‘‘Arbeiter ohne Partei‘‘

In den Kämpfen gegen Schröders „Agenda 2010“ muss für einen Bruch der Gewerkschaften mit der SPD geworben werden
 
Zum ersten Mal in der 140-jährigen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie wird ein SPD-Mitgliederbegehren eingeleitet. Auf Grund der Auseinandersetzung um Schröders jüngste Regierungserklärung und der „Agenda 2010“ sieht sich die SPD-Spitze gezwungen, gegen ihren ausdrücklichen Willen einen Sonderparteitag anzusetzen. Auf dem Landesparteitag in Schleswig-Holstein Mitte April hatte „die erboste SPD-Basis“ den bisherigen Parteivorsitzenden und Schröder-Anhänger Franz Thönnes „regelrecht weggeputscht“ (Der Spiegel 17/2003). Brechen jetzt stürmische Zeiten in der SPD an? Oder ist das alles nur ein Sturm im Wasserglas?

von Aron Amm, Berlin

Die innerparteilichen Kritiker der Schröder-Regierung fordern keinen grundlegenden politischen Kurswechsel der SPD ein. Die zwölf SPD-Bundestagsabgeordneten und 17 weitere Parteimitglieder schreiben in ihrem Mitgliederbegehren selber, dass es für sie „keine Frage von linken und rechten Flügeln in der Partei“ ist. Jegliche Hoffnung, die aufkeimen könnte, wird von vornherein in den Wind geschlagen: „Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen zu unserer SPD-geführten Bundesregierung und unserem Bundeskanzler Gerhard Schröder. Gemeinsam haben wir seit 1998 viele wichtige Reformen erkämpft. Dafür tragen wir gemeinsam Verantwortung und darauf können wir gemeinsam stolz sein.“ Stolz sein worauf? Auf die Steuerreform, die Rentenreform, die Privatisierungsmaßnahmen, das Sparpaket oder die ersten Kriegseinsätze der Bundeswehr? „SPD-Linke“ hat nichts mit linker Politik zu tun Es gibt keine aktive, in der Mitgliedschaft verankerte Parteilinke mehr. Von den ErstunterzeichnerInnen des Mitgliederbegehrens standen die meisten abseits, als in der SPD tatsächlich noch eine Linke existierte, die gegen die Rechtsentwicklung der Partei ankämpfte. Die heutige innerparteiliche Opposition sorgt sich nicht um das Schicksal der arbeitenden Bevölkerung, sondern nur um das eigene Schicksal. Sie fürchten um ihre Posten und Positionen. Das gestehen sie sogar schon im Einleitungstext des Mitgliederbegehrens ein, in dem sie die „Zukunft“ und den „Erfolg“ der SPD zum Ausgangspunkt machen.
In Schleswig-Holstein wurde Thönnes nur deshalb abgewählt, weil er als Parlamentarischer Staatssekretär zur Berliner Politikerriege gehörte. Sein Nachfolger, Claus Möller, steht für keine anderen Ideen; er war unter Heide Simonis zehn Jahre Finanzminister und versuchte in seiner Amtszeit, die Landeskassen mit Hilfe von Filz, Korruption und Privatisierungen zu sanieren. Im Bremer Wahlkampf wurden alle Auftritte Schröders gestrichen – nicht aus inhaltlichen Gründen (schließlich deckt sich die unternehmerfreundliche Umverteilungspolitik Bremens eins zu eins mit der Berlins) – sondern aus Angst, dass die Verbindung der Bremer SPD mit der rot-grünen Bundesregierung Stimmen kosten und damit Regierungssitze gefährden könnte.

Schröder risikiert offene Konfrontation

„Wenn ein Orchester gleich den Anfang eines Konzerts verpatzt, klopft der Dirigent mit dem Taktstock ab und lässt noch einmal von vorn anfangen. Mit dieser Attitüde trat der Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende Schröder fast sechs Monate nach der Bundestagswahl ans Rednerpult und hob noch einmal den Stock zum Auftakt seiner zweiten Legislaturperiode“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. März). Mit seiner Regierungserklärung schlägt der Kanzler Schröder keinen völlig neuen Kurs, aber eine andere Gangart ein. Obwohl die Wünsche der Kapitalisten noch weit über die „Agenda 2010“ hinausgehen, gibt es Gründe, warum der Deutsche Industrie- und Handelstag dem Genossen der Bosse einen „respektablen Mut zur Veränderung“ bescheinigte.
Erstens: Schröder beschleunigt das Tempo der Demontage des „Sozialstaates“. Zweitens: Schröder nimmt keine besondere Rücksicht mehr auf die Gewerkschaften. Natürlich wird die SPD-Führung weiterhin versuchen, ihre Sozialkürzungen mit Hilfe der Gewerkschaftsspitze über die Bühne zu bringen. Allerdings nehmen sie es verstärkt in Kauf, dass ihr „Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit“ in Trümmern liegt und sie sich größerer gewerkschaftlicher Gegenwehr gegenüber sehen. Darum frohlockte das unternehmernahe Handelsblatt im Kommentar vom 5. März unter dem Titel „Wendepunkt“: „Endlich, so möchte man ausrufen, endlich ist dieser ganze Konsenskrampf beendet!“
In der heutigen innerparteilichen Auseinandersetzung entscheidet sich nicht die zukünftige Ausrichtung der SPD. Die Würfel sind längst gefallen. In den neunziger Jahren hat sich die SPD gewandelt – von einer Arbeiterpartei mit bürgerlicher Führung in eine durch und durch bürgerliche Partei. Nach der Regierungsübernahme 1998 rief Schröder Lafontaine bei dessen Rücktritt im Frühjahr 1999 hinterher: „Ich lasse mit mir keine Politik gegen die Wirtschaft machen.“
Die zahmen, zahnlosen Reaktionen der vermeintlichen Parteilinken bestätigen die Wandlung der SPD nachdrücklich. Die so genannte Parlamentarische Linke hält Fraktionschef Müntefering den Rücken frei. Die Jusos sind nur noch ein Karriere-Sprungbrett. Die „Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen“ unter Ottmar Schreiner sorgt sich lediglich darum, die einstigen Stammwähler bei der Stange zu halten. Ohne großen Erfolg: Bei den letzten Landtagswahlen büßte die SPD bei den ArbeiterInnen in Niedersachsen um 16, in Hessen um 15 Prozentpunkte ein, bei den Angestellten lagen die Verluste bei 13 Prozentpunkten. Die Mitgliedschaft ging von mehr als 937.700 im Jahr 1990 auf 693.854 Ende 2002 zurück. Die SPD-Unterstützung fiel im Januar diesen Jahres laut ZDF-Politbarometer auf ein Rekordtief von 25 Prozent ab.

PDS – keine Alternative zur SPD

„Wir haben rot gewählt, aber wir haben schwarz bekommen.“ Für diesen Satz einer Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes gab es am 2. April bei der Berliner Warnstreik-Kundgebung den meisten Applaus. Gemeint waren SPD und PDS, die seit den jüngsten Wahlen in der Bundeshauptstadt den Senat stellen. Seitdem wurde der Flächentarifvertrag ausgehebelt, die Lernmittelfreiheit abgeschafft und der Beschluss gefasst, den Anteil der Kitas in Privateigentum von einem auf zwei Drittel zu erhöhen.
Die Regierungsbeteiligungen 1998 in Mecklenburg-Vorpommern und 2001 in Berlin markierten qualitative Schritte bei der Rechtsentwicklung der PDS. Ohne Basis im Westen wird die Politik der Partei von den Minister- und Senatorenposten in zwei von sechs ostdeutschen Ländern bestimmt.
Der Parteitag von Gera nach der Pleite bei den Bundestagswahlen leitete keine Wende ein. Da Gabi Zimmer und die Vorstandsriege der PDS ihren Frieden mit der Marktwirtschaft geschlossen haben und die Parteibasis zu schwach und perspektivlos ist, gelingt es der PDS bei Protesten wie gegen den Irak-Krieg oder gegen den Sozialkahlschlag nicht, über eine bloße Präsenz hinauszukommen und realen Einfluss zu nehmen.

ArbeiterInnen brauchen eine eigene Partei

Während die Kapitalistenklasse heute mit CDU, FDP, SPD und Grünen gleich mehrere Parteien zu ihren Diensten hat, sind die „Arbeiter ohne Partei“, wie Michael Kuntz seinen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 19. April überschreibt. Auch wenn die SPD schon vor beinahe hundert Jahren zur Arbeiterpartei mit bürgerlicher Führung wurde, (die nur gezwungen war, ihre Basis in der Arbeiterklasse zu berücksichtigen), stellt Kuntz trotzdem richtigerweise fest, dass „sich Verdrossenheit an der sinkenden Wahlbeteiligung ablesen lässt, aber auch am inneren Zustand jener Partei, die sich sozialdemokratisch nennt und sich mehr als ein Jahrhundert lang den Interessen des ‚kleinen Mannes‘ verbunden fühlte.“
Der Aufbau einer neuen Arbeiterpartei ist das Gebot der Stunde. Die Arbeiterklasse braucht eine Partei, die ihre Interessen artikuliert, konsequent den Kampf aufnimmt gegen Profitstreben und Kriegstreiberei und diesen Kampf auf die politische Ebene trägt.

Hält die Gewerkschaft an der SPD fest?

Eine neue Arbeiterpartei fällt nicht vom Himmel. Die Herausbildung einer unabhängigen politischen Interessenvertretung für Lohnabhängige, Erwerbslose, Jugendliche und RentnerInnen wird ein längerer Prozess sein. Voraussetzung dafür ist ein höheres Niveau von Klassenkämpfen. Voraussetzung ist allerdings auch der bewusste Bruch der Gewerkschaften mit der SPD.
Bislang versucht die Gewerkschaftsbürokratie, die eigene Mitglied- und Anhängerschaft um jeden Preis an die SPD zu binden. Auf jede kritische Äußerung folgt der Nachsatz: Trotz alledem haben wir keine Alternative zur Sozialdemokratie. So erklärte der Vorsitzende der IG Metall, Klaus Zwickel, auf der Bundesjugendkonferenz Anfang April in Wuppertal: Es gebe „keine Option für eine andere Mehrheit, die unserer reformpolitischen Vorstellung näher kommt, als die jetzige Regierung.“
Allerdings stieß er damit auf heftige Empörung, die in der Aussage von Tim Hindersmann aus Hannover gipfelte, dass die SPD längst keine Arbeiterpartei mehr sei. Diese Erkenntnis setzt sich – nicht nur bei der Gewerkschaftsjugend – allmählich durch. Außerdem wächst die Bereitschaft, den Konflikt mit der SPD in der Regierung einzugehen: „Wir brauchen keine schwammigen Aussagen mehr, sondern müssen raus auf die Straße, und zwar gegen die Regierung“, wie Andreas Neulist von der IG-Metall-Jugend aus Frankfurt am Main forderte. Auch wenn Zwickel, Sommer und Co versuchen, auf die „Agenda 2010“ mit angezogener Handbremse zu reagieren, bietet die enorme Wut und Kampfbereitschaft in den Betrieben und Gewerkschaften gute Möglichkeiten, den Konflikt zwischen Gewerkschaften und SPD zu forcieren und Unterstützung für die Idee einer neuen politischen Kraft gegen die Bosse und Bänker zu gewinnen.

Ansätze für eine neue Arbeiterpartei

Es wird eine Reihe verschiedener Ausgangspunkte für das Entstehen einer neuen Arbeiterpartei geben. Ansätze sind die Anti-Kriegs-Bewegung, die Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung, die Erwerbsloseninitiativen und vor allem die Stimmung gegen Hartz, Rürup und Schröders Sozialkahlschlag. Auf Basis dieser Kämpfe wird vermehrt der Wunsch aufkommen, sich auch auf der politischen Ebene einzumischen.
Möglich, dass KollegInnen, die im Arbeitskampf stehen, Gewerkschaftslinke, die sich mit der arbeiterfeindlichen Politik der SPD nicht länger abfinden oder aber AktivistInnen, die sich gegen kommunale Kürzungen zur Wehr setzen, sich zusammentun, und bei einer der nächsten Wahlen eigene KandidatInnen aufstellen.
Wahrscheinlich, dass es zu solchen Initiativen zunächst vereinzelt auf lokaler Ebene kommt. Letztendlich drücken Projekte wie Attac oder die Sozialforen das Bedürfnis aus, sich links von Rot-Grün und PDS zu engagieren (obgleich gewerkschaftliche AktivistInnen hier bislang nicht das Gewicht haben, das ihrer Rolle entsprechen würde). So ist es zum Beispiel nicht ausgeschlossen, dass aus dem gegenwärtig entstehenden Berliner Sozialforum angesichts der rigorosen Rotstiftpolitik unter SPD und PDS eine eigenständige Liste bei den nächsten Wahlen hervorgeht.
Allerdings schwingt bei Attac, bei den Sozialforen und bei den Jugendprotesten derzeit eine allgemeine Skepsis gegenüber Parteien mit, die auf die Erfahrungen mit SPD, PDS und Grünen zurückzuführen ist, vorübergehend aber erste konkrete Schritte auf dem Weg zu einer neuen Arbeiterpartei verzögern könnte.
An den Ansätzen werden sich auch Mitglieder von SPD und PDS beteiligen, jedoch nicht die treibende Kraft darstellen. Neben bekannten GewerkschaftsfunktionärInnen könnten sich vorübergehend auch prominente Einzelpersonen an die Spitze stellen. Darunter vielleicht auch jemand wie Oskar Lafontaine, der sich zwar auf dem Boden des Kapitalismus bewegt, aber die Krise des Systems mit anderen „keynesianistischen“ Maßnahmen managen möchte.
Noch liebäugelt Lafontaine damit, zu einem Kristallisationspunkt für eine Opposition innerhalb der SPD zu werden. Es ist aber denkbar, dass er, sobald reale Ansätze links von der SPD Gestalt annehmen, dort in Erscheinung treten könnte. Das ist auch für jemanden wie Gregor Gysi und andere nicht auszuschließen. Internationale Prozesse Initiativen zu einer neuen Arbeiterpartei in einem Land würde eine mächtige Ermutigung für kämpferische Beschäftigte und linke AktivistInnen in vielen anderen Ländern bedeuten. Britannien ist unter Tony Blairs „New Labour“ international ein Vorreiter für neoliberale Politik unter Sozialdemokraten geworden („Thatcherismus ohne Thatcher“).Vielleicht könnte Britannien aus diesem Grund auch zum Vorreiter einer Bewegung gegen diese Linie und für eine neue Interessenvertretung der Arbeiterklasse werden. In den Gewerkschaften hat sich ein offener Streit an der Frage der weiteren Finanzierung der Labour Party entzündet. In der Gewerkschaft der Feuerwehrleute (FBU) haben sich bereits 80 Prozent der Mitglieder für ein Ende dieser Mittelverwendung ausgesprochen.
In der Anti-Kriegs-Bewegung warf George Galloway, einer der letzten Labour-Linken im Unterhaus, die Frage auf, ob es nicht zu einer „Neugründung von Labour unter sozialistischen Vorzeichen“ kommen sollte. Auch wenn diesen Worten bislang keine Taten folgten, ist das eine wichtige Entwicklung in Richtung neuer Arbeiterpartei. Es ist bezeichnend, dass das bürgerliche Establishment darum bemüht ist, Galloway öffentlich zu diskreditieren, indem ihm Verbindungen zu Saddam Hussein vorgeworfen werden (Spiegel online vom 22. April).

Notwendigkeit sozialistischer Ideen

Am Beginn wird eine neue Arbeiterpartei wahrscheinlich keinen klar antikapitalistischen, geschweige denn explizit sozialistischen Charakter annehmen. Da der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten in Osteuropa und die bürgerliche Propagandaoffensive vor zehn Jahren das Bewusstsein in der Arbeiterbewegung stark zurückgeworfen hat, ist davon auszugehen, dass der gemeinsame Nenner für neue politische Ansätze zunächst die Ablehnung von Lohnraub, Entlassungen und Sozialabbau sein wird (obgleich die Offenheit für antikapitalistische Ideen schon gewaltig gestiegen ist). Eine neue Massenpartei der Arbeiterklasse, oder erste konkrete Ansätze dafür, wären ein großer Fortschritt, selbst wenn diese kein sozialistisches Programm vertreten würden. Sie würde den Rahmen dafür bieten, Diskussionen zu ermöglichen, gemeinsam Kämpfe zu führen und zu bilanzieren und aus diesen Erfahrungen heraus die nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Um den Kapitalismus zu stürzen und durch eine sozialistische Demokratie zu ersetzen, bedarf es jedoch einer revolutionär-sozialistischen Partei mit massenhafter Unterstützung. Darum baut die SAV eine solche revolutionär-sozialistische Partei auf. Darum werden die Mitglieder der SAV aber auch nicht nur konstruktiv mitarbeiten bei der Schaffung einer neuen breiten Formation der Arbeiterklasse, sondern gleichzeitig in einer solchen Organisation für antikapitalistische Schlussfolgerungen und für ein konsequent sozialistisches Programm eintreten.