die Revolutionen endeten in blutigen Niederlagen. Die Russische Revolution blieb isoliert.

Bürgerkrieg

Gleichzeitig begannen die Kapitalisten im Frühjahr 1918 einen brutalen Bürgerkrieg gegen den revolutionären Arbeiterstaat. Unternehmer und Großgrundbesitzer wollten mit Waffengewalt wieder an die Macht zurückkehren. Im Bürgerkrieg wurden sie mit Truppen, Waffen und Geld von allen großen ausländischen Mächten unterstützt. Im Juli 1918 sahen sich die Bolschewiki gezwungen, Parteien, die mit den konterrevolutionären Armeen kollaborierten, zu verbieten. Wladimir Lenin, der damalige Führer der Bolschewiki, hatte dieses Parteiverbot immer als eine vorübergehende Notmaßnahme gesehen.

Durch den bis 1921 andauernden Bürgerkrieg wurde das Land nahezu zerstört, mehr als acht Millionen Menschen verloren ihr Leben. Die Industrie, die durch den Weltkrieg bereits stark geschwächt war, brach zusammen. Mit den Fabriken hörten auch die Arbeiterräte auf zu funktionieren. Die Erträge in der Landwirtschaft reichten nicht mehr aus, um die Bevölkerung zu ernähren. Hunger machte sich breit.

Im Interesse einer effektiven Kriegsführung waren die Bolschewiki auch gezwungen, die lokalen Sowjets mehr und mehr durch eine zentralistische militärische Organisation zu ersetzen. Außerdem waren viele der politisch bewusstesten Arbeiter im Bürgerkrieg gefallen.

Das alles führte dazu, dass am Ende des Bürgerkrieges die Räte, die eigentlich die Geschicke von Wirtschaft und Gesellschaft demokratisch leiten sollten, am Boden lagen.

Entwicklung einer Bürokratie

Unter diesen Umständen – das Land verwüstet, die Revolutionen in den anderen Ländern gescheitert, das Rätesystem ausgeblutet – kam es zu einer Rückentwicklung der 1917 erkämpften Errungenschaften. Der Mangel an allem Lebensnotwendigen war damals das Beherrschende. Der Staat konnte nur diesen Mangel verwalten. Das begünstigte die Entwicklung von bürokratischen Tendenzen unter den Staatsbediensteten. Denn unter ihnen war die Versuchung groß, die eigene Position bei der Verteilung der knappen Waren für sich selber auszunutzen. Viele von ihnen waren auch aufgrund des Fehlens von qualifizierten Kräften in den Reihen der Arbeiterklasse aus dem alten Staatsapparat übernommen worden. Um sie bei der Stange zu halten, wurden ihnen bestimmte Privilegien zugestanden. Doch diese Privilegien für eine Minderheit lassen sich mit einer Arbeiterdemokratie nicht vereinbaren.

Auch vor der bolschewistischen Partei machte die Entwicklung von bürokratischen Tendenzen nicht halt. So kam es dazu, dass sich in den zwanziger Jahren eine abgehobene Elite aus dem Verwaltungsapparat und der Partei entwickelte, deren Repräsentant Stalin wurde.

Lenin und auch Leo Trotzki, die beide eine entscheidende Rolle in der Revolution und im Bürgerkrieg gespielt hatten, sahen die Gefahren der bürokratischen Entwicklung und begannen den Kampf dagegen. Lenin, der 1924 starb, warnte in seinem Testament vor einer Konzentration der Macht in den Händen Stalins.

Abertausende aufrechter Revolutionäre widersetzten sich der Bürokratisierung. Der Widerstand war so groß, dass Stalin seine Macht erst für gesichert hielt, nachdem er massenhaft Mitglieder der Bolschewiki aus der Zeit der Oktoberrevolution hatte ermorden lassen, darunter auch den führenden Vertreter der Opposition gegen Stalin: Trotzki.

Das System Stalinismus

In der Sowjetunion herrschte eine privilegierte Bürokratie mit Stalin an der Spitze. Dieser Machtapparat und seine undemokratischen Methoden existierten natürlich auch nach Stalins Tod 1953 weiter – nicht nur in Russland, sondern auch in China und in Osteuropa, wo nach dem II. Weltkrieg Regime nach dem Vorbild der Sowjetunion entstanden. Die jeweilige Ausprägung der Herrschaft dieser Kaste an der Spitze des Staates veränderte sich mit der Zeit und variierte von Land zu Land. Aber allen stalinistischen Ländern – egal ob Sowjetunion, China oder DDR – blieb gemeinsam: Privilegien für die Funktionäre, Unterdrückung von Kritik und Kritikern, Herrschaft von oben nach unten statt freier und gleichberechtigter Diskussionen auf allen Ebenen.

Lehren

Diese Entwicklung war nicht vorgezeichnet. Angenommen, in Deutschland hätte die Revolution 1918 gesiegt, der Kapitalismus wäre auch in Deutschland abgeschafft worden. Dann wäre keine deutsche Militärhilfe gegen die junge Sowjetunion eingesetzt worden. Ein revolutionäres Deutschland hätte sofort mit Aufbauhilfe für die revolutionäre Sowjetunion begonnen. Es hätte Wissenschaftler geschickt, beim Aufbau von Universitäten geholfen, die neuesten Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung kostenlos zur Verfügung gestellt.

Die Front der imperialistischen Länder gegen die Sowjetunion wäre auseinander gebrochen. Statt in einem vom Ausland unterstützten Bürgerkrieg auszubluten, hätte die Sowjetunion mit dem Ausbau von Industrie und Landwirtschaft beginnen können. Die vielen begeisterten RevolutionärInnen, die an der Spitze der Oktoberrevolution standen, hätten sich in den Sowjets an demokratisch geführten Diskussionen über die Zukunft des Landes beteiligt, statt auf den Schlachtfeldern zu sterben. Vor dem Hintergrund einer aufblühenden Wirtschaft mit funktionierenden Fabriken und lebendigen Arbeiterräten hätte sich die antidemokratische, totalitäre Richtung des Stalinismus nicht durchsetzen können.

In letzter Instanz war also die Niederlage der revolutionären Bewegungen im Westen entscheidend für die stalinistische Entartung der Revolution in Russland. Diese Niederlage war aber nicht unvermeidlich. Der Wille, den Kapitalismus abzuschaffen, war nach dem I. Weltkrieg insbesondere in Deutschland massenhaft in der Arbeiterklasse vorhanden. Es fehlte eine starke, erfahrene revolutionäre Partei. So aber konnten die Führer der Sozialdemokratie, im Bündnis mit der Reaktion, die Revolution in Deutschland zu Fall bringen.

Der Stalinismus hat nicht die Unmöglichkeit des Sozialismus bewiesen. Er hat nur bestätigt, was MarxistInnen immer gesagt haben: Sozialismus ist international und demokratisch oder gar nicht.

Die Lehre aus den Erfahrungen mit Kapitalismus und Stalinismus besteht im Aufbau einer starken, marxistischen Internationale, als dem Mittel, mit dem eine sozialistische Demokratie weltweit erkämpft werden kann.

Antje Zander ist SAV-Mitglied und BASG-Bezirksverordnete in Berlin-Pankow