Alltag Gewalt

Warum Verrohung und Gewalt an Schulen zunehmen
 
Die Werner-von-Siemens Schule in Hildesheim hat in den letzten Wochen traurige Berühmtheit erreicht. In ganz Deutschland wurde der Fall eines 17-jährigen Jugendlichen bekannt, der von seinen Mitschülern über lange Zeit misshandelt wurde. All das wurde auch noch auf Video aufgenommen und sollte im Internet veröffentlicht werden. Jetzt zerreißen sich Politiker und Medien die Münder und suchen nach Schuldigen. Doch die tieferen Ursachen werden nicht beleuchtet.
Kurz nach dem Bekanntwerden der entsetzlichen Taten im niedersächsischen Hildesheim machten ähnliche Vorfälle in anderen Berufsschulen und in einer Hauptschule medial Furore.
Das erste, was dem niedersächsischen Kultusminister Bernd Busemann, CDU, nach dem Bekanntwerden der Taten in Hildesheim einfiel: jede Schule Niedersachsens soll nun ein eigenes Sicherheitskonzept vorlegen und „kritische Zonen“ in den Schulen sollen künftig mit Videokameras überwacht werden können. Andere Politiker und Medien forderten sogleich härtere Jugendstrafen.

Zukunftslos

Bei der Hildesheimer Klasse handelte es sich um einen Berufsvorbereitungsjahrgang. Dort-hin werden Jugendliche geparkt ohne Schulabschluss, ohne Lehrstelle und ohne Aussicht auf Zukunft. Allen – den Jugendlichen, den LehrerInnen, dem Arbeitsamt und den Poltikern – ist klar: nach einem Jahr Berufsvorbereitung geht es direkt in die Arbeitslosigkeit. Warum sie dorthin gesteckt werden? Oftmals nur wegen der Schulpflicht und um Statistiken zu beschönigen.

Keine Zeit für niemanden

Jugendliche beginnen den erhöhten Druck in der Gesellschaft schon früh zu spüren. In vielen Bereichen ist die Arbeitszeit enorm flexibilisiert, Überstunden und Wochenendarbeit sind alltäglich. Zeit für die Familie bleibt selten. Die, die keine Arbeit mehr haben, werden von den täglichen Sorgen aufgefressen; ruhige Minuten für die Kinder bleiben auch hier selten. Die Verantwortung für die Erziehung wird allein auf die Familien und hierbei insbe-sondere auf die Frauen abgeschoben.

Spiegelbild des Kapitalismus

Jugenclubs, Mädchentreffpunkte und Freizeiteinrichtungen wurden überall auf ein Minimum zusammengestrichen. So sind Jugendliche dazu gezwungen, auf der Straße, vor dem Fernseher oder der Spielekonsole abzuhängen. Mit Perspektivlosigkeit nimmt die Wut im Bauch zu. Das kapitalistische System macht ihnen vor, was scheinbar zu tun ist: wenn du alleine für dich kämpfst und deine Ellenbogen einsetzt, wenn du nach unten trittst, dann ist es richtig, dann setzt du dich durch.
Politiker und Wirtschaftsbosse machen was ihnen gefällt. Trotz Korruption, trotz Wirtschaftskriminalität und Steuerbetrug sitzen sie in teueren Autos und fetten Villen. Wieso sollen die, die vom Leben eh’ nichts zu erwarten haben, sich an deren Gesetze halten?

LehrerInnen ohne Hilfe

LehrerInnen an Schulen wie in Hildesheim können nur wenig bieten. Genau wie ihre SchülerInnen wissen sie, dass niemand dort eine Perspektive hat. Noch weniger als an allgemeinbildenden Schulen sind BerufsschullehrerInnen pädagogisch ausgebildet. Ein Lehrer der Hildesheimer Jugendlichen meinte gegenüber der Berliner Zeitung: „Wir sind dafür nicht ausgebildet. Ich habe Elektrotechnik studiert. Wir gehen ohne sozialpädagoische Ausbildung in diese Problemklassen.“ Und das bei zu großen Klassen, speziellen sozialen Problemen und Sprachhindernissen bei vielen Migrantenjugendlichen. Der schon vorher zitierte Lehrer fasst das so zusammen: „Ein Himmelfahrtskommando“.

von Doreen Ullrich, Berlin