Der wahre Leo Trotzki

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1. Die Service-Kontroverse

 Im renommierten Suhrkamp-Verlag erschien kürzlich die 2009 im englischen Original bei Harvard University Press veröffentlichte Trotzki-Biographie des britischen Professors Robert Service in deutscher Übersetzung. Der Verlag bewirbt das Buch mit einem Zitat aus dem Daily Telegraph: „Die beste Trotzki-Biographie, die bisher geschrieben wurde. Es gibt keinen Grund, warum irgend jemand noch eine schreiben sollte.“

Services über 500 Seiten langes Werk hatte aber unmittelbar nach seiner Erscheinung eine breite Kontroverse ausgelöst, denn es steckt voller Fehler und Ungenauigkeiten, unbewiesenen Behauptungen, lässt jede Wissenschaftlichkeit vermissen und trägt eher den Charakter einer antitrotzkistischen Kampfschrift, als einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Leben und Werk des russischen Revolutionärs.

 von Sascha Stanicic

 Im Oktober 2009 erklärte Service bei einer Präsentation seines Buchs in London: „Noch ist Leben in dem alten Kerl Trotzki – aber wenn der Eispickel nicht gereicht hat, ihn endgültig zu erledigen, habe ich das nun hoffentlich geschafft.“ Dieser Ausspruch lässt tief blicken und weist auf die politische Motivation des Biographen hin. Um dieses Ziel zu erreichen, schreckt Service nicht vor Rufmord, Falschdarstellungen und offensichtlichen Lügen zurück. Wir veröffentlichen hier eine Besprechung der Biographie, die der führende britische Trotzkist Peter Taaffe, Generalsekretär der Socialist Party in England und Wales 2009 verfasste und die sich mit den wichtigsten politischen und historischen Aussagen von Service auseinandersetzt. Taaffe und die Socialist Party hatten Robert Service wiederholt zur öffentlichen Debatte eingeladen, ohne dafür auch nur eine Bedingung zu stellen. Ihm wurde selbst angeboten auf einer Konferenz von eintausend AktivistInnen der britischen linken und Arbeiterbewegung ohne einen Konterpart auf dem Podium mit dem Publikum zu diskutieren. Service nahm keine der Einladungen an.

 Services Buch ist Teil einer Reihe von Veröffentlichungen über Leo Trotzki in Großbritannien, die ihn als „verhinderten Stalin“ darstellen und seine politische und moralische Integrität negieren. Dazu gehörten die in den letzten Jahren erschienenen Biographien von Ian Thatcher und Geoffrey Swain. Es ist kein Zufall, dass es seit dem Wiederaufleben antikapitalistischer Diskurse und Bewegungen Ende der 1990er Jahre den Versuch bürgerlicher Wissenschaftler gibt, Trotzki und seine Ideen zu diskreditieren. Dies ist eine Widerspiegelung der Tatsache, dass Trotzkis Ideen nicht nur nicht vergessen sind, sondern eine wachsende Zahl von AktivistInnen, gerade auch von Jugendlichen, sich bei der Suche nach Alternativen zum krisengeschüttelten Kapitalismus verstärkt mit Trotzki und dem Trotzkismus auseinander setzen. Es ist auch kein Zufall, dass es gerade britische Universitäten sind, aus denen heraus solche Machwerke entstehen. Denn gerade in Großbritannien ist die radikale Linke, eine Reihe von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen stark von trotzkistischen Organisationen geprägt.

 Die Veröffentlichung bei Suhrkamp

 Als der Suhrkamp-Verlag eine deutsche Übersetzung der Service-Biographie ankündigte, wendeten sich 14 renommierte Wissenschaftler in einem Brief an den Verlag gegen die Veröffentlichung. Darunter waren der bedeutende Kommunismus-Forscher Hermann Weber, der bekannte Soziologie-Professor Helmut Dahmer, aber auch Wissenschaftler, die für weniger Sympathie mit dem Trotzkismus bekannt sind. Sie bezogen sich auf die Besprechungen der Biographie durch den US-amerikanischen Trotzkisten David North und den Trotzki-Biographen Bertrande Patenaude, die eine Fülle von sachlichen und faktischen Fehlern in Services Text nachgewiesen hatten und zu dem Ergebnis kamen, dass es sich bei dem Buch um „eine Schmähschrift“ handele.

 Diese Intervention führte zwar zu einer Verzögerung der Herausgabe des Buchs – Suhrkamp kündigte an, ein Gutachten einzuholen – aber nicht zu einem Verzicht auf die Veröffentlichung (die nur wenige Korrekturen beinhaltete). Bisher haben weder Suhrkamp, noch Harvard University Press, noch Robert Service selbst die umfangreiche und detaillierte Kritik beantwortet und zu entkräften versucht.

 Neben der in Peter Taaffes Besprechung dargestellten politischen Kritik an Services Machwerk, haben die genannten Rezensenten und Wissenschaftler eine Fülle von faktischen Fehlern aufgedeckt. Diese reichen von falschen Zeit- und Ortsangaben über die nicht zutreffende Behauptung Michail Gorbatschow habe 1988 die Rehabilitierung Trotzkis in der Sowjetunion veranlasst bis hin zu Aussagen über Trotzkis Umgang mit seiner jüdischen Herkunft, die einen antisemitischen Geist atmen. Der Trotzki-Biograph Bertrande Patenaude zählte vier Dutzend solcher Fehler in Services Buch. Das alleine ist ein Hinweis darauf, dass Service bei der Erarbeitung der Biographie keine wissenschaftliche Sorgfalt an den Tag legte, sondern von seiner Zielsetzung – der „literarischen Ermordung“ Trotzkis – getrieben war. Kein Zufall, dass er nur zwei Jahre für die Erarbeitung des Buchs brauchte – ein Zeitraum, der für eine „umfassende“ (Service) wissenschaftliche Biographie über eine der wichtigsten und vielschichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts eindeutig zu kurz ist.

 Service bezeichnet Trotzkis Denken als ein „verwirrtes und verwirrendes Durcheinander“. Gleichzeitig setzt er sich kaum mit Trotzkis Schriften und seinen Ideen auseinander. Da, wo er dies versucht, offenbart er eher, dass er diese Ideen entweder nicht verstanden oder sich gar nicht mit ihnen auseinander gesetzt hat. So zum Beispiel, wenn er Trotzki zuschreibt, dieser habe die Perspektive der Entstehung einer „proletarischen Kultur“ vertreten. Trotzki war ein vielschichtiger Intellektueller, der sich ausführlich mit Fragen der Kultur und Literatur beschäftigte und dazu publizierte und auch in die Kulturdebatten in der jungen Sowjetunion einschaltete. Aber gerade hier vertrat er gegen die Anhänger der Proletkult-Bewegung die Ansicht, dass die Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft immer auch bürgerlich geprägt sein wird und die Entwicklung des Sozialismus zu einer neuen Kultur führen werde, die keinen Klassencharakter mehr tragen würde. Er lehnte den Gedanken einer „proletarischen Kultur“ also ab. In dem Zusammenhang ist es geradezu amüsant, dass Service den mexikanischen Maler Diego Rivera und den französischen Surrealisten André Breton einfach mal verwechselt.

 Trotzki: der herzlose Jude?

 Zwei Aspekte der Verleumdungen Services sind noch von besonderem Interesse: sein permanenter Hinweis auf Trotzkis jüdischen Ursprung, der mit der Behauptung einher geht, Trotzki selber habe versucht diese Herkunft zu verbergen. Und die Darstellung Trotzkis als herzlosen, selbstsüchtigen und unempathischen Menschen.

 Service schreibt nicht offen antisemitisch, aber es finden sich Sätze, wie folgende: Trotzki „war von herausfordernder Klugheit und freimütig in seinen Meinungen. Niemand konnte ihn einschüchtern. Trotzki hatte diese Eigenschaften in höherem Maße als die meisten anderen Juden.“ Und: „Die Führung der Partei war allgemein als jüdische Mafia bekannt (…) Juden sollen in der Tat die Tonangeber der bolschewistischen Partei gewesen sein.“ Geschickt schreibt Service solche Aussagen einer anonymen Allgemeinheit zu, reproduziert aber so letztlich antisemitische Vorurteile über „jüdische Eigenschaften“ und den „jüdischen Bolschewismus“, die nicht zuletzt von den Nazis vertreten wurden. Service betont in einer verstörenden Art und Weise Trotzkis jüdische Herkunft und geht so weit zu behaupten, dieser sei in seiner Kindheit und Jugend nicht „Ljowa“, sondern in jüdischer Sprache „Leiba“ genannt worden, habe dies aber in seiner Autobiographie verborgen. Allerdings kann Service dafür nicht einen Beleg anbringen. Seine angeblichen Quellenangaben beweisen gar nichts bzw. sprechen gegen diese Behauptung hinsichtlich Trotzkis Kindheitsnamens. Warum Service dies macht, ist sein Geheimnis, aber es ist kein Zufall, dass sein Werk auch Beifall aus der ganz rechten Ecke, zum Beispiel in einer Besprechung der rechtsextremen Zeitung „Junge Freiheit“, erhielt. Trotzki selber ging offen mit seiner jüdischen Herkunft um, weder verbarg er sie noch gibt es einen Hinweis darauf, dass er sich dieser schämte.

 Service versucht nicht nur den Revolutionär Trotzki, seine Politik und sein Wirken zu diskreditieren, sondern auch den Menschen Trotzki. Er stellt ihn als rücksichtslos und selbstherrlich dar. Dazu bedient er sich eines Umstands in Trotzkis Leben, der oberflächlich betrachtet tatsächlich zu Unverständnis führen kann. Trotzki war mit seiner Frau Alexandra Sokolowskaja zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der sibirischen Verbannung. Dort bekamen sie zwei Töchter, Sina und Nina. 1902 floh Trotzki aus Sibirien, um sich im Londoner Exil Lenin und den russischen MarxistInnen um die Zeitschrift Iskra anzuschließen. Für Service ist das Trotzkis Flucht aus den „ehelichen und elterlichen Pflichten“. Er schreibt: „Kaum hatte er zwei Kinder gezeugt, machte er sich aus dem Staub“ und zweifelt an, dass die Flucht von Alexandra Sokolowskaja unterstützt wurde. Hier kommt vor allem Services Unwissen und Unverständnis über das Bewusstsein und die Lebenseinstellung der russischen RevolutionärInnen der Zarenzeit zum Ausdruck. Im Kampf gegen eine despotische Diktatur und für die politische und soziale Befreiung der vom Zaren unterdrückten Völker und Klassen mussten die russischen RevolutionärInnen selbstlos, ja bis zur Selbstaufgabe, handeln. Viele setzten ihr Leben aufs Spiel und verloren dieses – und hatten keine Wahl, Frau und Kinder zurück zu lassen. Alexandra Sokolowskaja war nicht weniger Revolutionärin, als Trotzki Revolutionär war. Es gibt kein Dokument, keine Aussage von ihr, die darauf schließen lassen, dass Trotzkis Flucht gegen ihren Willen geschah. Service erweckt dann den Eindruck, als habe Trotzki sich nicht mehr um seine Kinder gekümmert. Tatsächlich sorgte er dafür, dass seine Familie dies tat. Trotzki und Sokolowskaja hielten ihr Leben lang eine freundschaftliche und warmherzige Beziehung aufrecht, die vielfach dokumentiert ist. Es ist kaum vorstellbar, dass dies der Fall gewesen wäre, wenn Trotzki seine Frau und Kinder einfach mal eben im Stich gelassen hätte.

 Suhrkamps Schuld

Lenin beginnt sein Werk „Staat und Revolution“ mit dem Hinweis, dass große Revolutionäre zu Lebzeiten „von den unterdrückenden Klassen verfolgt (wurden), die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütendstem Hass begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen.“ Dass aber dieselben Revolutionäre nach ihrem Tod „in harmlose Götzen“ verwandelt werden und ihre „Lehre des Inhalts beraubt“ wird, während man „ihrem Namen einen gewissen Ruhm zur ‚Tröstung‘ und Betörung der unterdrückten Klassen“ zugesteht. Nicht so im Falle Trotzkis (und Lenins selbst). Die Russische Revolution haben die herrschenden Klassen und ihre ideologischen und wissenschaftlichen VertreterInnen Lenin und Trotzki nie verziehen. Sie spüren die Gefahr, die von den Ideen der beiden großen Revolutionäre für ihre Herrschaft weiterhin ausgehen. Deshalb nehmen die Verleumdungen kein Ende, werden immer wieder frisch aufgetischt. Robert Service hat sich aus Sicht der Herrschenden diesbezüglich einen Orden verdient. Der Wissenschaft, die Erkenntnisgewinn zum Ziel und Objektivität zum Ausgangspunkt haben sollte, hat Service einen Bärendienst erwiesen. Sein Werk steht eher in der Tradition stalinistischer Geschichtsfälschung, denn historischer Wissenschaft. Hier trifft den Suhrkamp-Verlag eine große Schuld, denn die Veröffentlichung der Trotzki-Biographie von Robert Service wird leider dazu beitragen, dass die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts auf einer verlogenen Grundlage stattfinden wird. Aber es ist nicht nur von historischer Bedeutung, den „wahren Trotzki“ ans Tageslicht zu bringen und zu verteidigen. Services Machwerk hat zum Ziel, der neuen Generation von AntikapitalistInnen den Weg zu Trotzkis Ideen zu verbauen. Dies zu verhindern ist nicht nur die Aufgabe der AnhängerInnen von Trotzkis Ideen, sondern all jener, die eine ehrliche Auseinandersetzung über die Russische Revolution und Leo Trotzki wünschen.

 

2. Trotzki als demokratischer Sozialist – eine Antwort auf Robert Service

Dieses Buch ist mit fast 600 Seiten sehr dick, aber hinsichtlich einer ehrlichen politischen Untersuchung und Analyse von Leo Trotzkis Ideen, dem Thema von Services Wälzer, ist es sehr dünn. Seine Rechtfertigung? Dieses Buch sei angeblich „die erste umfangreiche Biografie über Trotzki von einem nicht-russischen Autor, der kein Trotzkist ist“. Er räumt zwar ein, dass Isaac Deutscher, der eine Trilogie über Trotzki schrieb, und Pierre Broué, der eine einbändige, eintausend Seiten umfassende Studie schrieb, mit großem Schwung geschrieben haben. Aber wie auch Trotzkis Autobiografie „Mein Leben“ qualifiziert er diese als eigennützig und ein Beispiel für Selbstverherrlichung ab.

von Peter Taaffe

Das ist noch ein mildes Beispiel für die Begriffe, die Service gegenüber Trotzki benutzt. Er präsentiere „ernsthafte Ungenauigkeiten“ in dessen Schriften, er sei ein „intellektueller Rüpel“ gewesen, „eitel und egozentrisch“. Zwei Zeilen nach dieser Anklage, sagt Service, Trotzki habe „Prahlerei nicht gemocht“! Er wirft ihm niedere Beweggründe vor, als er angeblich seine erste Frau und seine zwei Töchter „sitzen gelassen“ habe, obwohl er zugibt, dass diese ihn gedrängt haben, aus Sibirien zu flüchten, um sich Lenin und den Führern der RSDAP (Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei) anzuschließen, die die Iskra („Funke“), die revolutionäre Zeitung der damaligen Zeit, produzierten. Au nahezu jeder Seite gibt es mindestens eine Entstellung von Trotzkis Ideen, seinem Privatleben etc.

Es gibt in dem Buch gleichzeitig nicht eine neue Erkenntnis, die unser Bild von Trotzki bereichert … außer, dass Trotzkis Kinder sich einen „Wiener Akzent“ aneigneten – welch Überraschung, da sie doch in dieser Stadt lebten. Stattdessen gibt es eine Fülle pro-kapitalistischer und stalinistischer Verleumdungen gegen Trotzkis Ideen und Handlungen von dem Moment an, als er in den russischen revolutionären Untergrundzirkeln aktiv wurde bis zum Tag seiner Ermordung. Service versucht sich hier an einer zweiten Ermordung Trotzkis, diesmal einer literarischer Art.

Falsche Anschuldigungen

So erfahren wir unglaublicherweise, dass Trotzki vor 1914 kein „marxistischer Theoretiker“ war! Gegen Services „eigennützige“ Abrechnung spricht nur das unerfreuliche Detail, dass Trotzki als Vorsitzender des Petrograder Sowjets während der Revolution von 1905, damals das größte Ereignis für ArbeiterInnen und Unterdrückte seit der Pariser Kommune von 1871, eine Tageszeitung und ein marxistisches Theoriemagazin herausgab und dafür schrieb.

Mehr noch: vor 1914 formulierte Trotzki seine berühmte „Theorie der Permanenten Revolution“. Diese erklärte, dass die kapitalistische, demokratische Revolution – Landreform, Vereinigung des Landes, das Ende des Feudalismus und der zaristischen Diktatur – in einem „unterentwickelten“ Land wie Russland nicht von den Kapitalisten selber vollendet werden konnte. Mit dieser Meinung befand er sich im Einklang mit Lenin und den Bolschewiki. Aber Trotzki ging weiter als diese und zeigte auf, dass nur die Arbeiterklasse – mit ihren besonderen dynamischen Eigenschaften in Russland – in der Lage war im Bündnis mit der Bauernschaft die kapitalistisch-demokratische Revolution zu vollenden. Das wiederum sei aber nur der Auftakt zu einer internationalen sozialistischen Revolution. Das war eine hervorragende Skizze der tatsächlichen Ereignisse von 1917: der Arbeiter- und Bauernregierung und der zehn Tage, die die Welt erschütterten.

Service argumentiert dann, dass Trotzki nicht „innovativ“ gewesen sei, das diese Theorie das intellektuelle Eigentum von Alexander Helfand, besser bekannt als Parvus, gewesen sei, der mit Trotzki kooperierte. Zum Unglück für Service hat Trotzki selber zugegeben, dass Parvus den „Löwenanteil“ zu dieser Theorie beigetragen habe. Aber Parvus zog nicht die mutigen revolutionären Schlussfolgerungen daraus, die Trotzki vortrug. Parvus argumentierte, dass das Ergebnis des Bundes der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft sich im Rahmen des Kapitalismus bewegen würde, möglicherweise indem eine Regierung nach dem Vorbild der damaligen „Labour“-Regierung in Australien gebildet würde. Trotzki hingegen argumentierte, dass im Zuge der Durchführung der kapitalistisch-demokratischen Revolution eine Arbeiter- und Bauernregierung an die Macht kommen würde, die dann dazu gezwungen wäre, zu den Aufgaben der sozialistischen Revolution überzugehen und damit eine internationale Bewegung auslösen würde.

Services Versuch Trotzki universellen theoretischen Beitrag im ersten Teil seines Buchs in den Dreck zu ziehen, hebt er selber auf, wenn er später widerwillig zugibt, dass Lenin in privaten Gesprächen mit Joffe, einem Freund Trotzkis, sagte, Trotzki habe in Bezug auf die Perspektiven für die Russische Revolution richtig gelegen. Trotzkis Theorie ist heute noch relevant in all den Gesellschaften der „unterentwickelten“ Welt, die die kapitalistisch-demokratische Revolution noch vollenden müssen.

Alle bissigen Kommentare von Service über Trotzki sind bloß aufgewärmte Ideen früherer Kritiker – des Stalinismus, von kapitalistischen Kommentatoren, neidvollen Sozialdemokraten und Reformisten. Wir finden dieselben Anschuldigungen gegen Trotzki hinsichtlich des Terrorismus, der Kronstädter Revolte, „Autoritarismus“ – ohne auch nur ein Stückchen neuer Belege, um das zu untermauern. So wird Trotzki beispielsweise vorgeworfen, er lasse in „Mein Leben“ jede Erwähnung der Kronstädter Revolte von 1921 aus. Trotzki selber erklärte in einer Antwort auf „das Geschrei und Gezeter über Kronstadt“ in den 1930ern, dass dies den einfachen Grund hatte, dass dieses Thema keine besondere Bedeutung hatte, bis es von modernen Kritikern, wie Anarchisten und leider auch Victor Serge in den 1930ern wieder aufgeworfen wurde. Trotzki wurde vorgeworfen, die „Kronstädter Matrosen unterdrückt” zu haben, „dieselben“, die an der Oktoberrevolution teilgenommen hatten.

In einer geradezu kriminaltechnischen Analyse zeigte er auf, dass dies nicht der Fall war – er spielte keine direkte Rolle in der Niederschlagung der Kronstädter Revolte, akzeptierte aber die „moralische Verantwortung“ für die Handlungen. Die Kronstädter „Rebellen“ forderten „Sowjets ohne Bolschewiki“, was von der Konterrevolution in Russland und weltweit mit Applaus bedacht wurde. Service wiederholt Unwahrheiten – ohne jeglichen Beweis – um uns davon zu überzeugen, dass die Matrosen dieselben gewesen seien, wie die heldenhaften Aufständischen der Oktoberrevolution. Das waren sie aber nicht. Die große Mehrheit der Petrograder ArbeiterInnen unterstützte die Aktionen gegen die Matrosen. Auf der Basis unabhängiger Quellen zeigte Trotzki, dass die Führer der Revolte während des Bürgerkriegs aus eigennützigen Gründen besondere Privilegien forderten. Sie drohten sogar damit, die Rote Flotte zu übernehmen, was angesichts der Eisschmelze zwischen Russland und Finnland die Tore für einen imperialistischen Angriff auf das Herz des russischen Staates geöffnet hätte. Schweren Herzen bezwang die russische Arbeiterregierung deshalb die Revolte, nachdem die Meuterer sich Verhandlungen verweigerten.

Demokratie

Hinsichtlich der Russischen Revolution wendet Service eine ähnlich zweifelhafte Herangehensweise an, denn er legt nicht den Verlauf der Ereignisse, wie sie tatsächlich stattfanden, dar. Er spricht von einem „Putsch“ und die Anklage des „Terrorismus“ gegen Trotzki und die Bolschewiki wird von ihm wieder ausgegraben. Tatsächlich fand die Russische Revolution auf der Basis einer demokratischen Abstimmung des Sowjetkongresses statt, welcher die repräsentativste Institution der Geschichte war und die Ansichten der ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern Russlands zum Ausdruck brachte. Das Winterpalais wurde bei einer minimalen Opferzahl eingenommen – sicherlich weit entfernt von den fünf Millionen RussInnen, die während des Ersten Weltkriegs umgebracht und entsetzlich verletzt wurden. Service „vergisst“ zu erwähnen, dass die Revolution das Gemetzel dieses Krieges zu einem Ende brachte. Welches Ereignis war in historischer Abwägung progressiver – die relativ unblutige Russische Revolution oder der von dieser Revolution beendete Weltkrieg?

Der Autor beschuldigt Trotzki und Lenin des Totalitarismus und der Diktatur, weil alle Parteien außer den Bolschewiki „verboten“ wurden. In der ersten Phase nach der Revolution hatten alle Parteien – inklusive der Menschewiki und Sozialrevolutionäre und mit Ausnahme der reaktionären (quasi-faschistischen, A.d.Ü.) Schwarzen Hunderter – das Existenzrecht. Das änderte sich erst als jede einzelne von ihnen systematisch gemeinsam mit den Weißen – den konterrevolutionären Großgrundbesitzern und Kapitalisten – versuchte mit Waffengewalt die Revolution zu stürzen. Die Bolschewiki ließen den aufgrund der Organisierung einer konterrevolutionären Erhebung festgenommenen General Krasnow in einem übermäßig gutmütigen Akt sogar frei. Dieser nutzte seine Freiheit nur, um sofort eine Weiße Armee zu organisieren, die tausende ArbeiterInnen und Bauern tötete.

Vorwurf des Terrorismus

Wie bei allen Verleumdern von Revolutionen – so war es auch bezüglich der Englischen und Französischen Revolution – liegen auch bei Service die Vorwürfe des „Terrorismus“ locker auf der Zunge. Er beschwert sich über den „Mangel an Demokratie“ nach der Revolution. Aber gewährten die Nordstaaten und Abraham Lincoln den Sklavenbesitzern aus dem Süden Straffreiheit während des Amerikanischen Bürgerkriegs? Ließ Oliver Cromwell die Royalisten in den von den Anhängern des Parlaments kontrollierten Gebieten während des Englischen Bürgerkriegs frei agieren? Der schreckliche Russische Bürgerkrieg, der eine Folge der Intervention 21 imperialistischer Armeen unterstützt durch die Weißen Armeen war, führte zu einer weitreichenden Zerstörung von Leben und einer schrecklichen Hungersnot in Teilen Russlands. Die vollständige Verantwortung hierfür liegt auf den Schultern des Imperialismus, der versuchte die Revolution zu zerschlagen.

Dem Märchen der Unpopularität der Bolschewiki und von Lenin und Trotzki in der Zeit ihrer Machtausübung wird sogar von Service selber widersprochen. Er weist beispielsweise darauf hin, dass die Revolution zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die alte Provinz Moskowien und die beiden wichtigsten Städte Moskau und Petrograd zurück gefallen war. Aber warum hat die Revolution dann durchgehalten und triumphiert, die Weißen geschlagen und die imperialistischen Armeen aus Russland vertrieben? Weil die Masse der Bevölkerung die Vorteile der Handlungen der Arbeiter- und Bauernregierung sahen: die Landverteilung an die Bauern, die Befreiung von zaristischer Unterdrückung und Brot. Auch ArbeiterInnen in der ganzen Welt unterstützten die russische Arbeiterklasse.

Aber die Flachheit von Services Methode wird deutlich, wenn es um Trotzkis Kampf gegen Stalin und die Bürokratie geht. Den wahren Grund dafür, dass er dieses Buch geschrieben hat, macht er schon in der Einführung deutlich. Erst einmal sehen wir hier eine rührende Verteidigung Stalins, der „kein Kleingeist war, sondern eine beeindruckende Anzahl von Fähigkeiten und Talent zur Führung“ hatte. Aber andererseits, hatten Stalin, Trotzki und Lenin angeblich „mehr gemeinsam, als sie Differenzen hatten“. Die implizierte Schlussfolgerung daraus, die in seiner folgenden Analyse ausgesprochen wird, ist, dass Stalins Regime letztlich ein „Auswuchs“ aus dem Bolschewismus von Lenin und dem „erworbenen“ Bolschewismus von Trotzki war.

Tatsächlich trennt das Regime von Lenin und Trotzki – das Regime der Revolution, das zu Beginn der Revolution eine Massenbeteiligung und Arbeiterdemokratie hatte – und das von Stalin eine aus Blut gezogene Grenze. Die Säuberungsprozesse der 1930er – die Service skandalöserweise nur am Rande erwähnt – repräsentierten einen einseitigen Bürgerkrieg gegen die Überreste der Bolschewistischen Partei. Er vergleicht Stalins monströse Säuberungsprozesse tatsächlich mit den „Schauprozessen“ der Sozialrevolutionäre im Jahr 1921. Diese fanden statt nachdem die Sozialrevolutionäre in tatsächlich terroristischen Akten Lenin mit zwei Kugeln verletzten und die Bolschewisten Uritzki und Wolodarski töteten.

Trotzki hat niemals eine terroristische Handlung gegen Stalin oder dessen Regime ausgeführt. Mehr noch, die Bolschewiki haben 1921 zwei prominenten Sozialdemokraten der Zweiten Internationale erlaubt, nach Russland zu kommen, um die Angeklagten zu verteidigen. Sie wurden auch nicht hingerichtet, obwohl sie schuldig gesprochen wurden. Stalin gewährte keinen solchen Ermessensspielraum gegenüber den Angeklagten der Moskauer Prozesse.

Der Stalinismus war keine „natürlich Weiterentwicklung“ des Leninismus, sondern seine Negation. Service ist unfähig, das zu erkennen. Er steht fest im Lager derjenigen kapitalistischen Kommentatoren, die den Marxismus – und Trotzkismus ist nur dessen moderne Manifestation – ablehnen und die alle Erinnerungen an die tatsächlichen Lehren der Revolution und von Trotzkis Kampf auslöschen wollen.

Service schreibt: „Früher war Trotzki ein regelmäßiger Gegenstand öffentlicher Debatten, zumindest außerhalb der UdSSR. Diese Tage sind vorbei.“ Wunschdenken! „Trotzkismus“ ist für die Kapitalisten und ihre Medien das neue Schimpfwort geworden, das „Kommunist“ ersetzt hat. In der derzeitigen Periode massiven sozialen Aufruhrs, die sich aus der zerstörerischen Wirtschaftskrise des Weltkapitalismus entwickelt hat, sucht eine neue Generation nach Ideen, um das kapitalistische System herausfordern zu können. Das führt unweigerlich dazu, sich mit vergangenen Kämpfen zu beschäftigen.

Der wahre Trotzki

Die entschlossensten und gewissenhaftesten der jungen ArbeiterInnen, Frauen, MigrantInnen, die nach Methoden für den heutigen Kampf suchen, werden Leo Trotzki wieder entdecken. Er kämpfte für eine neue Welt der Arbeiterdemokratie und der sozialistischen Zusammenarbeit, für eine Welt frei von Ausbeutung. Sein „moderner“ Biograph versucht ein System zu stützen, dass todkrank ist. Deswegen nimmt er in seinem Buch eine massive Entstellung von Trotzkis Ideen vor.

Service liegt falsch mit seiner Behauptung, Trotzki sei ein Menschewik gewesen, wenn er ihm Unwissenschaftlichkeit vorwirft. Ebenso hat er nicht das geringste Verständnis von Trotzkis Haltung zur deutschen Revolution des Jahres 1923. Er sagt, Trotzki habe keine Meinung zu diesem erdbebenhaften Ereignis gehabt. Doch der damalige Führer der Kommunistischen Partei Deutschlands, Brandler, wollte, dass Trotzki zur Unterstützung der Machteroberung der Arbeiterklasse nach Deutschland kommt. Man bräuchte ein weitaus umfangreicheres Buch, als das von Service, um all seine Fehler zu korrigieren.

Service kommentiert, ohne es wirklich zu verstehen, warum Trotzki – mit dem stillen Einverständnis des damaligen Weltkapitalismus – miterleben musste, wie seine Töchter und Söhne, seine ganze Familie und letztlich er selbst durch Stalin ermordet wurden. Stalin dachte, er könne eine Idee und eine Methode auslöschen. Er war jedoch nicht erfolgreich, denn Trotzkis Ideen sind heute noch lebendig. Wenn aber die mächtige stalinistische Maschine, inklusive ihrer Lügen und Verdrehungen, das nicht bewerkstelligen konnten, welche Chance kann Service damit haben?

Der widerlichste Aspekt dieses Buches sind die hochgradig persönlichen Angriffe gegen Trotzki. „Greife die Ideen einer Frau oder eines Mannes an, aber greife die Person selbst nicht an.“ Diese Maxime ist dem Autor fremd. Es geht uns nicht darum, Trotzki zu „idealisieren“, sondern darum, von Trotzki seine Methode marxistischer Analyse zu lernen, die es uns erlaubt, die politischen Werkzeuge zur Vorbereitung einer sozialistischen Welt zu schaffen. So etwas findet man in Services Buch nicht; man kann es trotzdem lesen, vor allem sollte man Trotzkis „Mein Leben“ und Deutschers Trilogie lesen – die, weit davon entfernt perfekt oder gar trotzkistisch zu sein, zumindest ein Bild zeichnet, in dem Trotzkis Leben und seine Bedeutung erkennbar werden. Man sollte auch das Material der Socialist Party über Trotzkis Leben und seine Bedeutung für die heutige Zeit lesen.

 

Literatur und Quellen:

Robert Service – Trotzki. Eine Biographie, 2012, Suhrkamp Verlag Berlin

David North – Verteidigung Leo Trotzkis, 2010, Mehring Verlag Essen

Bertrand Patenaude in American Historical Review, Juni 2011

Videointerview mit Peter Taaffe: http://www.socialistworld.net/doc/4097

 

Sascha Stanicic ist verantwortlicher Redakteur von sozialismus.info, Bundessprecher der SAV und Mitglied der Partei DIE LINKE in Berlin-Neukölln. Peter Taaffe ist seit den 1960er Jahren führender Trotzkist in Großbritannien. Er ist Generalsekretär der Socialist Party in England und Wales und Mitglied des Internationalen Sekretariats des Komitees für eine Arbeiterinternationale (www.socialistworld.net).