Zu den Lehren aus fünf revolutionären Jahren
Revolutionen gehören nicht der Vergangenheit an. Nach der großen Weltwirtschaftskrise von 2008/09 hat international eine Periode von Massenbewegungen und gesellschaftlicher Polarisierung eingesetzt, die wir in der SAV „Periode von Revolution und Konterrevolution“ nennen.
von Sascha Stanicic
Der so genannte arabische Frühling mit dem Sturz der Diktaturen in Ägypten und Tunesien war Teil davon, wie auch die Konterrevolution in Form des al-Sisi-Regimes in Ägypten und des syrischen Bürgerkriegs. Aber auch die Gezi-Proteste in der Türkei, die revolutionäre Krise um die Frage der katalanischen Unabhängigkeit, die Massenproteste, die in Griechenland zur SYRIZA-Regierung und zum Verrat derselben an der Arbeiter*innenklasse führten, sind Ausdruck der Suche von Teilen der Arbeiter*innenklasse und der Jugend nach einem Ausweg aus der Sackgasse des Kapitalismus.
Heute steht die Welt vor einem nächsten Wirtschaftscrash dessen Auswirkungen möglicherweise größer sein werden, als die Folgen der Krise von vor zehn Jahren. Wir sehen jetzt schon eine Verschärfung der internationalen Konkurrenz zwischen Konzernen und Staaten, eine Zunahme protektionistischer Maßnahmen und die Tendenz, dass sich diese Konkurrenz vermehrt in militärischen Konflikten und Kriegen äußert. Das Kapital und seine ihm willfährigen Regierungen versuchen jede Krise auf den Schultern der Massen abzuladen. Die Beschäftigten werden von der nächsten Krise getroffen nach Jahren des Reallohnverlusts, der Flexibilisierung und des gesteigerten Arbeitsstresses. Der Druck auf Löhne und Gehälter wird weiter zunehmen und die Zahl der arbeitenden Armen weiter in die Höhe gehen. Das ist ein Rezept für Radikalisierung, für Klassenkampf, ja für Revolution!
Massen sind entscheidend
Aber was eigentlich ist eine Revolution? Leo Trotzki, neben Lenin der wichtigste Führer der russischen Oktoberrevolution, nannte als das entscheidende Merkmal einer Revolution, dass die Massen selber die Bühne der Geschichte betreten und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Hinzuzufügen ist dem sicher, dass diese direkte Beteiligung der Massen am politischen und gesellschaftlichen Geschehen mit dem Ziel einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse verbunden ist, nicht nur mit der Forderung nach dieser oder jener Reform – wobei solche Forderungen oftmals den Anstoß zu Revolutionen geben können. Denn wenn klar wird, dass unter den bestehenden Verhältnissen selbst Forderungen nach Ende des Hungers, Sicherheit der Arbeitsplätze, Ende eines Krieges oder ähnlichem nicht mehr erfüllt werden können, dann entwickeln solche Forderungen eine revolutionäre Sprengkraft und stellen die bestehenden Verhältnisse in Frage. So war es in Russland 1917, als die Parole der Massen „Land, Frieden, Brot“ war und als sich heraus stellte, dass weder der Zar noch die dem Zaren nachfolgende Provisorische Regierung unter dem gar nicht so revolutionären ‚Sozialrevolutionär‘ Kerenski diese Forderungen erfüllen konnten oder wollten, war die Zeit der Bolschewiki, der russischen revolutionären Marxist*innen gekommen. Lenin sagte einmal, es kommt zu Revolutionen, wenn die Herrschenden nicht mehr in der alten Art und Weise weiter herrschen können und die Massen nicht mehr in der alten Art und Weise weiter leben wollen. Es ist absehbar, dass der Kapitalismus solche Zeiten wieder herbei führt.
Zukunft vorbereiten
Vor dem Hintergrund solcher Zukunftsaussichten hat das Studium vergangener und gescheiterter Revolutionen keinen akademischen Charakter, sondern sollte als Vorbereitung auf die Zukunft verstanden werden. Revolutionen haben bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die von niemandem so offen gelegt wurden, wie von Lenin und Trotzki. Es gilt aus der Geschichte zu lernen. Deshalb ist es sinnvoll für alle, die die Welt verändern und den Kapitalismus abschaffen wollen, sich intensiv mit der Geschichte von Revolutionen zu beschäftigen – mit erfolgreichen genauso wie mit gescheiterten.
Die deutsche Revolution, die sich von 1918 bis 1923 über fünf Jahre entwickelte, ist besonders reich an Lehren. Zwischen dem November 1918 und dem Oktober 1923 hatte die deutsche Arbeiter*innenklasse mehrere Gelegenheiten die Macht der Kapitalisten und Generäle zu brechen und einen demokratischen Arbeiter*innenstaat zu errichten. Die besondere Bedeutung der deutschen Revolution liegt auch darin, dass es sich hier um eines der entwickeltesten kapitalistischen Länder handelte. Ein Land mit einer starken Arbeiter*innenklasse, aber auch einer starken Kapitalistenklasse.
Rolle des Staats
Aus der Geschichte lernen die Gegner*innen der Revolution übrigens auch. Dafür ist der Verlauf der deutschen Novemberrevolution auch ein Beispiel. In mancherlei Hinsicht hatten die damaligen Konterrevolutionäre in SPD und deutschem Generalstab mehr aus der ein Jahr zuvor siegreichen sozialistischen Oktoberrevolution gelernt, als es die deutschen marxistischen Revolutionär*innen um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg getan hatten. Insbesondere hatten sie verstanden, dass man die Revolution von innen zersetzen musste. Diese Aufgabe übernahm die Führung der SPD unter Ebert, Noske und Scheidemann. Diese schickten ihre Leute in die Arbeiter- und vor allem Soldatenräte, propagierten, der Sieg von Sozialismus, Sozialisierung der Wirtschaft und von Volksherrschaft sei schon erreicht und sorgten dafür, dass die Räte ihre Macht schon im Dezember 1918 wieder abgaben und gelähmt wurden. Gleichzeitig sorgte die SPD dafür, dass sich am eigentlichen Staatsapparat so gut wie gar nichts änderte. Theodor Plivier nannte seinen hervorragenden dokumentarischen Roman über die Novemberrevolution „Der Kaiser ging, die Generäle blieben.“ Dem ist nur hinzuzufügen, dass die Minister, Staatssekretäre, Bürgermeister, Polizeichefs und die Fabrikeigentümer in den meisten Fällen auch blieben. Die entscheidende Lehre, die Marx aus den Erfahrungen der Pariser Kommune des Jahres 1871 zog und die von den russischen Revolutionär*innen 1917 beachtet wurde, besagt, dass die Arbeiterklasse, den kapitalistischen Staatsapparat nicht einfach übernehmen und sich nutzbar machen kann, sondern dass sie diesen durch einen eigenen Staatsapparat ersetzen muss. Die demokratisch gewählten Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte bildeten in Russland die Form dieses neuen Staates und hätten dies auch in Deutschland tun können. Doch in den Räten setzte sich kein Bewusstsein für diese historische Aufgabe durch, nicht zuletzt weil die revolutionären Kräfte, die dieses Bewusstsein hatten und versuchten es zu verbreiten, schwach und schlecht organisiert waren.
Und SPD und Kapitalistenklasse zogen aus der entscheidenden Rolle, die Lenin, Trotzki und die bolschewistische Partei bei der Machteroberung durch die russischen Arbeiter- und Soldatenräte gespielt haben, den Schluss, dass man der Revolution die Köpfe abschlagen muss – und sorgten für die Ermordung von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches. Die noch junge Kommunistische Partei Deutschlands war damit im wahrsten Sinne des Wortes kopflos.
Aber trotzdem hat die Arbeiter*in-nenklasse Deutschlands diese und viele andere Rückschläge verarbeitet, die Reihen der Kämpfer*innen neu aufgefüllt, wenn solche getötet oder ins Gefängnis gesteckt wurden und entwickelte sich die KPD zu einer revolutionären, marxistischen Massenpartei bevor sie dann in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auch zum Opfer der internationalen Stalinisierung der Mitgliedsparteien der Kommunistischen Internationale wurde. Die KPD wurde zur Massenpartei, als im Oktober 1920 eine Mehrheit der Delegierten des Parteitags der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) mit 236 zu 156 Stimmen beschloss, der Kommunistischen Internationale beizutreten und sich dementsprechend mit der KPD zu vereinigen. Dieser Beschluss bedeutete, dass die KPD zu einer Partei mit 450.000 Mitgliedern wurde, eine Mehrheit der USPD-Mitglieder diesen Schritt aber nicht mitmachte, sondern sich wieder der alten, reformistischen Mehrheits-SPD zuwandte. Dies illustriert den Charakter von zentristischen Parteien, wie es die USPD war. Sie schwanken zwischen Reformismus und revolutionärer Politik, sind revolutionär in Worten und reformistisch in der Praxis. Aber sie können auf der Basis von Erfahrungen mit Klassenkämpfen und wenn Revolutionär*innen versuchen die Mitglieder und Aktivisten durch Angebote zum gemeinsamen Kampf zu beeinflussen, sich in eine revolutionäre Richtung entwickeln.
Die junge KPD war dann im Herbst 1923 zum ersten und einzigen Mal in ihrer Geschichte in einer Situation, wo sie die Unterstützung der Mehrheit der deutschen Arbeiter*innenklasse genoss. In diesem Jahr höchster revolutionärer Gärung und riesiger Streikbewegungen verpasste die KPD die Gelegenheit zur Machteroberung, weil sie die Stimmung in der Arbeiterklasse unterschätzte, zögerte und keine Führung für die kämpfenden Arbeiter*innen darstellte.
Bedeutung von Führung
Führung ist ein entscheidendes Stichwort. Der bedeutendste Unterschied zwischen der erfolgreichen russischen Revolution und der gescheiterten deutschen Revolution liegt in der Existenz und politischen Reife der bolschewistischen Partei und ihrer Führung von Lenin, Trotzki und anderen in Russland und dem Fehlen einer solchen Partei bzw. der politischen Unreife der KPD in Deutschland.
Während Lenin in Russland über viele Jahre eine gut organisierte revolutionäre Organisation geschulter marxistischer Aktivist*innen aufgebaut hatte, hatten die revolutionären Marxist*innen in Deutschland zu Beginn der Revolution nur lockere Zusammenhänge, vor allem den Spartakusbund. Es gab weder eine kollektive Disziplin, eine klare Strategie, tatsächliche programmatische Übereinstimmung und nur wenige marxistisch ausgebildete und in Betrieben verankerte Mitglieder. Insgesamt umfasste der Spartakusbund im Herbst 1918 nur wenige tausend Mitglieder, nach manchen Angaben sogar nur eintausend. Zur organisatorischen Schwäche kam hinzu, dass viele seiner Mitglieder von revolutionärer Ungeduld erfasst waren und eine ultralinke, sektiererische Politik betrieben. Der Einfluss in den Räten war im November und Dezember 1918 gering, trotz der hohen Autorität von Karl Liebknecht unter Arbeiter*innen. Ultralinke Fehler führten auch dazu, dass die KPD keinen entscheidenden Einfluss auf die Bewegung zur Niederschlagung des Kapp-Putsches 1920 erreichen konnte, auch wenn sie in der Folgezeit stark anwuchs. In den folgenden drei Jahren hatte die KPD ihre ultralinke Politik abgelegt und war zur Massenpartei geworden, ging aber in der revolutionären Situation des Jahres 1923 zu weit in die andere Richtung und zögerte den Schritt zum revolutionären Aufstand zu gehen, aus Sorge die Massen würden nicht folgen. Eine einmalige Gelegenheit wurde so verpasst.
Die Arbeiter*innenklasse hat sich in diesen Jahren immer wieder in den Kampf geworfen, Räte und andere Organe geschaffen, sich bewaffnet. Es fehlte an einer einheitlichen Vorgehensweise, an Organisation und Führung, an einer Vorstellung, wie die Gesellschaft anders organisiert werden kann und wie die Arbeiter*innen die Macht ergreifen und sichern können.
Die deutsche Revolution von 1918 bis 1923 ist also vor allem lehrreich hinsichtlich der zentralen Aufgabe des Aufbaus einer revolutionären Massenpartei, aber auch für die Frage, welche Politik eine solche Partei in revolutionären Situationen betreiben sollte.
Sie unterstreicht auch, dass wichtige Reformen oftmals das Ergebnis revolutionärer Kämpfe sind. Ohne die, aus Sicht der Kapitalisten, drohende sozialistische Revolution, wären im November 1918 Errungenschaften, wie der Acht-Stunden-Tag, das freie und gleiche Wahlrecht und anderes sicher nicht von den Kapitalisten zugestanden worden. Als die Bedrohung aus ihrer Sicht zurück gegangen war, machten diese sich aber auch daran, diese Errungenschaften wieder zurück zu nehmen. Es kann keine halben Revolutionen geben. Die Hoffnung vieler sozialdemokratischer Arbeiter*innen, die bürgerlich-parlamentarische Demokratie sei der erste Schritt zum Sozialismus wurde enttäuscht. Ohne ein Programm für die grundlegende Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse ist kein Sozialismus zu erreichen.
Die deutsche und internationale Arbeiter*innenklasse zahlte einen großen Preis für das Scheitern der deutschen Revolution. Ohne die Niederlagen der Jahre 1918 bis 1923 ist der Aufstieg der NSDAP zu einer faschistischen Massenbewegung, die das deutsche Kleinbürgertum hinter sich sammeln konnte, kaum vorstellbar. Ebenso hätte ein Sieg der Arbeiter*innenklasse in Deutschland die Isolation der jungen Sowjetunion beendet und damit die Entwicklung des Stalinismus verhindern können.