Augenzeugenbericht von der Protestbewegung der „Gelbwesten“
Auch vergangenen Samstag haben die landesweiten Proteste der Gilets Jaunes (Gelbwesten) in Frankreich wieder die Macron-Regierung in Atem gehalten und die Massen auf die Straße gebracht. Zwei SAV-Mitglieder waren den ganzen Tag über in Paris, haben an den Demonstrationen teilgenommen und mit Anwohner*innen und Mitgliedern der Schwesterorganisation der SAV in Frankreich, Gauche Révolutionnaire, gesprochen.
Von Miguel Empleado und Fyn Hansow (Hamburg)
Die Stimmung ist ausgelassen, tausende Menschen stehen Schulter an Schulter auf dem Place de la République, lauschen den Reden, die von den Lautsprecherwagen schallen oder diskutieren miteinander. Essen wird verteilt, Kinder laufen umher. Dann geht Jubel durch die Menge: Demonstrant*innen in gelber Weste sind auf die Bronzestatue in der Mitte des Platzes geklettert, einer hebt das Symbolbild der französischen Revolutionen hoch, „Die Freiheit führt das Volk“. Über die Fahne schwenkende Frau wurde eine gilets jaune, eine gelbe Weste geklebt.
Jenseits des Platzes blinken die Sirenen unzähliger Einsatzwagen der französischen Polizei, schwer gerüstete Beamte stehen vor ihren Wagen und blockieren die Straße, manche haben Granatwerfer unter den Arm geklemmt, einer sogar ein Sturmgewehr. Schließlich lösen sie die bis zum Schluss friedlich gebliebene Demonstration mit Tränengas auf, sie sei länger auf dem Platz geblieben als angekündigt. Einige Stunden zuvor hatte eine ebensolche Tränengasgranate einem Demonstranten die Hand abgerissen, am anderen Ende der Innenstadt von Paris verlor eine Frau, vermutlich eine Passantin, ein Auge, nachdem man ihr mit einem Gummiprojektil ins Gesicht geschossen hatte.
Wer in diesen Wochen nach Frankreich fährt, dem wird die Rolle der Polizei als bewaffnetes Repressionsorgan des bürgerlichen Staates nur allzu bewusst. Offiziellen Angaben zufolge liegt die Zahl der am Samstag eingesetzten Einsatzkräfte bei 89.000 im ganzen Land, der größte Einsatz seit dem Mai 1968, private Sicherheitsdienste und Ähnliches nicht mit eingerechnet. Die tatsächliche Ziffer ist wahrscheinlich noch um einiges höher. Drastische Polizeigewalt, wie wir sie vielerorts im vergangenen Sommer in den Tagen des G20-Gipfels in Hamburg erlebt haben, scheint in Paris zum allwöchentlichen Normalzustand geworden zu sein.
Dem gegenüber stehen Hunderttausende Protestierende, die zum vierten Mal in Folge den Aufrufen zu landesweiten Protesten und Demonstrationen folgten, und das trotz der Aufhebung der geplanten „Öko-Steuer“, also dem Anheben der Preise für Kraftstoffe, die die Proteste ausgelöst hatte. Die Forderungen der Gilets Jaunes gehen längst weiter als das. Zwar ist die Massenbewegung, die inzwischen die Unterstützung von fast zwei Dritteln in der französischen Bevölkerung hat, sowohl in ihrer regionalen als auch ihrer sozialen Zusammensetzung verschiedenartig, die Wut gegen die Politik „der da Oben“ und die Forderung nach einem Rücktritt Macrons sind aber allgegenwärtig.
#unteilbar auf Französisch
In Paris manifestierten sich die Proteste am vergangenen Samstag auf drei Großdemonstrationen: Der wöchentlichen Gilets Jaunes Demo auf dem Champs-Élysée, die die Polizei von vornherein verboten hatte, einem Demozug aus Arbeiter*innen und Studierenden, die in der Woche zuvor auf gemeinsamen Versammlungen demokratisch entschieden hatten, teilzunehmen und ihren Demonstrationszug mit den Gilets Jaunes zu vereinen, und einer jährlich stattfindenden Demonstration für Umweltschutz, die zum Place de la République ziehen sollte.
Als wir uns am Vormittag der Umweltschutz-Demonstration anschlossen, berichtete uns ein Mitglied der „Gauche Révolutionnaire“ (Revolutionäre Linke, Schwesterorganisation der SAV in Frankreich), der zuvor am Champs Élysée war, über die Situation. Bis zu dem Zeitpunkt gab es bereits mehr als 500 Festnahmen (!) und die Großdemonstrationen, obwohl bis dahin ruhig, waren von der Polizei blockiert worden. Doch das, was die Polizei an diesem Samstag mit aller Gewalt versuchte zu verhindern, die Verbindung der einzelnen Protestgruppen, war längst Realität geworden: Die ganze Woche über hatte es Schulstreiks und Unibesetzungen gegen die Reform des französischen Abiturs und für die Forderungen der Gilets Jaunes gegeben, Feuerwehrleute und Sanitäter*innen hatten sich solidarisiert, Arbeiter*innen forderten von ihren Gewerkschaften, endlich zu Streiks für höhere Löhne aufzurufen und sogar eine kleine Polizeiverwaltungsgewerkschaft solidarisierte sich.
Die französische Arbeiter*innenklasse zeigt sich unteilbar und genau darin liegt die unglaubliche Stärke, die Macron noch in dieser Woche zu weitgreifenden Zugeständnissen wie der Erhöhung des Mindestlohns und gleichzeitig weiterer Repression veranlasste. Das zeigt das gewaltige Potenzial, welches in einer vereinten Massenbewegung steckt.
Die „linken“ Vorurteile, die Gelben Westen protestierten gegen eine umweltbewusstere Politik oder Steuern allgemein, wurden auf der Umweltschutz-Demonstration wie selbstverständlich weggewischt. Über 20.000 Menschen fanden sich zusammen, überall leuchteten gelbe Westen aus der Masse und Gilets Jaunes hatten noch eine Stunde vor dem Beginn Flyer an vorbeifahrende Autofahrer*nnen verteilt. Klimaschutz steht außer Frage. Die soziale Ungerechtigkeit und Steuerverteilung bringt die Menschen auf die Straße, und das wurde auch von den wenigen Zugeständnissen der Regierung kein bisschen angetastet. Die von Macron abgeschaffte Vermögenssteuer hat dieser in seinen „besorgten“ Reden über die Lage der Nation nicht einmal erwähnt. Gleichzeitig verliert die brutale Repression im Angesicht der Wut der Bevölkerung ihre Wirkung, die Zahlen der Demonstrierenden sind gleich hoch wie in den vorangegangenen Wochen.
Pour la révolution!
Der Flyer, mit dem unsere französischen Genoss*innen der „Gauche Révolutionnaire“ am Samstag auf den Demos unterwegs waren, um unsere Ideen und Vorschläge einzubringen und die Bewegung voran zu tragen, trug den Titel „Pour un nouveau Mai 68!“ („Für einen neuen Mai 68!“). Vor 50 Jahren war der entscheidende Faktor, der aus Unruhen eine revolutionäre Situation gemacht hat, also eine Situation, in der es mit der richtigen Strategie absolut möglich ist, die Forderungen der Massenbewegung nach einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft durchzusetzen und die kapitalistische Regierung abzuschaffen, die Arbeiter*innenklasse.
Durch einen der größten Generalstreiks in der Menschheitsgeschichte wurde das ganze Land zum Stillstand gebracht, die Regierung quasi auf einen Schlag in eine tiefe Krise gestürzt und der damalige Präsident in die Flucht geschlagen. Dass es bereits erste Entwicklungen dahin gibt, wie das Ausrufen eines Aktionstages am 14. Dezember durch eine der größten Gewerkschaften, der CGT, ist auch der Grund, warum Macron sich beeilt hat, zu versichern, er würde den Forderungen entgegenkommen. Doch dieser Aktionstag geht nicht weit genug und konnte nur durch den Druck der vielen tausend Arbeiter*innen auf den Straßen gegen die Gewerkschaftsbürokratie durchgesetzt werden, die am liebsten weiter mit Macron und seinen Minister*innen an einem Tisch sitzen und an der prekären Situation großer Teile der Bevölkerung nichts verändern wollen.
Doch von den historischen Ereignissen zu lernen heißt auch, aus den damaligen Fehlern zu lernen: Es braucht eine demokratisch legitimierte Führung mit einer klaren Strategie, um gegen die zu allem entschlossene Regierung anzukommen.
Deshalb kämpft „Gauche Révolutionnaire“ innerhalb der Bewegung für die sofortige Umsetzung folgender Punkte:
- Ausrufen eines landesweiten Generalstreiks
- Gründung von basisdemokratischen Komitees in allen Betrieben, Schulen, Universitäten und Gilets Jaunes Gruppen zur Vorbereitung der Streiks und Aktionen
- Landesweite Delegiertenkonferenz, um der Bewegung eine demokratische Führung zu geben und Korruption, Missbrauch und Spaltung entgegenzuwirken und den Forderungskatalog demokratisch aufzustellen.
Illusionen und die Linke
Wenn wir uns am Samstag auf den Straßen umsahen, wurde das Ausmaß dieser sozialen Bewegung eindeutig. Die Gilets Jaunes, anfangs vor allem dominiert vom ländlichen Mittelstand und Kleinbürgertum, haben wie ein Katalysator für den Klassenkampf gewirkt. Schüler*innen laufen neben Familien und erfahrenen Gewerkschafter*innen, Umweltaktivist*innen rufen Slogans. Wo anfangs vor allem asylkritische Forderungen mitschwangen, haben sich die Kritik an der kolonialen Ausbeutung afrikanischer Staaten und die Forderung nach Wohnungsbau für alle Bahn gebrochen. Nicht alle sind sich einig über die richtigen Aktionsformen, oder was ihre Lage dauerhaft verbessern würde, aber sie alle wollen sich nicht zufrieden geben mit den paar Krümeln, die ihnen „der Präsident der Reichen“ hinwirft.
Massenbewegungen in diesen Ausmaßen beginnen niemals mit einem klaren, politisch korrekten Programm, mit dem alle Schichten übereinstimmen. Verschiedene Vorstellungen werden auf die Blockaden, Demonstrationen und Treffen mitgebracht, teilweise auch rassistische oder sexistische Vorurteile. Utopische oder reformistische Illusionen oder aber auch progressive Ideen sind vorhanden, aber keine genaue Vorstellung davon, wie diese umgesetzt werden können.
Die Aufgabe von Sozialist*innen ist es, durch Mitarbeit in der Bewegung zu neuen Ideen und Diskussionen anzuregen. Dass die Proteste in den ersten Wochen in einigen Landesteilen durch rechte Elemente geprägt wurden, ist vor allem dem Nichterfüllen dieser Aufgabe durch große Teile der französischen Linken zu verdanken. Während diese steuerkritische Äußerungen oder rassistische Kommentare der inoffiziellen Führungsfiguren (die nicht einmal von der Mehrheit der Gilets Jaunes unterstützt werden!) als Grund vorschoben, sich von den Protesten zu distanzieren, marschierten organisierte rechte Gruppen mit auf dem Champs Élysée und Marine Le Pen stilisierte sich in den Medien als Wortführerin. Der ehemalige französische General Pierre de Villiers, 2017 nach einem Disput mit Macron zurückgetreten, wird mit seinen autoritär-konservativen Vorstellungen von rechten Teilen der Gilets Jaunes als möglicher Nachfolger Macrons gehandelt, seine Bücher landeten in den letzten Wochen auf den Bestsellerlisten und wir konnten sie auch gleich in den Händen mehrerer Gelbwesten auf der Straße entdecken. Anstatt mit konstruktiven Vorschlägen den Glauben an rechte Politiker*innen als Illusion zu enttarnen, hat der linke Politiker Jean-Luc Mélenchon erst im Verlauf der letzten Woche zu einer Beteiligung an den Protesten aufgerufen und kein Wort zu einer längerfristigen Strategie verloren. Wenn der Kampf der unteren Klassen aber in eine offensive Phase geht, dann ist die Beteiligung daran kein Punkt zur Diskussion, sondern Pflicht für Linke!
In Deutschland erleben wir in der LINKEN, in der wir als SAV für sozialistische Ideen einstehen, ähnliche Debatten. Weder die Verharmlosung des rechten Einflusses noch die Isolation vor der Bewegung aus diesem Grund sind eine Lösung, vor allem nicht, wenn wir Solidarität mit unseren französischen Nachbar*innen bekunden und in unserem eigenen Land in die Offensive gehen wollen.
Die Genoss*innen von Gauch Révolutionnaire haben uns am Samstag in Diskussionen und durch ihre Arbeit auf der Straße ein eindrucksvolles Beispiel darin gegeben, welchen Weg Revolutionär*innen in einer solchen Situation einzuschlagen haben.
Perspektiven
Die Situation verändert sich mit jeder Stunde. Wie bereits oben erwähnt hat das neoliberale Macron-Regime inzwischen weitere Zugeständnisse angekündigt, die jedoch den Großteil der französischen Bevölkerung zurecht nicht ansatzweise zufrieden stellen. Es hat am Dienstagabend in Straßburg einen tragischen Terroranschlag gegeben und wir konnten den hetzerischen Versuch der französischen als auch deutschen Medien und Regierungen beobachten, diesen für rassistische Spaltung und Ablenkung zu missbrauchen. Vielleicht pokert die Regierung auf die Weihnachtsfeiertage, die die Situation beruhigen und die Menschen zuhause halten könnten.
Die Schüler*innen haben am Dienstag zu einem „Mardi Noir“ (Schwarzen Dienstag) aufgerufen und haben an hunderten Schulen ihre Streiks und Proteste fortgesetzt und so ihre Rolle als vorwärts treibender Teil der Bewegung ein weiteres Mal unter Beweis gestellt. Einfahrten zu Amazon und Aribus werden von Gelbwesten blockiert und an den wichtigen Häfen sind die Hafenarbeiter*innen im Streik. Am Freitag, den 14.12., besteht, wie oben bereits ausgeführt, mit dem Aktionstag der Gewerkschaften nun die Chance, mit Massenstreiks ein neues Level des Widerstandes einzuläuten. Dieser Versuch verdient die Unterstützung aller Linken und internationale Solidarität!
Als wir am Abend schließlich versuchen vom Place de la République zum Champs Élysée zu gelangen, laufen wir durch eine Stadt im Ausnahmezustand. Technisches Gerät und Einsatzfahrzeuge blockieren jede Zufahrt, Polizist*innen, egal ob in Rüstung oder Zivil, jagen Gilets Jaunes durch die Straßen, Tränengaswolken hängen zwischen den Fassaden und Graffitis bedecken die verbarrikadierten Schaufenster. An einer Häuserwand steht in schwarzer Schrift: „Vive la Commune! Justice sociale ou guerre totale“ (Es lebe die Kommune! Soziale Gerechtigkeit oder totaler Krieg). Nicht weit davon treffen wir auf einen Pariser, der mit seinen Freunden durch die Straßen zieht. Ist er heute auf der Straße gewesen? Na klar, antwortet er und alle seine Freunde nicken heftig, und „wir werden definitiv wiederkommen, da kann Macron machen was er will“.
Am nächsten Morgen gelangen wir schließlich endlich auf „die schönste Straße der Welt“. Putzkräfte müssen die ganze Nacht über im Einsatz gewesen sein, bis auf ein paar Stellen sind alle Graffitis weg. Nur die Holzwände, die noch manche Schaufenster schützen, erinnern an die Gilets Jaunes. Und zehn schwarz gekleidete Männer, die vor dem Eingang zu McDonalds die Taschen durchsuchen. Aber so einfach wegwischen lassen wird sich diese Massenbewegung nicht. Es ist vielleicht (noch) keine Revolution, aber sie bedeutet jetzt schon einen tiefen Einschnitt und den Beginn einer neuen Offensive von unten. Und das Potenzial ist noch viel größer.