Berlinale: Im Jahr des Bären

Auf den 57. Berliner Filmfestspielen ragten Beiträge aus China heraus
Mit dem Goldenen Bären wurde das Werk „Tuyas Ehe“ von Wang Quan"an geehrt. Die Geschichte, angesiedelt in der Inneren Mongolei, einer verheirateten Frau, die sich aufgrund von Versorgungsengpässen der Familie gezwungen sieht, erneut auf Bräutigamschau zu gehen.
 

Die Preisverleihung fiel ausgerechnet mit dem chinesischen Neujahrsfest zusammen, welches das „Jahr des Schweins“ begrüßte. Für Wang Quan"an und Yu Nan in der Titelrolle ist 2007 nunmehr das Jahr des Bären. Bedeutend und bewegend waren auf der diesjährigen Berlinale zwei weitere Filme aus China: „Ping Guo“ von Li Yu und „Mona Lisa“ von Li Ying.

von Aron Amm

Höhepunkte des Internationalen Filmfestivals – mit 430.000 BesucherInnen vom 8. bis zum 18. Februar 2007 – waren die Wiederaufführungen alter Meisterwerke, mehrere davon in restaurierter Fassung. Spektakulär unbestritten Fassbinders Döblin-Verfilmung „Berlin Alexanderplatz“. Erfrischend die Hommage an den Fimemacher Arthur Penn. Dazu die Stummfilm-Retrospektive City Girls, in der Erich von Strohheims „Blind Husbands“ und Asta Nielsens „Hamlet“-Verkörperung in restaurierten Versionen präsentiert wurden.

So begeisternd diese Festival-Veranstaltungen waren, so alarmierend sind sie gleichzeitig. Schließlich lassen diese einsam strahlenden Klassiker noch deutlicher erkennen, wie dunkel es – abgesehen von wenigen Lichtblicken – nach wie vor am kinematografischen Firmament bleibt. Ideenarm und politisch harmlos waren die meisten auf der Berlinale als ambitioniert gehandelten Streifen. Ärgerlich ein Film wie „Irina Palm“ auf ZDF-Vorabend-Niveau, leider einschließlich der Leistung von Marianne Faithfull. Noch beschönigend, „The Good German“ als Film-Noir-Eklektizismus durchgehen zu lassen. Steven Soderbergh bedient sich hier gänzlich uninspiriert bei „Foreign Affairs“, „Der dritte Mann“, „Casablanca“ und „Die Mörder sind unter uns“. Hat sich der Schleier der filmischen Erinnerungen erst einmal gelegt, bleibt von diesem Streifen mit Cate Blanchett, George Clooney und Tobey Maguire nicht viel übrig.

„Das Haus der Lerchen“

Tiefpunkt dieser Filmfestspiele war eindeutig „Das Haus der Lerchen“. Vom SPIEGEL 7/2007 absurderweise als „der wichtigste, aufwühlendste Beitrag“ angekündigt, wurden die Taviani-Brüder dem Thema in keiner Weise gerecht. Nach Atom Egoyans Bilderpuzzle „Ararat“ (vor fünf Jahren auf der Berlinale gezeigt) ist es erst das zweite Mal, dass der während des I. Weltkriegs in der Türkei an den ArmenierInnen verübte Genozid auf die Leinwand gebracht wurde. Franz Werfels Buch „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ruht seit siebzig Jahren in den Schreibtisch-Schubladen des Metro-Goldwyn-Meyer-Studios, ohne dass sich Hollywood an die Umsetzung heran traut. Die EU schreckt vor dem Begriff „Völkermord“ zurück, um die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht zu „belasten“. Wenige Monate ist es her, dass der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink ermordet wurde. Der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk musste jüngst ins Ausland flüchten.

So dringend es ist, sich mit den Ereignissen von 1915 auseinander zu setzen, so verheerend ist die Arbeit der italienischen Regisseure Paolo und Vittorio Taviani. Näherten sich die Tavianis mit „Die Nacht von San Lorenzo“ aus dem Jahr 1977 dem Widerstandskampf der Resistenza gegen faschistische Milizen im II. Weltkrieg noch mit gebotener Klarheit und Schlichtheit, so lassen sie die Geschehnisse vor 90 Jahren in einem Popcorn-Kino-Erzählstil weich spülen. „Während sich die Opfer auf der Leinwand krümmen“, schreibt Andreas Kilb in der FAZ, „krümmt sich der Film nicht, er plappert weiter in edelster Fernseh-Prosa, unbedingt hauptsendezeittauglich und in seinem Gegenstand zugleich auf stupende Weise unangemessen“ (14. Februar). Schlimmer noch, gerade das Sterben von Armenierinnen wird lang und breit in nahezu pornografischen Bildern zur Schau gestellt.

„Das Lerchenhaus“ beginnt damit, eine reiche armenische Familie mit besten Beziehungen zu den örtlichen türkischen Autoritäten in einem Provinznest im Osten des Osmanischen Reichs zu zeigen. Die Tochter will sich mit einem türkischen Offizier vermählen, ihr Vater bewirtet den Militärgouverneur. Dann bricht abrupt das Gemetzel, das in den ersten 30 Filmminuten wie eine Gewitterwolke in der Luft hängt, über dieses armenische Bürgerhaus herein. Die Tavianis interessieren sich in dem Film nur für die wohlhabenden ArmenierInnen. Zudem werden die historischen Hintergründe völlig ausgeblendet, die Ursachen für den Genozid nicht hinterfragt.

Filmkunst – gestern und heute

Vor Beginn der diesjährigen Berlinale führte Verena Lueken für die FAZ ein Interview mit dem Nonkonformisten Arthur Penn durch. Der Regisseur von „Bonnie und Clyde“, „Little Big Man“ und „Night Moves“ erklärte darin: „Kunst, also auch Filmkunst, ist Widerstand gegen Sinnentstellungen und Verzerrungen im öffentlichen Bewusstsein. Ich sehe das im heutigen Kino nicht. Die Filme heute sind sehr gut gemacht, und diejenigen die gut sind, sind ziemlich gut. Aber ich bin schon lange nicht mehr aus einem Kino gekommen und habe gesagt: „Du meine Güte, das war wirklich außergewöhnlich, vielleicht wird sich mein Leben verändern.“ Das allerdings ist in den sechziger Jahren sehr oft passiert. […] Was ich vermisse, ist das Feuer, die Leidenschaft, etwas Dringendes, das ich auf der Leinwand auch sehen kann. Ich kann nur von mir sprechen, als in den sechziger und siebziger Jahren diese Filme drehte: Ich war außer mir darüber, was in Vietnam geschah, und ich dachte: „Zeig es, zeig es, zeig es!“ (8. Februar).

Damals gipfelte die Radikalisierung erst unter Jugendlichen, dann unter wachsenden Teilen der Arbeiterklasse in Westeuropa in den Mai 1968 in Frankreich (und in den Prager Frühling in Osteuropa im selben Jahr), in Streikwellen in mehreren Ländern Anfang der siebziger Jahre bis hin zu dem Sturz von Militärdiktaturen in Spanien und Griechenland und der Portugiesischen Revolution 1974. In den USA kam es zu Massenprotesten gegen den Vietnam-Krieg; 1969 brachten an einem einzigen Tag 36 Millionen in der einen oder anderen Weise ihre Ablehnung gegen die Politik Washingtons zum Ausdruck. Diese dramatischen Ereignisse gingen in den Vereinigten Staaten Hand in Hand mit dem Kino des “New Hollywood“ 1967 bis 1976. Die Bezeichnung ist eigentlich irreführend, wurden doch viele Filme fernab von Kalifornien unabhängig produziert. Unter diesen wütenden und engagierten Filmemachern waren neben Arthur Penn Regisseure wie Martin Scorsese („Taxi Driver“), Robert Altman („Nashville“) und John Cassavetes („Frau unter Einfluss“).

In der europäischen Filmszene stachen – angefangen mit der Nouvelle Vague (Jean-Luc Godard, der „Vivre sa vie“ machte, und andere), die nicht zuletzt mit Hilfe der Handkamera das Filmgeschehen revolutionierte – Regisseure heraus wie Paolo Passolini („Accatone“) und der Altmeister Luis Bunuel („Der diskrete Charme der Bourgeoisie“).

In Deutschland war neben Werner Herzog Rainer Werner Fassbinder der Originellste und Innovativste. Vor 25 Jahren starb er im Alter von 37 viel zu früh – übrigens kurz bevor er das Leben von Rosa Luxemburg verfilmen wollte. Mit „Berlin Alexanderplatz“ auf der Berlinale in diesem Jahr wurde Fassbinders grandioses Fünfzehn-Stunden-Werk, sein letzter noch selber montierter Film, nach langer Zeit wieder in Deutschland gezeigt. Endlich, „nach jahrelangen Kämpfen, Rückschlägen und "impertinentem Druck" (so die Präsidentin der Fassbinder Foundation, Juliane Lorenz)“, wie die FAZ vom 8. Februar berichtete. Fassbinder wird Döblin vollständig gerecht, auch wenn er nicht vorrangig die historischen Geschehnisse und die sozialen Entwicklungen behandelt, sondern sich auf die Psyche der Erwerbslosen, der Lohnabhängigen und der kleinbürgerlichen Schichten konzentriert und gesellschaftliche Polarisierung, Revolution und Konterrevolution in den zwanziger Jahren als Kammerspiel und Passionsgeschichte auf die Leinwand bannt.

So wie die Renaissance in der Filmkunst der sechziger und siebziger Jahre mit gesellschaftlicher Gärung und einem Aufschwung von Klassenkämpfen einher ging, so bildeten die revolutionären Ereignisse, die den I. Weltkrieg beendeten, die Grundlage für spannende filmische Neuerungen und enervierende, berührende Streifen in den Lichtspielhäusern. Es waren die Petrograder Textilarbeiterinnen, die den Startschuss für die Russische Revolution 1917 gaben. Es waren radikale aufmüpfige Frauen, die in dieser Zeit das Filmleben nachhaltig dominierten. Ihnen war auf der 57. Berlinale die Reihe City Girls gewidmet.

Während in den zwanziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in kurzer Zeit Dutzende großer Filme entstanden, ist es heute Jahr für Jahr nur eine spärliche Zahl. An der Spitze stehen auch in diesem Jahrzehnt die Altmeister Mike Leigh („All or Nothing“), Ken Loach („The Navigators“), Bertrand Tavernier („Holy Lola“) und die Dardenne-Brüder („Rossetta“). Einige wenige faszinierende Filme kamen in den letzten Jahren in die Kinos, darunter „Ressources humaines“, „Das Erbe“, „Nordrand“ und „Kroko“.

Es ist bezeichnend, dass auf der Berlinale ein Clint Eastwood mit seinem neuen Film „Letters from Iwo Jima“ einen der interessantesten Beiträge beisteuerte. Oder dass ein Helmut Berger beim Teddy-Award, dem schwul-lesbischen Filmpreis, im Rampenlicht stand. Unglaublich aber wahr übrigens: Damit erhielt Helmut Berger – der in Werken von Lucino Visconti (welcher in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag hätte feuern können) brillierte – seine erste Film-Auszeichnung überhaupt. Helmut Berger, über den Billy Wilder einmal sagte: „Seit ihm gibt es keine interessanten Frauen mehr.“

Auch wenn dem Neoliberalismus längst auf breiter Front eine Abfuhr erteilt wird, Arbeitskämpfe zunehmen und in Lateinamerika die Fragen von Verstaatlichung und Sozialismus wieder auf der Tagesordnung stehen, hinkt die Filmkunst den politischen und sozialen Entwicklungen weit hinterher. Aus welchen Gründen? Die Kunst wird sich nie mit den historischen Entwicklungen im Gleichschritt befinden. Mal antizipiert sie gesellschaftliche Wandlungen, mal greift sie Veränderungen mit großer Verzögerung auf. Erschwert wird unabhängigen und kritischen Filmemachern die Arbeit angesichts der schieren Übermacht von Kinomoguls, riesigen Filmunternehmen, Verleihfirmen, Multiplex-Kinos und die auf glattgebürstete, „gleichgeschaltete“ Politik der Subventionen. Während die Filmproduktion immer teurer wird (trotz des Sparpotenzials dank der Digitalkamera-Technik), sinken die Finanzmittel. So standen den beiden Vertretern der „Berliner Schule“ Angela Schanelec (auf der Berlinale mit „Nachmittag“ dabei) und Thomas Arslan („Ferien“) mit jeweils 450.000 Euro für ihre jüngsten Produktionen nur halb so große Etats wie noch bei ihren vorletzten Filmen zur Verfügung (am Rande bemerkt sei, dass der mehr als problematische Problemfilm, besser gesagt der völlig unerhebliche Wettbewerbs-Beitrag mit Sharon Stone auf der Berlinale, „When a Man falls in the Forest“, auf Investitionen eines Private-Equity-Fonds basierte). Selbst wenn dann einmal ein Streifen realisiert werden konnte, stehen oft viele Filmleute den mächtigen Verleihfirmen und der Vermarktungspolitik fast ohnmächtig gegenüber. In den letzten Jahren blieb sehenswerten Berlinale-Filmen reihenweise der Weg in die Kinos versperrt. Beispielsweise dem Episoden-Film „Tickets“, an dem auch Ken Loach mitwirkte. Selbst wenn ein Film einen Verleih findet, bekommt er oft zu wenig Kopien, um sich durchsetzen zu können. Oder er wird nicht überall gezeigt; so blieb es „Brokeback Mountain“ in zwei US-Bundesstaaten gänzlich verwehrt, auf die Leinwand zu kommen.

Über den osteuropäischen Film schrieb Ralf Schenk in der Berliner Zeitung vom 13. Februar: „Gegenwart und Historie wurden nach aufregenden Stoffen durchforscht, und fast jedem Ernst zu nehmenden Film merkte man an, dass er die Grenzen für politische und moralische Themen zu erweitern bemüht war. Das blieb so bis zum Ende der Achtziger. Dann – als die Zensur an Macht verlor – setzte eine spürbare Ermüdung ein, und die Marktgesetze brachen sich Bahn. Kommerz und wohlgefällig Anpassungsfilme, darunter auch einige von Marta Meszaros, bestimmten fortan die Szene.“ Marta Meszaros („Tagebuch für meine Lieben“ über den Stalinismus und die Ungarische Revolution 1956) erhielt in diesem Jahr die Berlinale-Kamera für ihr Lebenswerk.

In der Tat ist der osteuropäische und der russische Film seit Anfang der neunziger Jahre, bis auf wenige Ausnahmen, extrem schwach. International sind es neben Filmen aus Westeuropa und einzelnen unabhängigen Filmemachern aus Nordamerika vor allem Länder des Nahen Ostens gewesen, in denen sich in jüngster Zeit etwas tat. Seit Jahren ragen die Iraner Abbas Kiarostami („Ten“), Mohsen („Kandahar“) und Samira Makhmalbaf (Fünf Uhr am Nachmittag“) hervor, außerdem Bahman Ghobadi („Zeit der trunkenen Pferde“). Letztes Jahr war Jafar Panahis Streifen „Offside“ über Frauen, die sich in Teheran mit allen Mitteln um einen Stadionsbesuch bei einem WM-Qualifikationsspiel bemühen, einer der aufregendsten Wettbewerbs-Beiträge.

Lateinamerika hat bis auf einzelne Filme wie „Der Morast“, „Maria voll der Gnade“ oder dem liebenswürdigen „Whisky“ nicht viel zu bieten. Bedeutender sind seit mehreren Jahren einige Filmschaffende in Asien. Schon in den neunziger Jahren taten sich in Taiwan Hou Hsiao-Hsien und in Hongkong Wong Kar-Wai hervor. In Südkorea hat in diesem Jahrzehnt zunehmend Park Chan-Wook für Aufsehen gesorgt. Auf dieser Berlinale war er mit dem sehenswerten „I am a Cyborg, but that"s o.k.“ vertreten. Die Protagonistin, die in einer Fabrik am Fließband arbeitet, hält sich für einen Robotor und wird in eine Nervenklinik gesteckt. Während die Leitung der Anstalt nicht auf sie eingeht, nur auf Medikamente und wenig einfühlsame Heilmethoden setzt, kommt ein weiterer Patient bei der Hauptfigur weiter, in dem er sie ganz einfach Ernst nimmt mit ihren Einbildungen beziehungsweise ihren Gefühlen und Ängsten.

Spannend darüber hinaus sind zunehmend Filme aus China. Zhang Yimou, der sich noch vor zehn, fünfzehn Jahren mit den politischen und sozialen Veränderungen im Land auseinander setzte, scheint mit seinen Erfolgen satt und opportunistisch geworden zu sein. Vor vier Jahren war er auf der Berlinale mit dem unsäglichen Kostüm- und Historien-Schinken „Hero“ vertreten. Dafür gibt es einen Lou Ye, der „Suzou River“ drehte oder Li Jang, der auf den Berliner Filmfestspielen 2003 „Blinder Schacht“ präsentierte, in dem er mittels einer DV-Kamera an allen Zensurauflagen vorbei die katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Kohlezechen in einen Spielfilm packte.

„Mona Lisa“

„Manchmal beschlägt sogar die Kameralinse, so schwül ist es in der südchinesischen Provinz Sichuan. Die Kleider kleben am Leib, die Häuser im Dorf stehen auf kahlen Betonfundamenten. Man lebt hier in Schmutz und Schlamm. Das Mädchen A Quing tanzt für die Marmorfabrik „Mona Lisa“, ein Funkemariechen vom Lande. Große Plakate werben für schicke Wohnungsausstattungen: ein Hohn angesichts der Bauern, die sich die Tanzshow auf dem Parkplatz ansehen.“ So beschreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel vom 14. Februar die ersten Minuten dieses großartigen Films.

Die Großmutter der Hauptfigur Xiu Xiu kommt ins Krankenhaus, bei ihr wird Lungenkrebs im Endstadium festgestellt. Gemeinsam mit ihrer Adoptivschwester A Qiong setzt Xiu Xiu alle Hebel in Bewegung, damit ihre im Gefängnis sitzenden Eltern zum Krankenbett reisen dürfen, um die alte Frau ein letztes Mal zu sehen. Ein Hürdenlauf beginnt, von Behörde zu Behörde, der an Zhang Yimous „Die Geschichte der Qiu Ju“ erinnert. Der örtliche Parteisekretär, auf den es ankommt, flüchtet sich in die Haltung: „Ich helfe bei allem – sofern das nicht mit dem Gesetz in Konflikt gerät.“ Derweil bettelt der Großvater mit den Kindern im Dorf, um Medikamente und Untersuchungen finanzieren zu können. In der Scheune wird schon ein Holzsarg gezimmert.

Dann macht sich Xiu Xiu mit ihrem Kind auf zum städtischen Frauengefängnis. Inhaftiert wurde die Mutter, weil sie Xiu Xiu entführt haben soll. „Kinderhandel gehört zu den häufigsten Verbrechen in China, gleichzeitig hat die Einkindpolitik dazu geführt, dass vor allem kleine Mädchen ausgesetzt wurden.“ Wie es sich wirklich zugetragen haben mag, wird der Zuschauer nicht erfahren. Dafür ist er Zeuge einer Odyssee von Xiu Xiu, schließlich einer gemeinsamen Fahrt zum Sterbebett in Polizeibegleitung, über Tage und Nächte, und einer allmählichen, vorsichtigen Annäherung der beiden Frauen. Wie so oft ist es das Kleinkind, welches den ersten vorsichtigen Kontakt herstellt; die Erwachsenen verstecken sich mit ihren Gefühlen und Gedanken hinter dem Kind. Der Film hat ein rasantes Tempo, um dann auf einmal zum Stillstand zu kommen – als die kleine Reisegesellschaft unterwegs auf einem Bahnhof ausharren muss. Als scheinbar nichts mehr passiert und die Reisenden auf den Anschluss warten, passiert alles, das Kind und die beiden Frauen vergessen die Dinge um sie herum, und registrieren endlich den anderen, machen zögerlich, zaudernd Schritte auf ihn zu. Unendlich aufregend, das zu beobachten. Im Abspann erfährt man, dass die Darsteller allesamt sich selber spielen. Es raubt einem den Atem.

Bei diesem Film will dem Betrachter eine Seerose in den Sinn kommen, denn „Mona Lisa“, zwar mit Dornen behaftet, strahlt lange eine betörende Schönheit aus, scheint einem jedoch verschlossen und unzugänglich zu bleiben. Plötzlich öffnen sich aber nach und nach die Blätter der Rose und es erschließt sich ganz zwingend der Sinn der Geschichte. Anke Leweke vom Tip-Magazin schreibt über „Mona Lisa“: „Stets in Augenhöhe seiner Darsteller, die sich selbst spielen, zeigt Li Ying, wie eine rigide Politik, die am Einzelnen vorbeizielt, zur Entfremdung auch in den kleinsten Einheiten einer Gesellschaft führen kann. Auf ergreifende Weise erzählt er von einer Familie, die im Verlauf dieses dokumentarischen Spielfilms nicht unbedingt zueinander findet, sich jedoch die entscheidenden und schon lange verdrängten Fragen stellt.“

„Ping Guo“

Li Yus Wettbewerbsfilm „Ping Guo“ ist monatelang von der Zensur in China durch die Mangel genommen worden. Schließlich sollten der Filmemacherin 53 Änderungen abverlangt werden, 15 Minuten sollten wegfallen. Das chinesische Regime wünschte es sich, dass dieser Peking-Film (auf der Berlinale auch unter dem Titel „Lost in Beijing“ gelaufen) nicht das ganze, das wahre Gesicht der Hauptstadt zeigt, sondern ein geliftetes Peking. Auf der Pressekonferenz war zu erfahren, dass der Blick auf Armut, Obdachlosigkeit, auf Prostitution verboten ist. Laut dem Produzenten wurde gefordert, „alle Szenen vom Tiananmen-Platz herauszuschneiden, die Nationaflagge und dreckige Straßen.“ Die Berlinale-Leitung unter Dieter Kosslick wollte sich aus dem Konflikt heraushalten und erklärte feige: „Wir zeigen den Film, den wir bekommen.“ Am Schluss war dann doch der ungekürzte Film auf der Berlinale zu sehen. Der Produzent gab an, dass die Zeit zu knapp war, die untersagten Szenen noch rauszuschneiden und den Film neu zu untertiteln. Es ist fraglich, so das Filmteam, dass „Ping Guo“ überhaupt in die chinesischen Kinos kommt. Offen bleibt ebenfalls, ob er in Deutschland einen Verleih findet. Was unbedingt zu wünschen ist – handelt es sich hierbei doch um einen herausragenden, wenn nicht um den beeindruckendsten neuen Film auf der Berlinale.

Dieser Streifen beginnt mit Einstellungen von Wolkenkratzern in dieser Elf-Millionen-Metropole. In schneller Folge werden die Hochhäuser, die in hoher Dichte über die Stadt verstreut sind, eingefangen. Dann ist man bei An Kun, einem Fensterputzer in luftiger Höhe, der nach getaner Arbeit das gerade gereinigte Fenster betrachtet – um durch die Scheiben seine Freundin Ping Guo zu erkennen. Und er wird Zeuge, wie seine Freundin von ihrem Chef vergewaltigt wird. Sofort sind die ZuschauerInnen mittendrin, nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Erzählweise der Regisseurin, die in rabiaten Schnitten von der Totale zum Detail wechselt. An Kun und Ping Guo sind vom Land in die große Stadt gezogen, kämpfen verzweifelt ums Überleben, wie Zehntausende, die jährlich in Peking dazu kommen und sich in das Heer der Arbeitssuchenden einreihen müssen. 120 Millionen in China sollen in den vergangenen Jahren ihre Dörfer verlassen haben.

Ping Guo arbeitet in einem Massagesalon. Wird ein Kunde zudringlich, darf sie sich genau so wie ihre 50 Kolleginnen nicht einfach zur Wehr setzen, sonst fliegt sie raus – wie ihre Freundin, die am Ende des Films als Prostituierte tot aufgefunden wird. Der junge Fensterputzer fordert von Ping Guos Chef nach der Vergewaltigung 20.000 Dollar. Dieser will 4.000 zahlen und Ping Guo feuern. Nachdem Ping Guo kurz darauf schwanger wird, bietet der Chef Lin Dong 100.000 Dollar, falls sich herausstellt, dass er der Vater ist. Liebe wird erkauft oder brutal erzwungen, mit einem – ungeborenen – Kind werden Geschäfte abgewickelt. „Ping Guo“ zeigt schmerzhaft und deutlich, aber auch voller Anteilnahme mit den Figuren, dass in einer mehr und mehr von kapitalistischen Verhältnissen durchdrungenen Gesellschaft alles zur Ware wird.

Virtuos heftet sich die Regisseurin mit DV-Handkamera an die Fersen von Ping Guo. Klebt an ihr, beobachtet, wie sich die Protagonistin bei ihrem Freund festklammert, festkrallt, sich mit ihm verknäulen will. Um nicht verloren zu gehen. Die Wohnungen sind klein und karg. Die Menschen leben auf engstem Raum. „Erschöpfte, unsichere, zusammengepferchte Existenzen, Migranten in der Megacity, chinesisches Prekariat. Die Kamera versetzt den Zuschauer in die gleiche prekäre Situation, mit rastlosen Reißschwenks, fahrigen Zooms, gezielten Unschärfen und taumelnder Optik“, so Christiane Peitz im Tagesspiegel (17. Februar).

Dieses Mal arbeitet Li Yu, die 2001 mit ihrem Spielfilm-Debüt „Fish and Elephant“ im Berlinale-Forum vertreten war, nicht mit Laiendarstellern, sondern den in Asien populären SchauspielerInnen Fan Bing Bing, Tony Leung, Tong Da Wei und Elaine Jin.

„Ping Guo“ ist der einzige Film von 22 Beiträgen im Wettbewerb, bei dem eine Frau hinter der Kamera stand. Und es ist unter Garantie einer der Besten, wenn nicht der Beste.

Die Berlinale der Filmemacherinnen

Im Wettbewerb war die Filmemacherin Li Yu in einer reinen Männerrunde allein auf weiter Flur. Ganz anders war es in den Reihen Berlinale Spezial, Panorama und Forum bestellt. Dort trumpften in beträchtlicher Zahl, mehr als in früheren Jahren, weibliche Regisseure auf.

So gab die 28-jährige Schauspielerin Sarah Polley („Das süße Jenseits“) ihr Debüt als Filmemacherin mit dem wunderbaren „Away from her“, in der Julie Christie, eine der größten Schauspielerinnen der letzten Jahrzehnte („Mr. und Mrs. McCabe“) eine an Alzheimer erkrankte Frau mimt.

Sarah Polley hatte auf der Berlinale zuletzt mit „Mein Leben ohne mich“ für Aufsehen gesorgt. Dieser Film ist ebenfalls das Werk einer Regisseurin: Isabel Coixet, die in diesem Jahr mit Wim Wnders und anderen zusammen an „Invisibles“ beteiligt war. Bemerkenswert auch die Neuverfilmung eines Romans von D. H. Lawrence, „Lady Chatterley“, von der Filmemacherin Pascale Ferran.

Als deutsche Regisseurin und Schauspielerin präsentierte Angela Schanelec ihren „Nachmittag“. Im Tagesspiegel-Interview vom 13. Februar erklärte sie ihren Anspruch an die Filmarbeit: „Ich möchte es vermeiden, den Zuschauer zu manipulieren. Was mich an Blockbustern stört, ist die Tatsache, dass bestimmte Mittel eingesetzt werden, bei denen der Zuschauer lachen oder weinen soll. Diese Mittel sind durchsichtig, und trotzdem kann man sich ihnen oft nicht entziehen.“

Geehrt wurde zudem die ungarische Altmeisterin Marta Meszaros. Vor dreißig Jahren noch war ihr Beruf fast ausschließlich eine Männerdomäne. Wen gab es denn noch neben Meszaros? Außer Agnes Varda, die sich neben Godard und anderen damals behauptete. Mit Filmen wie „Mittwochs zwischen Fünf und Sieben“ oder „Vogelfrei“.