Interessante Serie mit historischem Ausrutscher
„Babylon Berlin“ ist wirklich gelungen. Die Serie ist atmosphärisch dicht, es gibt tolle Schauspielleistungen und eine stimmige Ausstattung. Vor dem historischen Hintergrund des Jahres 1929 wird in den Folgen der ersten zwei Staffeln eine spannende und komplexe Geschichte erzählt, die Spaß und Lust auf mehr macht. Es stellt sich allerdings die Frage, warum bei der mit vierzig Millionen Euro teuersten deutschen TV-Serie das Budget nicht reichte, sauber geschichtliche Fakten zu recherchieren.
Von Claus Ludwig, Köln
In der Serie spielt eine Gruppe von oppositionellen russischen Kommunist*innen eine Rolle. Diese versuchen, das Gold russischer Adliger in ihre Hände zu bekommen, um Stalins Sturz zu betreiben. Sie nennen sich „Rote Festung“ und bezeichnen sich als Anhänger*innen des russischen Marxisten Leo Trotzki, der von Stalin ins Exil verbannt worden war. Allzu weit kommen sie nicht, sie werden schnell von Killern der russischen Botschaft erschossen. Lediglich ihr „Chef“, der Geiger Kardakow, ist nicht totzukriegen und schleppt sich, angeschossen, gefoltert, vergiftet und mit Sturzverletzungen durch Berlin.
Tatsächlich gab es in Berlin trotzkistische Gruppen, aber deren Darstellung im Film ist grotesk falsch. Schon im der Serie zugrunde liegenden Roman „Der nasse Fisch“ von Volker Kutscher ist die Beschreibung historisch nicht korrekt, aber der Autor lässt zumindest einiges im Ungewissen. In der Serie wird die Gruppe genauer und umso falscher dargestellt.
Die „Rote Festung“ scheint vollständig aus geflohenen russischen Oppositionellen zu bestehen. Sie sind fixiert auf die Sowjetunion und den gewaltsamen Sturz des Stalin-Regimes. Sie drucken Flyer mit dem Aufruf für eine „4. Internationale“.
Die 4. Internationale wurde jedoch erst 1938 gegründet. Die ersten Überlegungen für eine neue, vierte, Internationale (die Komintern, die Kommunistische Internationale war die Dritte) datieren aus dem Jahr 1933. Leo Trotzki hielt die KPD und mit ihr die Internationale nicht mehr für reformierbar, weil sie in Deutschland eine kampflose Niederlage erlitten und sich als unfähig erwiesen hatte, den Aufstieg des Faschismus zu stoppen.
Im Jahr 1929 gab es den Begriff der 4. Internationale noch nicht. Die Trotzkist*innen in Deutschland und weltweit sahen sich als loyale Opposition innerhalb der jeweiligen kommunistischen Parteien und der Komintern. Sie kämpften für deren Erneuerung und die Überwindung des Stalinschen Kurses.
Opposition in der KPD
Anfang 1929 waren sie noch mit anderen KPD-Oppositionellen im „Leninbund“ organisiert, der im Lauf der Jahre 1929/30 an inneren Differenzen zerbrach. Die Trotzkisten kritisierten, dass Teile des „Leninbundes“ wie deren Vorsitzender Hugo Urbahns, die KPD abschreiben und eine neue Partei gründen wollten.
Im März 1930 gründeten die Trotzkist*innen eine eigene Organisation namens „Vereinigte Linke Opposition der KPD“. 1931 begannen sie mit der Herausgabe ihrer Wochenzeitung „Permanente Revolution“. Die Hochburgen der KPD/LO waren Bruchsal in Baden, Dinslaken und Erkenschwick im Ruhrgebiet, der Berliner Stadtteil Charlottenburg und Oranienburg im Berliner Umland.
Trotzki und seine Unterstützer*innen legten sich erst Mitte der 1930er auf die Formulierung fest, dass eine politische Revolution zum Sturz der stalinistischen Bürokratie nötig sei, bei Beibehaltung der vergesellschafteten Basis der Produktion. 1929 gingen sie noch davon aus, Partei und Staat der Sowjetunion von innen reformieren zu können.
Zu jedem Zeitpunkt vertraten sie die Auffassung, dass die Sowjetunion – trotz Stalin – gegen die Angriffe des Imperialismus zu verteidigen sei. Sie waren also keineswegs wie im Film davon besessen, Stalins Regime gewaltsam stürzen zu wollen, schon gar nicht mit Zaristen-Gold und der reaktionären „Schwarzen Reichswehr“ im Bunde.
Schlüsselfrage Deutschland
Die Anhänger*innen Leo Trotzkis waren 1929 zudem nicht auf die Sowjetunion fixiert. Dort war die Opposition gewaltsam zerschlagen worden, ihre Aktiven saßen in den Arbeitslagern. Der Kampf dort war zunächst verloren. Im Mittelpunkt der politischen Aktivitäten der Trotzkist*innen und von Trotzki selbst stand Deutschland. Er hatte mit als erster die Gefahr erkannt, die von der Hitler-Bewegung ausging und hatte die KPD gewarnt, dass nur eine korrekte Politiker ihrerseits – ein Einheitsfrontangebot an die SPD, die damals noch eine Arbeiterpartei war – den Aufstieg der Nazis stoppen könnte. Auch die Berliner Trotzkist*innen konzentrierten sich darauf, innerhalb der KPD für die Einheitsfrontpolitik zu kämpfen.
Russische Exilant*innen waren unter ihnen nicht zu finden. Von den russischen Linksoppositionellen hatten es nur wenige geschafft, das Land zu verlassen. Die meisten saßen in Verbannungsorten innerhalb der Sowjetunion, wurden in den Jahren danach in Stalins Arbeitslager geschafft. Viele hatten vor Stalins Gewalt kapituliert und sich an das Regime angepasst. Deutschland gewährte russischen Linksoppositionellen kein Asyl. Lediglich Trotzkis Sohn, Leo Sedow, kam 1931 zum Studium nach Berlin.
Die linke Opposition in Berlin bestand vor allem aus erfahrenen Aktivist*innen der Arbeiterbewegung. Anton Grylewicz war 1912 der SPD beigetreten, 1917 der USPD und gehörte in der Novemberrevolution zur Führung der Revolutionären Obleute. In den 1920ern war er zunächst Reichstagsabgeordneter der KPD, bis 1928 Abgeordneter im Preußischen Landtag. Oskar Hippe (seine Autobiographie ist gerade erneut im maifest-Verlag erschienen) war mit sechzehn Jahren dem Spartakusbund beigetreten und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der KPD.
An der Darstellung der „Roten Festung“ stimmt demnach gar nichts. Es gab eine solche Gruppe nicht und konnte sie auch nicht geben. „Künstlerische Freiheit“, mag so manche*r einwenden. Doch das passt nicht zu einer Serie, die – bei aller dramaturgischen Freiheit – historisch verankert sein möchte und reale Figuren und Organisationen beschreibt, die dermaßen detailgetreu Kostüme, Kulissen und Verhaltensweisen abbildet.
Berlin wimmelte 1929 tatsächlich von russischen Exilant*innen – Adlige, Anhänger*innen des Zaren, Gegner*innen der Sowjetunion. Einige von ihnen waren gewiss in Spionageaktionen und illegale Geschäfte verstrickt. Die Geschichte des Goldes im Giftgas-Zug hätte in ihrem Umfeld angesiedelt werden können, was der Film ja auch andeutet. Die Figur der angeblichen Gräfin Swetlana Sorokina, der Nachtclub-Sängerin Nikoros, ist – bis auf ihre konstruierte Verbindung zur „Roten Festung“ – schon glaubwürdiger als das Märchen von den russischen Trotzkist*innen.
„Krieg der Träume“
Kurz vor Babylon Berlin lief auf ARTE und in der ARD das historische Dokudrama „Krieg der Träume 1918-1939“. „Krieg der Träume“ stellt die Biografien von Menschen in dieser Zeit vor, basierend auf ihren Erinnerungen und Tagebüchern, von Menschen, die durch die politische Polarisierung geprägt waren. Manches ist nicht wirklich interessant, aber es gibt dabei auch viele faszinierende Sequenzen, zum Beispiel die Biografie des bayrischen Kommunisten Hans Beimler, der in der DDR ein Volksheld, in der BRD aber wenig bekannt war.
Die Macher*innen der Serie haben ihren Protagonist*innen Raum zur Selbstdarstellung gegeben, darunter auch widerwärtigen Kreaturen wie Rudolf Höß, nach dem Krieg Kämpfer der reaktionären Freikorps, später Lagerkommandant von Auschwitz.
Ausgerechnet Leo Trotzki wird in dieser Serie nur als Karikatur dargestellt. Er spielt eine Nebenrolle in der Biografie der französischen Anarchistin May Picqueray, die sich 1922 zeitweise in Moskau aufhielt. Trotzki wird darin als diktatorisch und intrigant beschrieben, gepaart mit intellektueller Überheblichkeit und leichter Verrücktheit.
Ob dies auf Picquerays eigener Darstellungen beruht oder auf der Interpretation der Autor*innen der Serie ist uns nicht bekannt. Zumindest hätte die Darstellung Picquerays überprüft werden müssen, da diese dem Bericht anderer Zeitzeug*innen deutlich widerspricht.
Es stellt sich die Frage, ob dies Zufall ist oder ob viele Filmschaffende eher Probleme damit haben, den Marxismus zu beschreiben und politische Phänomene zu erfassen und zu beschreiben, die sich nicht in eine vereinfachte und auf Geschwindigkeit und Sensationslust basierende Dramaturgie pressen lassen?
Trotzki hat nichts Liberales, Gemäßigtes an sich, was wohl so manchen sich als fortschrittlich dünkenden Filmschaffenden als „gut“ vorkommen mag. Er ist ein kompromissloser Revolutionär. Und doch ganz anders als Stalin. Ihm scheint es nicht um „die Macht“ zu gehen, er verzichtet darauf um seiner politischen Ansichten willen. Er geht ins Exil, wird schließlich von Stalins Schergen ermordet. Kein „Guter“ als bürgerlicher Sicht. Aber auch kein Gangster oder Diktator. Da bleiben in einer vereinfachten Weltsicht wohl nur noch die Attribute „exzentrisch“ oder „verrückt“.
Schwer zu erfassen scheint wohl auch die Politik der Trotzkist*innen zu sein. Diese analysieren das Stalin-Regime schonungslos, verteidigen die Sowjetunion jedoch gegen die Konterrevolution. Sie kritisieren die KPD, weil sie nicht entschieden die Nazis bekämpft, treten jedoch für die Einheitsfront mit der SPD ein. Sie sind für volle Wiederherstellung der Arbeiterdemokratie, verteidigen jedoch das Vorgehen der Roten Armee gegen die zaristische Konterrevolution. Sie passen nicht in das Gut-Böse-Schema, sind irgendwie „verrückt“, oder tragische Gescheiterte dar, wie in „Babylon Berlin“.
Dass es nicht unmöglich ist, komplexe politische Gefechtslagen in einem spannenden und Action-orientierten Film unterzubringen, hat Ken Loach mit „Land and Freedom“ (1993), seinem Werk über den Spanischen Bürgerkrieg, bewiesen. Auch „Land and Freedom“ weist filmisch notwendige Verkürzungen und Vereinfachungen auf, ist aber durchgehend sauber recherchiert und schafft es, Konflikte und Widersprüche darzustellen und dabei sämtlichen Protagonist*innen gerecht zu werden und auf Karikaturen zu verzichten.
Ob Pfusch bei der Recherche oder organische Probleme von Filmschaffenden, sich komplexen politischen Inhalten zu nähern – in jedem Fall kann Abhilfe geschaffen werden. Wenn das Geld fehlte, um korrekt zu recherchieren, können Mitglieder der SAV für eine das Budget nicht sprengende Summe die nötigen Infos nachliefern. Sollte die Regisseure und Drehbuch-Autor*innen tiefer sitzende Probleme mit dem Marxismus haben, wären wir bereit, ein Seminar zum Thema zu organisieren und Fragen zu klären.