Eine erste Bilanz der Berliner Wahlen

Beschlossen vom Landesvorstand der WASG Berlin, 28.09.06
 

Die eindeutige Botschaft der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) war: Die im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien wurden von einer Minderheit der Berlinerinnen und Berliner gewählt. 42 Prozent gingen erst gar nicht zur Wahl. Über 13 Prozent gaben ihre Stimme anderen Parteien. Die „Wahlsiegerin“ SPD wurde gerade mal von 17 Prozent der Berlinerinnen und Berliner gewählt. In Marzahn-Hellersdorf oder Lichtenberg ging nicht mal jeder Zweite zur Wahl.

Alle etablierten Parteien außer den Grünen haben in absoluten Stimmen an Wählerinnen und Wählern verloren. Am deutlichsten bekam die Linkspartei.PDS die Quittung dafür, dass sie sonntags vom Sozialismus gesprochen und montags bis freitags im rot-roten Senat massiven Sozialabbau mitgetragen hat: Sie verlor mit über 180.000 Stimmen (minus 9 Prozentpunkte) die Hälfte ihrer WählerInnen. Damit liegt sie gemessen an der absoluten Stimmenzahl auf ihrem Stimmenniveau von 1990. Von den 180.000 Stimmen verlor sie den größten Anteil an die Nichtwähler. Im Ostteil der Stadt büßte sie um zwanzig Prozentpunkte ein. Die höchsten Verluste fuhr sie in Marzahn-Hellersdorf ein. Dort brach sie um 30 Prozentpunkte ein. Vermutlich wird die Linkspartei.PDS drei von vier Bezirksbürgermeister und etliche Stadträte verlieren.

Die Stimmung im Wahlkampf war eindeutig: Die meisten Menschen haben die Nase gestrichen voll von Parteien, die vor der Wahl das Eine versprechen und nach der Wahl das genaue Gegenteil machen. Bestes Beispiel vor der letzten Wahl war das Wahlversprechen der Linkspartei.PDS, die Kita-Gebühren nicht zu erhöhen und nach der Wahl die Erhöhung mit zu beschließen.

Warum konnte die WASG von dieser Stimmung nicht ausreichend profitieren und wie ist das Abschneiden der WASG zu beurteilen?

Der Einzug der Berliner WASG in sieben Bezirksverordnetenversammlungen mit 14 Abgeordneten, ein Zweitstimmenergebnis von 2,9 Prozent und ein Erststimmenergebnis von 3,8 Prozent sind ein Erfolg. Im Ostteil der Stadt erreichte die WASG ein Zweitstimmenergebnis von 3,3 Prozent, im Westteil 2,7 Prozent. In absoluten Zahlen gaben der WASG 40.600 BerlinerInnen die Zweit- und 52.000 die Erststimme. Das sind 50.000 Stimmen für den Widerstand gegen Sozialabbau und Privatisierung. Die WASG war vor einem halben Jahr noch unbekannt, hat aus dem Stand dieses Ergebnis geschafft und ist damit zu einer ernst zu nehmenden politischen Kraft in Berlin geworden.

In Friedrichshain-Kreuzberg erzielte die WASG mit 6 Prozent ihr bestes Ergebnis und zieht in Fraktionsstärke in die BVV ein. Bei der Zweitstimme schnitt die WASG besonders in Stadtgebieten mit einer einkommensschwachen Bevölkerung sehr gut ab. Wir erreichten beispielsweise in einem Neuköllner Wahllokal in der Rütlistraße (in der auch die bekannte Rütlischule ist) 10,5 Prozent. In Kreuzberg lag die WASG in vielen Wahllokalen über zehn Prozent, in manchen sogar bei 14 oder 15 Prozent.

Warum konnte jedoch das Wahlziel von fünf Prozent nicht erreicht werden?

Das Haupthindernis für die Erreichung dieses Ziels war der Vertrauensverlust der Berlinerinnen und Berliner in politische Parteien insgesamt. Viele Menschen stellten uns an den zahlreichen WASG-Infotischen die Frage, warum sie uns glauben sollten, dass wir anders sind, nachdem sie negative Erfahrung mit den Grünen, der SPD und der Linkspartei.PDS gemacht haben.

Wir haben unser Möglichstes getan, um deutlich zu machen, dass wir anders als die etablierten Parteien und mehr als eine „Wahlalternative“ sind. Das begann schon bei der Aufstellung unserer Landesliste, auf der viele bekannte AktivistInnen aus der gewerkschaftlichen, sozialen und antifaschistischen Bewegung kandidiert haben.

Auch aktuelle Themen wie die Privatisierungen von Wohnungen haben wir im Wahlkampf umgehend aufgegriffen und Kampagnearbeit in der Neuköllner Highdeck-Siedlung und in Gebieten, wo die Privatisierung der Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) ansteht, begonnen. Wir haben Info-Veranstaltungen für betroffene MieterInnen durchgeführt, Unterschriften gesammelt und eine Protestaktion vor der WBM-Zentrale durchgeführt. Wir haben zudem den Streik der KollegInnen an der Charité vom ersten Tag an an allen Standorten unterstützt und damit für viele KollegInnen deutlich gemacht, dass wir es ernst meinen, wenn wir sagen, dass eine linke Partei auf der Seite derjenigen stehen muss, die von Sozialabbau, Lohndumping und Privatisierung betroffen sind. Wir waren dabei die einzige Partei, die an der Seite der Charité-Kollegen stand. Die Linkspartei.PDS und die SPD stehen durch ihre Mitglieder im Aufsichtsrat dagegen für einen Absenkungstarifvertrag für die Beschäftigten. Durch eine Aktion vorm Nobelrestaurant Borchardt haben wir unter dem Motto „Einmal Essen wie die Reichen“ deutlich gemacht, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Berlin massiv zugenommen hat und wir Zustände von 37 Prozent Kinderarmut in Berlin nicht hinnehmen sondern im Gegenteil erbittert bekämpfen wollen.

Trotzdem müssen wir bilanzieren, dass die Zeit nicht ausgereicht hat, um uns Vertrauen zu erarbeiten und uns als die einzige Alternative zum Sozialabbau bekannt zu machen und zu verankern. Dazu kommt, dass in Berlin in diesem Jahr im Gegensatz zu der gesellschaftlichen Situation vor zwei Jahren, keine gesellschaftliche Protestbewegung stattgefunden hat, die es der WASG erleichtert hätte, ihre Positionen, beispielsweise gegen Hartz IV, deutlich zu machen.

Erschwerend kam für uns hinzu, dass die eigene Bundespartei inklusive Oskar Lafontaine Wahlkampf für die Linkspartei.PDS gemacht hat. Eine finanzielle Unterstützung durch die Bundespartei gab es nicht. Im Gegenteil mussten wir unseren Wahlkampfetat in Höhe von rund 55.000 Euro durch Spendengelder und Darlehen finanzieren. Doch die Solidarität von WASG-Mitgliedern und sogar Linkspartei.PDS-Mitgliedern aus dem Bundesgebiet mit unserem Antritt war enorm. Über zweihundert WahlkampfhelferInnen aus dem Bundesgebiet und auch aus anderen europäischen Ländern unterstützten die WASG im Wahlkampf. Wir möchten uns an dieser Stelle noch einmal herzlich bei allen WahlkämpferInnen bedanken, die von außerhalb Berlins kamen.

Wir finden: Gemessen an all diesen Umständen, kann sich unser Ergebnis sehen lassen. Wir gehen mit 14 Abgeordneten in den BVVn und einem hohen Bekanntheitsgrad gestärkt aus diesem Wahlkampf hervor.

Ein großer Erfolg ist zudem, dass der Einzug der Neonazis in Gestalt der NPD und der Republikaner ins Abgeordnetenhaus verhindern werden konnte. An diesem Erfolg hatte unser Antritt einen großen Anteil. Gerade mit Blick auf den Einzug der NPD in den Landtag in Mecklenburg-Vorpommern kann das Scheitern der Neonazis in Berlin nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die NPD hat auch im Wahlkampf versucht, mit ihrer sozialen Demagogie auf Stimmenfang zu gehen. Indem mit der WASG Berlin eine linke Alternative zur Wahl stand, konnten wir ihnen auf Landesebene aber auch in vielen Bezirken einen Strich durch die Rechnung machen. Zur Bilanz gehört jedoch auch, dass das Verhindern eines Antritts der WASG zur BVV-Wahl in Neukölln durch die Mehrheit der dortigen Bezirksgruppe den Einzug der NPD in die BVV Neukölln erleichtert hat. Wir sind uns sicher: Eine Kandidatur der WASG in Neukölln hätte wahrscheinlich zu einem Einzug der WASG in Neukölln und einem Scheitern der Neonazis geführt.

Was bedeuten die Berliner Wahlen nun für den Parteineubildungsprozess bundesweit?

Wir sind der Meinung, dass Oskar Lafonatine und der WASG-Bundesvorstand die Konsequenzen aus dem katastrophalen Wahlergebnis der Linkspartei.PDS ziehen müssen. Oskar Lafontaine und der WASG-Bundesvorstand kommentieren nun das Wahlergebnis und so tun, als hätten sie nicht eindeutig Position für das sinkende Schiff der Berliner Linkspartei.PDS ergriffen. Doch Oskar Lafontaine hat aktiven Wahlkampf für die Linkspartei.PDS gemacht und der WASG-Bundesvorstand hat zu ihrer Wahl aufgerufen. Damit sind der Bundesvorstand und Oskar Lafontaine Teil der Niederlage und müssen auch Konsequenzen aus dem eigenen Handeln ziehen.

Die einer linken Position unverdächtige Berliner Morgenpost kommentierte am Tag nach der Wahl: „Im Bund gegen Hartz IV agitieren, aber im Land die verhassten Reformen umsetzen. Im Bund gegen die Privatisierung öffentlicher Unternehmen wettern, aber in Berlin Wohnungen verkaufen. Den Sozialabbau verteufeln, gleichzeitig aber auch in Berlin soziale Leistungen zusammenstreichen. Das haben viele Wähler offenbar nicht verstanden. Als dann auch noch ein Oskar Lafontaine als Linkspartei-Fraktionschef zwar inhaltlich die gleichen Rügen austeilte wie seine WASG-Parteikollegin Redler, aber dennoch die Wahl der pragmatischen PDS-Spitzen empfahl, war die Verwirrung komplett.“

Die Konsequenz aus dem Wahlergebis kann nur sein: Eine neue Linke kann und darf nicht auf der politischen Grundlage der Berliner Linkspartei.PDS gegründet werden. Unter den Vorzeichen von Sozialabbau und Privatisierungen in Regierungsverantwortung kann es keine Fusion geben. Mit Befremden sehen wir, dass Oskar Lafontaine sich am 25.09. gegenüber dem „stern“ für eine Fortsetzung des rot-roten Senats ausgeprochen hat. Der Landesvorstand der WASG Berlin lädt Oskar Lafontaine zu einer offenen Diskussion ein, um ernsthaft über die Konsequenzen aus den Berliner Wahlen und die Perspektiven für den Parteineubildungsprozess zu diskutieren.

Wir sind der Meinung: Der eigenständige Wahlantritt der WASG Berlin war richtig. Wir tragen nicht die Verantwortung für das Desaster der Linkspartei PDS. Von 180.000 ehemaligen Linkspartei.PDS-Wählern haben 17.000 die WASG gewählt. Der Grund für das Scheitern der Linkspartei.PDS liegt in ihrer eigenen unsozialen Politik. Die WASG hat die Mehrzahl ihrer Stimmen von Nichtwählern und ehemaligen WählerInnen anderer Parteien erhalten. Wir haben mit unserem Wahlantritt der TINA-Politik (There is no alternative- Es gibt keine Alternative) der Sozialabbau-Parteien etwas entgegen gesetzt, den Druck auf die etablierten Parteien einschließlich der Linkspartei.PDS enorm erhöht und für den ersten Wahlantritt ein respektables Ergebnis erreicht. Allein aufgrund unseres Wahlantritts haben SPD und Linkspartei.PDS auf einmal wieder von der Rekommunalisierung der Berliner Wasserbetriebe gesprochen oder davon, dass keine Wohnungen mehr privatisiert werden dürfen.

Die WASG Berlin wird ihr Wahlversprechen halten und weiterhin als oppositionelle soziale Kraft die Politik in dieser Stadt beeinflussen. Nächster Höhepunkt ist die Demonstration der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen am 21. Oktober 2006, zu der die WASG mit eigenen Flugblättern und Plakaten mobilisiert. Gerade vor den Jobcentern werden wir unserern Platz nicht räumen, sondern in den nächsten Wochen verstärkt präsent sein. Auch die Unterstützung der streikenden Kollegen an der Charité und der Arbeiter bei Bosch-Siemens-Hausgeräte werden wir nicht vernachläsigen sondern steigern. Wir gehören nicht zu den Parteien, die sich nur vor der Wahl einmal blicken lassen, um Wahlkampf zu machen.

Gerade jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, zu dem sich die WASG Berlin in der außerparlamentarischen Opposition und in den BVVn beweisen muss. Wir haben immer gesagt, dass es darum gehen muss, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse insgesamt zu verändern und den Widerstand gegen den Neoliberalismus aufzubauen – und genau das werden wir jetzt tun: In den sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen und durch unsere Oppositionsarbeit in den BVVn.