„Corbynomics“

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Zur Wirtschaftspolitik des neuen britischen Labour Vorsitzenden Jeremy Corbyn

Der Internationale Währungsfonds (IWF) ruft nach Staatsinterventionen, um die kranke Weltwirtschaft zu stimulieren. Und viele auf der Linken schlagen ebenso keynesianische Politik vor. Bedeutet das, dass der IWF eine von Jeremy Corbyn geführte Regierung in Großbritannien begrüßen würde? Falls nicht – warum nicht? Dieser Artikel befasst sich mit den Zusammenhängen von Wirtschaft und Politik.

von Hannah Sell

Seit den 1980ern hatte der Neoliberalismus in den Wirtschaftswissenschaften die Vorherrschaft errungen. Jetzt, acht Jahre nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, schreiben zumindest einige kapitalistische Kommentatoren seinen Nachruf. Zu dieser Schlussfolgerung kamen sie aufgrund des Appells des IWF – des einstigen Propheten des Neoliberalismus für Jahrzehnte – nach „kraftvollem Handeln“, um aus der „Fahrspur des Niedrigwachstums“ heraus zu kommen, die zu öffentlicher Unzufriedenheit führe.

Ganz oben auf seiner Liste möglicher Aktionen ist die Erhöhung von Staatsinvestitionen durch öffentliche Bauvorhaben. Unter dem Vorbehalt „finanzpolitischer Spielräume“ argumentiert der IWF, dass die sich auf einem Rekordtief befindenden Zinsen eine hervorragende Möglichkeit böten, öffentliche Investitionen zu fördern und die Infrastruktur auszubauen. Das ist ein Ruf nach keynesianischen Maßnahmen – allgemein definiert als Wirtschaftseingriffe der Regierung zur Stimulation der Nachfrage mit dem Ziel, die kapitalistische Krise zu lindern oder sogar zu verhindern.

Auf Basis dieser Wendung haben einige auf der Linken geschlussfolgert, dass sich der politische Spielraum für eine linke Regierung, keynesianische Politik zu betreiben, im Vergleich zur Vergangenheit dramatisch vergrößert habe. Sie behaupten, dass Jeremy Corbyn im Falle eines Wahlsieges viel freier als bisherige linke Labour-Premierminister sei, seine Politik durchzusetzen. So argumentierte beispielsweise Paul Mason: „Wir stehen am Ende des neoliberalen Zeitalters, und als wirtschaftliches Modell ist der Neoliberalismus schon kaputt.“ Außerdem sei „heute die Zeit reif für die Idee, dass der Neoliberalismus vorüber ist; dass der Staat den Markt gestalten, steuern und manchmal unterdrücken sollte; dass sich die Austerität selbst ruiniert; dass mehr Kriegseinsätze nicht das Chaos und die Ungerechtigkeit einrenken können, die Bush und Blair in den Nahen Osten gebracht haben.“ („The Parallels Between Jeremy Corbyn And Michael Foot Are Almost All False“, The Guardian, 15. August)

In Bezug auf die potenzielle öffentliche Unterstützung für eine von Corbyn geführte Labour-Regierung liegt Mason zu hundert Prozent richtig. Aber er meint mehr als das. Er geht davon aus, dass es auch weniger Widerstand aus dem kapitalistischen Staat gegen eine solche Regierung geben würde: „[…] die Herrschaft des Gesetzes ist jetzt stärker. Jeder in der Bewegung um Tony Benn [Anführer des linken Labour-Flügels in der 1970ern und 1980ern; Anm. d. Ü.] spürte, dass Großbritanniens Rechtsinstitutionen so schwach, seine Polizei, Sicherheitskräfte und Justiz so sehr politisiert, seine  Verfassung so formbar waren, dass das Szenario aus Chris Mullins Roman ‘A Very British Coup’ keine Paranoia war. Obwohl der ‚geheime Staat‘ heute groß ist, steht er unter umso stärkerer parlamentarischer Kontrolle. Sollte eine linke Labour-Regierung – entweder alleine oder in Koalition mit linken Nationalisten – an die Macht kommen, könnte sie wahrscheinlich relativ frei von politischer Sabotage seitens des Staatsapparates regieren.“

Doch diese rosigen Zukunftsaussichten sind nicht durch die Realität der letzten Monate gestützt. Die Beschimpfungen, mit denen Jeremy Corbyn von Seiten der kapitalistischen Medien (nicht zuletzt der staatlichen BBC), der Tories (Konservative Partei) und des pro-kapitalistischen Flügels der Labour Party überschüttet wurde, lassen nicht die geringste Akzeptanz einer möglichen von Corbyn geführten Labour-Regierung erwarten. Im Gegenteil: Es ist klar, dass sie es, wie Tony Blair es ausdrückte, als ein „zu gefährliches Experiment“ betrachten würden und entschlossen wären, dieses zu verhindern.

Auch die Haltung der kapitalistischen Gerichte gibt keinen Hinweis auf Neutralität. In einem verzweifelten Versuch, die Wahl Corbyns zu untergraben, haben drei Richter des Berufungsgerichts einstimmig das Urteil aufgehoben, das 130.000 Menschen, die seit dem 12. Januar 2016 in die Labour Party eingetreten sind, die Teilnahme an den Wahlen der Parteiführung gestattet hatte. Ein Hinweis auf das Fehlen wirklicher „Neutralität“ der Gerichte ist, dass einer dieser drei Richter, Lord Justice Sales, im Jahre 1997 von Tony Blair persönlich als Rechtsberater der Regierung eingesetzt wurde und der bestbezahlte Anwalt der New-Labour-Regierung war. Er war es, der die juristische Rechtfertigung für Blairs Einspruch gegen eine Untersuchung des Irakkrieges übernahm.

Schattenfinanzminister John McDonnell hat zusammengefasst, was hinter der Feindschaft gegen ihn und Corbyn steckt: „Seid euch darüber im Klaren, dass es nichts mit Jeremy Corbyn als Person zu tun hat, sondern gegen euch gerichtet ist. Die Herrschenden fragen euch damit, wie ihr es wagen konntet, einen Sozialisten zum Führer der Labour Party zu wählen. Das ‚eine Prozent‘ fordert die ‚99 Prozent‘ auf, nicht aus der Reihe zu tanzen und wieder zu kuschen. Sie wollen wieder zurück zu einer Politik, die nur eine Rotation der politischen Eliten ist, losgelöst von der echten Welt aber weitgehend dominiert von der City of London (Londoner Bankenviertel, A.d.Ü.) den Finanzmärkten und dem Kapital.“ (The Guardian, 13. September)

Angst vor einer Massenbewegung

Warum ruft einerseits der IWF nach keynesianischen Maßnahmen während andererseits Jeremy Corbyn für seine dementsprechenden Vorschläge angegriffen wird? Seine Politik – mit seinen Forderungen nach einem Mindestlohn von zehn Pfund die Stunde, massenhaftem kommunalem Wohnungsbau und freier Bildung – hat hunderttausende Menschen begeistert. Tatsächlich besteht diese Politik aus einem sehr begrenzten keynesianischen Programm, das wir (die Socialist Party) unterstützen, während wir gleichzeitig dafür argumentieren, weiter zu gehen. Labours Politik unter Michael Foot ging damals deutlich über die von Jeremy Corbyn heutzutage hinaus. Das Wahlprogramm von 1983 forderte beispielsweise „die Rückkehr zum öffentlichen Eigentum der öffentlichen [Güter], die von den Tories ausgegliedert wurden, bei Entschädigung von nicht mehr als dem, was bei der Privatisierung bezahlt wurde.“ Und selbst dieses Wahlprogramm von 1983 war viel begrenzter als die alternative Wirtschaftsstrategie, für welche die Labour-Linke, einschließlich Jeremy Corbyn, damals eingetreten ist. Ihr Programm beinhaltete die Überführung der Finanzinstitute in Gemeineigentum.

Jeremy Corbyn fordert heute unter anderem die Wiederverstaatlichung des Nationalen Gesundheitssystems (NHS) und der Eisenbahn (schrittweise mit dem Ablauf der geltenden Konzessionen), aber nicht einer der vielen anderen Industrien und Dienstleistungen, die seit den frühen 1980ern privatisiert wurden. Er fordert nicht die Verstaatlichung der Banken. Übrigens ist seine Forderung nach einer staatlichen Investitionsbank, die jährlich 500 Milliarden Pfund in High-Speed-Internet, Energie, Verkehr und Wohnungen investiert, genau die Art von „kraftvollem Handeln“, von dem der IWF redet.

Der Punkt ist: Wenn der IWF zum Handeln aufruft, um das Wachstum „öffentlichen Unmutes“ einzudämmen, will er damit eine Bewegung verhindern, die das kapitalistische System bedrohen könnte. Der IWF versteht, zumindest grundlegend, dass das enorme Anwachsen von Ungleichheit in Verbindung mit der Verarmung der Mehrheit eine Revolte gegen das von ihm verteidigte System heraufbeschwört. Die Kapitalistenklasse hat Angst, dass die Bewegung für Corbyn genau dazu führen könnte. Sie haben Recht. Es ist der Ausdruck der gewaltigen angestauten Wut, die Millionen aufgrund ihrer Erfahrung mit dem Kapitalismus in den letzten acht Jahren spüren. Die Löhne sind in Großbritannien um mehr als zehn Prozent gefallen – in den entwickelten kapitalistischen Ländern gab es nur in Griechenland einen stärkeren Fall – während öffentliche Dienste und Leistungen niedergemetzelt wurden. Eine Million Menschen sind heute auf Suppenküchen angewiesen.

Die Kapitalistenklasse fürchtet zurecht, dass die Welle, die Corbyn in die Führung der Labour Party gespült hat, nur der Anfang sein könnte. Die gestiegene Unterstützung für eine von Corbyn geführte Labour-Regierung, insbesondere wenn ihr Amtsantritt vor dem Hintergrund einer erneut vertieften Wirtschaftskrise statt fände, könnte sie dazu zwingen, viel weiter zu gehen, als Corbyns derzeitiges  bescheidenes Programm vorsieht. Sie könnte sich gezwungen sehen, sozialistische Maßnahmen zu ergreifen, welche die kapitalistische Herrschaft bedrohen. Es ist deshalb nur logisch, dass die kapitalistische Klasse den bösartigsten Widerstand selbst gegen die bescheidensten politischen Vorstöße Jeremy Corbyns leistet.

Druck auf linke Regierungen

So wie sie heute mit Händen und Füßen verhindern wollen, dass Corbyn Premierminister wird, würden sie alles tun, um seine Regierung zu sabotieren, wenn sie an der Macht wäre. Es wäre naiv, davon auszugehen, dass der enorme Druck, zu kapitulieren und die Austeritätspolitik zu akzeptieren, der auf die Syriza-Regierung in Griechenland – nicht zuletzt durch den IWF – ausgeübt wurde, nicht auch auf eine linke Regierung in Großbritannien ausgeübt werden würde. Der Status Griechenlands als eine der schwächsten Volkswirtschaften der Eurozone war sicherlich ein wichtiger Hebel, den der internationale Kapitalismus nutzte, um Alexis Tsipras und Co. zu drangsalieren; aber das bedeutet nicht, dass der internationale Kapitalismus lediglich mit den Schultern zucken würde, wenn Großbritannien, die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, eine linke Regierung wählen würde.

Das bedeutet keinesfalls, dass dort keine sozialistische Politik durchgeführt werden könnte. Bei einer entschlossenen Bewegung der Arbeiterklasse und einer scharfsichtigen Führung wäre die Kapitalistenklasse unfähig, eine sozialistische Regierung von ihrer Politik abzuhalten. Auch in Griechenland wären die Ereignisse komplett anders verlaufen, wenn die Führung von Syriza, anstatt zu kapitulieren, dieselbe Entschlossenheit an den Tag gelegt hätte wie die griechische Arbeiterklasse und die Armen.

Der Druck wäre vergleichbar mit der Erfahrung der von François Mitterand geführten Regierung der Parti Socialiste in Frankreich im Jahre 1981. Durch eine Welle des Enthusiasmus an die Macht gespült, wurde die Wahl Mitterands auf den Straßen gefeiert. Das Programm der Regierung beinhaltete einen Anstieg des Mindestlohns um zehn Prozent, die Einführung der 39-Stunden-Woche, Rentenerhöhungen und die Verstaatlichung einer Reihe von Großkonzernen und Banken. Anfangs wurden einige dieser Maßnahmen umgesetzt, aber die Regierung geriet unter den umfassenden Druck des französischen und internationalen Kapitalismus und der Märkte. Nach nur einhundert Tagen im Amt machte die Regierung eine Kehrtwende.

Die Financial Times berichtete damals: „Die französische Regierung hat eine Kampagne begonnen, um die Ängste der Arbeitgeber vor einem sozialistischen Regime zu besänftigen und Investitionen zu fördern. Es stehe laut Mitterand nicht zur Debatte, sich in die Entscheidungsmacht der Unternehmensspitzen einzumischen oder ihnen ein Veto gegen Kündigungen aufzuerlegen.“ (8. September 1981) Das war der Beginn eines hastigen Rückzugs. Nach Monaten der Kapitalflucht wertete die Regierung zwei Mal die Währung ab. Im Juni 1982 wurden die Gehälter eingefroren und die öffentlichen Ausgaben um zwanzig Millionen Francs gekürzt – dies war Teil einer grundlegenden Hinwendung zu dem, was heute als Austeritätspolitik bezeichnet wird.

Von 1974 bis 1976 versuchte Harold Wilsons Labour-Regierung in Großbritannien – deutlich zurückhaltender als Mitterand – lediglich die Besteuerung der Großunternehmen zu erhöhen. Die Klasse der Kapitalisten führte eine riesige Kampagne dagegen, einschließlich der Androhung eines Kapitalstreiks. Das Ergebnis war, dass die Pläne so sehr verwässert wurden, dass sie damit effektiv zunichte gemacht wurden.

Das Zeitalter der Neoliberalismus

Paul Mason argumentiert, dass diese Erfahrungen heute weniger relevant sind, weil sie sich zu Beginn der weltweiten Wende hin zum Neoliberalismus ereigneten, während sich diese Ära derzeit im Todeskampf befände. Das zeugt von Unverständnis der Situation. Es ist wahr, dass Mitterands Regierung genau zu der Zeit an die Macht kam, in der sich der Weltkapitalismus in eine Phase begab, die heute als Neoliberalismus bezeichnet wird. Weltweit machte sich die Kapitalistenklasse daran, die Zugeständnisse an die Arbeiterklasse aus der Periode des wirtschaftlichen Nachkriegsaufschwungs (1950-1973) wieder zurück zu nehmen.

Die keynesianische Politik der Nachkriegsperiode wurde über Bord geworfen und durch das neue Mantra des Neoliberalismus ersetzt, der die Profite dadurch retten wollte, dass Löhne gesenkt und öffentliche Dienstleistungen privatisiert bzw. abgebaut wurden. Dieser Angriff auf die Arbeiterklasse ging einher mit technologischen Entwicklungen, welche eine massive Globalisierung und einen dramatischen Anstieg der Macht des Finanzkapitalismus beförderten. Gleichzeitig bedeutete die Stagnation und später der Zusammenbruch des Stalinismus einen wichtigen Sieg für den Kapitalismus.

Nach Jahrzehnten des Neoliberalismus haben sich die Kräfteverhältnisse lange Zeit zugunsten der Kapitalistenklasse entwickelt. Es gibt eine Reihe politischer Reformen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit, welche die Kapitalisten einst widerwillig akzeptierten, heute aber als inakzeptabel radikal betrachten. Beispielsweise hält Jeremy Corbyn gegen den energischen Widerstand des rechten Labour-Parteiflügels an der Forderung nach kostenloser Hochschulbildung fest. Allerdings wurde diese Forderung, die heute als „extrem“ dargestellt wird, von allen in der Partei akzeptiert – bis New Labour [dies bezeichnet die pro-kapitalistische Ausrichtung der Labour Party unter dem Vorsitz Tony Blairs seit Anfang der 1990er; Anm. d. Ü.] 1998 erstmals Studiengebühren einführte. Damals warnte John Major, der vorherige Premierminister aus den Reihen der konservativen Tories, Tony Blair davor, durch die Einführung der Studiengebühren zu weit zu gehen.

Innerhalb der letzten dreißig Jahre hat sich der Anteil der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum dramatisch verringert. So hat sich in Großbritannien der Anteil des reichsten Prozents an den Nettoeinkommen von vier Prozent im Jahr 1978 auf zehn Prozent im Jahr 2000 erhöht. In starkem Kontrast dazu ist der Anteil der ärmsten drei Fünftel am Nationaleinkommen von 1977 bis 2008 von vierzig auf 33 Prozent gesunken (vgl. Steward Lansley: The Cost of Inequality). Seitdem hat sich diese Entwicklung noch verschärft. Laut Oxfam besitzen die 62 reichsten Menschen des Planeten so viel wie die ärmsten fünfzig Prozent der Weltbevölkerung. Dies wurde durch massive Angriffe auf die Arbeiterklasse und die Armen erreicht. Arbeit wurde prekarisiert. Die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen hat in massivem Ausmaß stattgefunden. Das Mantra der Austerität herrscht vor.

Der Wechsel von keynesianischer Politik zum Neoliberalismus war nicht das Ergebnis irgendeines abstrakten „politischen Wandels“ – so funktioniert der Kapitalismus nicht. Er ist ein blindes System, das von der Profitmaximierung angetrieben wird. Es waren das Ende des ökonomischen Nachkriegsaufschwungs und der daraus resultierende Rückgang der Profite, die den Kapitalismus dazu getrieben haben, den Keynesianismus aufzugeben. Anders, als es sich viele keynesianische Ökonomen einbilden, war es nicht der Keynesianismus, der den Nachkriegsaufschwung herbeigeführt hat. Es war vielmehr eine Kombination von Faktoren.

Die gewachsene Stärke der Arbeiterklasse am Ende des Zweiten Weltkriegs kombiniert mit der damaligen Stärke der (wenn auch grob deformierten) Planwirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas zwangen die Kapitalistenklasse, Zugeständnisse an die Arbeiterklasse zu machen. Die systemische Bedrohung des Kapitalismus, die vom Stalinismus ausging, zwang die großen kapitalistischen Mächte, die Widersprüche untereinander im Zaum zu halten; so kam es dazu, dass Japan und Westdeutschland unter der Aufsicht und teilweisen Finanzierung durch die USA als Weltwirtschaftsmächte wiederaufgebaut wurden.

Außerdem gab es für eine gewisse Periode hohe und nachhaltige Nachfrage in Kombination mit neuen Methoden der Massenproduktion (die vielfach schon seit Jahrzehnten existierten, aber erst nach den Zerstörungen der alten Industrie durch den Krieg erfolgreich eingeführt werden konnten), die eine anhaltende Investitionskonjunktur und hohe Profite trotz erhöhter Besteuerung stimulierten. Dieses kurze „goldene Zeitalter“ des Kapitalismus war eine historische Ausnahme. Nach seinem Ende haben die Kapitalisten ihre Profite erfolgreich auf Kosten der Arbeiterklasse gesichert.

Aber sie konnten dennoch nicht die „Gesundheit“ ihres Systems erhalten. Im Gegenteil haben sich die Widersprüche verschärft und schließlich zu der verheerenden Wirtschaftskrise geführt, die 2008 begann und von der sich der Kapitalismus noch nicht erholt hat. Anhaltende Stagnation ist heute das beste, worauf die Kapitalisten hoffen können. Sie herrschen über ein immer schlimmer dahinsiechendes System. Die Periode vom Ende des Nachkriegsaufschwungs bis zur Krise von 2008 war gekennzeichnet durch allgemein niedrigeres Wachstum und das Schrumpfen der Produktion in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Das Wachstum der Produktivität (Produktion pro Arbeitskraft) – ein wesentlicher Indikator für die „Gesundheit“ des Kapitalismus – ist seit Mitte der 1970er gering geblieben.

Keynesianismus für die Reichen

Die Rettung der Profite erfolgte durch die Erhöhung des Anteils der Kapitalistenklasse am gesellschaftlichen Reichtum auf Kosten der zur Arbeiterklasse gehörenden Mehrheit. Dies hat das ohnehin schon bestehende Problem mangelnder Nachfrage noch mehr verschärft, weil die Arbeiterklasse aufgrund der Senkung ihrer Lebensstandards noch weniger in der Lage war, die Güter, die sie kollektiv produziert hat, „zurückzukaufen“. Dies schien eine Zeitlang durch eine Flutwelle billiger Kredite überwunden werden zu können, die den ArbeiterInnen Ausgaben weit über ihre Verhältnisse hinaus ermöglichte. Die dadurch entstandene riesige Blase war verbunden mit dem rasanten Wachstum der Finanzmarktspekulation, zu der die Kapitalistenklasse in Erwartung profitabler Anlagemöglichkeiten zunehmend Zuflucht nahm. Das Ergebnis war eine Reihe von Blasen, welche – und davor haben wir immer wieder gewarnt – irgendwann platzen und eine katastrophale Weltwirtschaftskrise nach sich ziehen würden.

Anders als nach dem Crash von 1929 haben die kapitalistischen Kräfte nach 2008 zunächst gemeinsame Anstrengungen unternommen, um die Auswirkungen der Krise abzufedern. Regierungen verstaatlichten Banken, um ihren Zusammenbruch zu verhindern. Eine extreme Niedrigzinspolitik wurde betrieben, während riesige Geldsummen in die Wirtschaft gepumpt wurden. Zwischen 2008 und 2015 kaufte die US-Zentralbank Federal Reserve Anleihen im Wert von 3,7 Billionen Dollar. In Großbritannien pumpte die Regierung zwischen 2009 und 2015 durch quantitative Lockerung 375 Milliarden Pfund in die Wirtschaft; diesen August (2016) sagte sie den Kauf von weiteren Staatsanleihen im Wert von sechzig Milliarden Pfund zu.

Wenn die 375 Milliarden Pfund an die Bevölkerung gegeben worden wären, hätte jede Familie in Großbritannien 24.000 Pfund erhalten. Stattdessen ging das Geld überwiegend an das „eine Prozent“, genau genommen an 0,1 Prozent. Dieser „Keynesianismus für die Reichen“ ist seit 2010 verknüpft mit einer neuen und ungezügelten Welle des Neoliberalismus für den Rest der Bevölkerung. Während sich die Aktienmärkte erholen und die Profite emporschnellen, haben die 0,1 Prozent die Wirtschaftskrise zum Anlass genommen, ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum auf Kosten der Mehrheit weiter zu vergrößern. Die Austerität hat die grundlegende Krise des Kapitalismus verschlimmert, aber – zumindest auf kurze Sicht – die Profite der Kapitalistenklasse gesteigert.

Das Dilemma der Wirtschaftsankurbelung

Heute, angesichts sinkender globaler Wachstumsprognosen und in Furcht vor einem neuen Stadium der tiefen Krise, haben die kapitalistischen Hauptmächte ihre verfügbaren Mittel im bisherigen Krisenverlauf überwiegend ausgeschöpft. Deshalb sucht der IWF verzweifelt nach neuen Lösungen, wobei er sogar traditionelle keynesianische Maßnahmen in Betracht zieht. Die kapitalistischen Regierungen probieren nun widerwillig die Ratschläge des IWF aus. Viele Keynesianer schauen nun wohlwollend zurück auf den New Deal in den USA der 1930er als Ausgangspunkt dessen, was sie heute für notwendig erachten. Damals waren die USA das einzige kapitalistische Land mit genügend „Fettreserven“, um derartige Maßnahmen stemmen zu können. Obwohl die USA auch heute noch das mächtigste kapitalistische Land sind, sind sie inzwischen deutlich schwächer und können nicht ohne weiteres ein ernsthaftes keynesianisches Programm umsetzen.

Jeder Versuch, das „eine Prozent“ durch Steuererhöhungen für derartige Maßnahmen zur Kasse zu bitten, würde den erbitterten Widerstand der Kapitalistenklasse hervorrufen. Die „Verstaatlichung der Schulden“, welche die Regierungen der USA und anderer Länder weltweit zur Verhinderung des Kollapses des Finanzsystems vorgenommen haben, hat zu einer erheblichen Staatsverschuldung geführt. Jeder Impuls, der stark genug wäre, um einen realen Effekt auf die Wirtschaft zu haben, würde einen erheblichen Beitrag zu weiterer Verschuldung leisten – deren größter Teil niemals beglichen werden könnte. Es bestünde die ernsthafte Gefahr, dass die Märkte unverzüglich jedes Land bestrafen würden, das ernsthaft versuchen würde, die Wirtschaft anzukurbeln – selbst wenn damit eine neue internationale Finanzkrise losgetreten werden würde.

Außerdem will keine nationale Regierung (einschließlich der USA) die erste sein, die bedeutsame keynesianische Politik auf den Weg bringt – aus Angst davor, dass, nachdem Geld in die Förderung der Nachfrage gesteckt wurde, andere kapitalistische Mächte die Ernte einfahren, indem sie Waren an die Bevölkerung verkaufen. Die Existenz dieses Widerwillens, selbst innerstaatlich die Wirtschaft anzukurbeln, zeigt, wie utopisch die Forderung der Syriza-Regierung in Griechenland nach einem neuen „Marshallplan“ war. Tsipras rief zu einer Schuldenabbaukonferenz auf, „vergleichbar mit derjenigen 1953 in London, auf welcher Deutschland rund sechzig Prozent seiner Schulden erlassen wurden.“ (The Guardian, 10. Dezember 2013) Die USA sind heute viel schwächer als damals – die zur „Rettung“ Griechenlands erforderlichen Summen sind allerdings auch winzig im Vergleich zum Marshallplan. Dieser beanspruchte von 1948 bis 1952 etwa fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes der USA von 1948. Griechenlands Wirtschaft hingegen macht nur etwa 0,3 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts aus!

Die Weigerung der Troika aus IWF, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission, Griechenlands Schulden zu streichen, basierte auf der Angst, das Signal an die ArbeiterInnen in ganz Europa zu senden, dass Widerstand gegen Austerität möglich ist. Es spiegelte aber auch eine Weltlage wieder, in der es nicht mehr eine kapitalistische Supermacht gibt, die die Erde dominiert und dafür eine gewisse Verantwortung übernimmt. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus verschwand auch der „Klebstoff“ der gemeinsamen Bedrohung aller kapitalistischen Länder und wachsende innerimperialistische Rivalitäten wurden entfesselt.

Internationale Perspektiven

Keynesianische Maßnahmen wären ohnehin nicht ausreichend, um die kapitalistische Krise zu überwinden. Keynesianer glauben, dass der Schlüssel zur Überwindung von Krisen die Stimulation der Nachfrage wäre, was wie ein „Kickstarter“ für das System wirken und die Kapitalisten zur Erhöhung ihrer Investitionen anspornen würde. Nun besteht kein Zweifel daran, dass beispielsweise die Tories die wirtschaftliche Krise dadurch verschlimmert haben, dass sie durch ihre brutale Austerität die Nachfrage verringert haben. Wenn sie durch keynesianische Maßnahmen die Löhne der ArbeiterInnen erhöht hätten, hätte das die Situation durchaus entspannt. Es hätte aber nicht notwendigerweise zu nennenswert höheren Investitionen der Kapitalistenklasse geführt. Selbst als in der Periode vor 2008 die Nachfrage durch billige Verbraucherkredite aufgebläht wurde, blieben die Investitionen gering, weil die Kapitalistenklasse keine ausreichenden Profitaussichten hatte.

Schließt das aus, dass die Kapitalistenklasse zukünftig ernsthafte keynesianische Maßnahmen durchführen könnte? Absolut nicht. Angesichts von Massenbewegungen der Arbeiterklasse, die das kapitalistische System bedrohen, kann sich das Kapital gezwungen sehen, eine viel weitreichendere Politik zu akzeptieren. John Maynard Keynes selbst erkannte, dass er seine Theorien entwickelt hatte, um eine Revolution zu verhindern. Nichtsdestoweniger wäre es ein schwerwiegender Fehler, zu glauben, dass die kapitalistische Klasse in Großbritannien und weltweit nicht alles tun würde, um eine von Jeremy Corbyn geführte Regierung an der Durchführung ihres Programms zu hindern. Um dieses erfolgreich durchzuführen würde es außerparlamentarische Aktionen erfordern – die Mobilisierung der Arbeiterklasse für die Unterstützung der Regierungspolitik.

Um die Regierung wirkungsvoll gegen die unvermeidliche Sabotage der Kapitalisten zu verteidigen wäre es nötig, weiter zu gehen. Die Banken und Finanzunternehmen müssten verstaatlicht (und nicht nur auf Kosten der Steuerzahler zugunsten der Kapitaleigner gerettet) und unter demokratische Arbeiterkontrolle und -verwaltung gestellt werden. Dies würde die Kredite sicherstellen, die zur Entwicklung aller Bereiche der Wirtschaft notwendig sind. Es müsste außerdem Kapitalverkehrskontrollen geben und jegliche Kapitalflucht verhindert werden. Solche Maßnahmen würden zweifelsohne auf den erbitterten Widerstand der Kapitalistenklasse stoßen. Staatliches Handeln im Interesse der Arbeiterklasse würde unvermeidlich die Notwendigkeit der Verstaatlichung der Großkonzerne aufwerfen, um die Grundlage für einen demokratischen Produktionsplan – durchgeführt von gewählten VertreterInnen der ArbeiterInnen und der breiten Bevölkerung – zu legen.

Jede Regierung, die eine solche Politik durchführen würde, wäre darauf angewiesen, die Arbeiterklasse zu deren Unterstützung zu mobilisieren und eine internationale Perspektive zu haben – die Zusammenarbeit mit der Arbeiterbewegung anderer Länder zur Entwicklung einer sozialistischen Planung auf internationaler Ebene. In unserer globalisierten Welt würden die großen Gemeinsamkeiten der Kämpfe der Arbeiterklasse in verschiedenen Ländern dafür sorgen, dass solch eine Regierung sehr bald breite Unterstützung gewinnen würde. Wenn etwa eine von Jeremy Corbyn geführte Regierung Brexit-Verhandlungen auf der Basis sozialistischer Politik führen würde, würde das ganz Europa elektrisieren. Eine sozialistische Regierung in irgendeinem europäischen Land, die mit dem Kapitalismus bricht, würde sofort gewaltige Unterstützung von ArbeiterInnen auf dem ganzen Kontinent erfahren, vor allem von denen, die am härtesten von Austerität getroffen sind.

 

Hannah Sell ist führendes Mitglied der Socialist Party in England und Wales. Der Artikel erschien erstmals in der Zeitschrift Socialism Today im Oktober 2016.