Verhinderte Aufkl\u00e4rung<\/strong><\/p>\n
von Claus Ludwig, K\u00f6ln<\/p>\n
Anl\u00e4sslich des heute morgen (11.07.18) verh\u00e4ngten Urteilsspruches im M\u00fcnchener NSU-Prozess finden derzeit in vielen St\u00e4dten Demonstrationen unter dem Motto \u201eKein Schlussstrich\u201c statt \u2013 zu Recht. Medial wird es nach dem Prozessende stiller werden um den NSU. Doch der Skandal ist noch nicht l\u00e4ngst nicht beendet.<\/p>\n
F\u00fcr die Angeh\u00f6rigen der Opfer mag ein wenig Erleichterung bringen, dass eine Nazi-Terroristin wie Beate Zsch\u00e4pe lebenslang hinter Gitter muss und auch Ralf Wohlleben wegen Beihilfe zum Mord zu zehn Jahren verurteilt wurde. Andr\u00e9 Eminger wurde allerdings nicht wegen Beihilfe, sondern nur wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung veurteilt. Seine zweieinhalb Jahre hat er l\u00e4ngst abgesessen. Auch Wohlleben sitzt nun schon fast sieben Jahre in U-Haft.<\/p>\n
Zur Aufkl\u00e4rung der Aff\u00e4re hat der Prozess nur wenig beigetragen. Anklage und Prozessf\u00fchrung basierten auf der These der Bundesanwaltschaft, es h\u00e4tte eine einzige Terrorzelle gegeben, nur aus dem Trio Mundlos, B\u00f6hnardt und Zsch\u00e4pe bestehend, alle anderen w\u00e4ren nur Unterst\u00fctzer gewesen.<\/p>\n
Es ging in diesem Prozess nicht um die Ausleuchtung des NSU, sondern nur den Schuldnachweis Zsch\u00e4pes, der angeblichen einzigen \u00dcberlebenden. Der Prozess wurde daf\u00fcr in ein extrem enges juristisches Korsett gesteckt, der Vorsitzende Richter Goetzl erf\u00fcllte diesen Auftrag der Nicht-Aufkl\u00e4rung stur. F\u00fcnf Jahre, \u00fcber vierhundert Verhandlungstage, doch neue Erkenntnisse gab es nur durch die ungeheure Flei\u00dfarbeit der Nebenklage.<\/p>\n
Die These vom isolierten Trio ist nicht haltbar. Der NSU war in der Szene vernetzt. Es gibt einen gro\u00dfen Unterschied in der Vorgehensweise zwischen den Bank\u00fcberf\u00e4llen und den Morden, die s\u00e4mtlich dem Trio zugeordnet wurden. Es gibt Hinweise auf Kontaktleute in den unterschiedlichen St\u00e4dten. Anw\u00e4lte der Nebenklage aus Dortmund gehen davon aus, dass dort lokal NSU-Aktive stationiert waren und noch sind.<\/p>\n
Schon im Dezember 2011 schrieben wir: \u201eWelches Muster kann der bundesweiten Ausbreitung der Morde zu Grunde liegen? (\u2026) Ist es plausibel, dass sie alle Ziele pers\u00f6nlich ausgesp\u00e4ht, alle Anschl\u00e4ge selbst vorbereitet und eigenh\u00e4ndig durchgef\u00fchrt haben? (\u2026) Wahrscheinlicher ist, dass sie nur ein Teil eines terroristischen Netzwerks waren und Andere an Auswahl, Vorbereitung und zumindest absichernd an der Durchf\u00fchrung beteiligt waren. Darauf deutet auch die regionale Verteilung der Morde und der beiden Bombenanschl\u00e4ge in K\u00f6ln. Man kann sich auch vorstellen, dass hier regionale Nazi-Gruppen nacheinander einen Beweis ihrer Handlungsf\u00e4higkeit und dem, was Nazis unter ,Mut\u2018 verstehen, erbracht haben. Vorstellbar ist, dass die Morde durch andere vorbereitet wurden und die Killer aus Sachsen zu deren Vollendung anreisten.\u201c<\/p>\n
Rund um das Trio waren Dutzende Spitzel diverser staatlicher Geheimdienste positioniert. Einige von diesen wussten nachweislich um Existenz und Verbleib des NSU.<\/p>\n
Es hei\u00dft, der Prozess h\u00e4tte all dies nicht aufkl\u00e4ren k\u00f6nnen, das w\u00e4re die Aufgabe der parlamentarischen Aussch\u00fcsse gewesen. Doch VS-Spitzel- und Beamte h\u00e4tten mehr in die Mangel genommen werden k\u00f6nnen. Die These vom isolierten Trio, die von den Angeh\u00f6rigen und den Anw\u00e4lten der Nebenklage hinterfragt und demontiert wurde, h\u00e4tte hinterfragt und umfassendere Beweisantr\u00e4ge zugelassen werden k\u00f6nnen.<\/p>\n
Der M\u00fcnchener Prozess ist Teil der staatlichen Legende von der Bew\u00e4ltigung der Aff\u00e4re. Es ging und geht es darum, den Skandal in geordnete Bahnen zu lenken, Schuldige zu finden und die Funktionsf\u00e4higkeit von Polizei und Geheimdiensten aufrecht zu erhalten.<\/p>\n
Jede neue Runde der Untersuchung hat mehr Fragen aufgeworfen als Antworten zutage gef\u00f6rdert. Beim Mord an Halit Yozgat in Kassel war ein Beamter des hessischen Verfassungsschutzes anwesend. Das offizielle Motiv f\u00fcr den Mord an der Polizeibeamtin Mich\u00e8le Kiesewetter \u2013 \u201eHass auf den Staat\u201c ist offensichtlicher Unsinn. Es gibt mehrere Verbindungen zwischen Kiesewetter und dem NSU. Mehrere Zeugen sind unter seltsamen Umst\u00e4nden verstorben, jeweils kurz vor ihrer Aussage, darunter V-Mann \u201eCorelli\u201c (Thomas Richter), der definitiv fr\u00fch Kenntnisse vom NSU hatte. Darunter drei junge Menschen aus Baden-W\u00fcrttember, die miteinander in Kontakt standen. Der erste, Florian H., verbrannte im September 2013 in seinem Auto am Tag vor seiner Aussage. Er hatte Kontakte zur Nazi-Szene im S\u00fcdwesten und gab an, etwas \u00fcber die Ermordung Kiesewetters zu wissen.<\/p>\n
Die Umst\u00e4nde des Todes von Mundlos und B\u00f6hnhardt selbst sind weiter ungekl\u00e4rt. Es gibt offene technische Fragen und Unklarheiten beim Ablauf, die eher darauf hin deuten, dass jemand anders seine Finger im Spiel hatte.<\/p>\n
Die Vernichtung von Akten und Verwischung der Spuren hatte schon vor der \u201eAufdeckung\u201c begonnen und sie l\u00e4uft bis heute weiter.<\/p>\n
Der NSU-Skandal ist eine Staatsaff\u00e4re. Staatliche Stellen und Agenten haben vieles \u00fcber den NSU gewusst, nichts unternommen, haben die Morde des NSU gedeckt oder diese sogar aktiv unterst\u00fctzt, aus welchen Motiven auch immer.<\/p>\n
Ziel des Staates war es nie, die Verbrechen vollst\u00e4ndig aufzukl\u00e4ren, im Gegensatz zu Merkels vollm\u00fcndiger Ank\u00fcndigung. Es ging immer darum, die Schuld staatlicher Organe zu verstecken oder im Nebul\u00f6sen zu lassen.<\/p>\n
Der zentrale Aspekt von Zsch\u00e4pes \u201eAussage\u201c im Dezember 2015 war, dass sie in nahezu allen Aspekten eine Version lieferte, die mit der offiziellen Version der staatlichen Organe kompatibel war. Sie schilderte den NSU als v\u00f6llig isolierte Gruppe, stellte B\u00f6hnhardt und Mundlos als T\u00e4ter in allen F\u00e4llen dar, die ihnen zugeordnet werden – auch bei Mich\u00e8le Kiesewetter und beim Anschlag auf einen Kiosk in K\u00f6ln 2001 (bei denen andere bzw. T\u00e4terInnen vermutet werden) – ging weder auf ihre eigenen Aktivit\u00e4ten nach dem 4. November noch auf den seltsamen Selbstmord der Uwes ein.<\/p>\n
Sie lieferte mit ihrer Selbstdarstellung als angeblich hilflose und fremdbestimmte Frau ein R\u00fcckzugsgefecht, um eventuell noch bestehende Strukturen von Nazi-Terroristen, deren Umfeld und die Beteiligung staatlicher Organe daran aus dem Blick der \u00d6ffentlichkeit zu r\u00fccken. Die Frage \u201eWem nutzt es?\u201c f\u00fchrt damit erneut zu Geheimdiensten und Ermittlungsbeh\u00f6rden.<\/p>\n
Es gibt keine Zweifel an der Schuld von Beate Zsch\u00e4pe. Doch sie ist letztendlich das Bauernopfer dieses Prozesses, um die Fragen an VS und Polizei endlich vom Tisch zu wischen. Ihre Bereitschaft, lebenslang ins Gef\u00e4ngnis zu gehen (wobei es sein kann, dass sie bereits 2028 auf Bew\u00e4hrung freigelassen wird!), ihr Schweigen im Prozess, ihr Getue um ihre moralischen Zweifel, ihre Show, um als Person im Mittelpunkt zu stehen, ist mutma\u00dflich ihre Serviceleistung daf\u00fcr, dass sie im Gegensatz zu ihren Komplizen noch am Leben ist.<\/p>\n
Im Gedenken an Enver \u015eim\u015fek, Abdurrahim \u00d6z\u00fcdo\u011fru, S\u00fcleyman Ta\u015fk\u00f6pr\u00fc, Habil K\u0131l\u0131\u00e7, Mehmet Turgut, \u0130smail Ya\u015far, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kuba\u015f\u0131k, Halit Yozgat, Mich\u00e8le Kiesewetter. Diese Namen d\u00fcrfen nie in Vergessenheit geraten.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"
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