Antirassistische Bewegung im Aufschwung und gesellschaftliche Polarisierung
Die Jagdszenen und Attacken auf MigrantInnen, JournalistInnen und AntirassistInnen, die sich in Chemnitz abspielten, haben die Republik erschüttert. Menschenverachtung und Hass heraus brüllende, den Hitler-Gruß zeigende, völlig enthemmte Nazis haben Millionen Angst gemacht. Unfähigkeit und Unwilligkeit der Polizei, den Faschisten Einhalt zu gebieten, hat viele sprachlos gemacht.
Von Sascha Staničić
Die Ereignisse von Chemnitz waren in gewisser Hinsicht nichts Neues. Brandstiftungen, Pogrome vor Geflüchtetenunterkünften. Militante Nazi-Aufmärsche gibt es in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren. Aber Chemnitz markiert eine neue Qualität. Zum einen weil es Faschisten in einer Stadt von 250.000 EinwohnerInnen gelungen ist, auf der Grundlage von Demonstrationen in vierstelliger Größe, zeitweise die Straße zu erobern und offenen Terror auszuüben. Zum anderen weil diese Ereignisse zu einem Zeitpunkt stattfinden, in denen mit der AfD eine rechtspopulistische Partei, die einen mehr oder weniger offen faschistischen Flügel hat, in Sachsen stärkste Partei bei den nächsten Wahlen werden könnte. Weil also klar ist, dass die Nazi-Gewalt auf der Straße einen politisch-parlamentarischen Arm bekommen hat und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse viel nachhaltiger beeinflusst werden können. Viele Menschen spüren: die Lage ist ernst.
Polarisierung
Nach dem tragischen Tod des Deutsch-Kubaners Daniel H. ergriffen die Faschisten und Rechtspopulisten die Gelegenheit, diesen zu instrumentalisieren und für ihre rassistische Agenda auszunutzen. Sie hatten geradezu auf eine solche Gelegenheit gewartet, denn im Hin und Her zwischen rechts und links, zwischen Hetze gegen Geflüchtete und Solidarität mit ihnen gibt es seit Wochen und Monaten eine deutliche Aktivierung auf der linken Seite. Mit den Großdemonstrationen gegen die neuen Polizeigesetze in Bayern und Nordrhein-Westfalen, der Massenmobilisierung von bis zu 70.000 gegen den AfD-Aufmarsch im Frühjahr in Berlin, der großen #ausgehetzt-Demonstration gegen die CSU-Politik in München und der #Seebrücke-Bewegung hat es eine starke Mobilisierung gegen Rechts und den Beginn einer sozialen Bewegung gegeben. Dies und die Ereignisse von Chemnitz haben noch einmal vor Augen geführt, dass wir es in der Bundesrepublik nicht mit einem einfachen Rechtsruck, sondern einer starken gesellschaftlichen Polarisierung zu tun haben. Die Nazi-Banden von Chemnitz wirkten dann auch wie die „Peitsche der Konterrevolution“, die eine Gegenbewegung auslöst. In den Tagen nach den faschistischen Mobilisierungen fanden in der ganzen Republik kleinere und größere antirassistische Mobilisierungen statt einschließlich der von der SAV angestoßenen Demonstration von zehntausend Menschen in Berlin-Neukölln am 30. September, 16.000 bei der #Seebrücke-Demo in Hamburg am 2.9. und dem Konzert von Kraftklub, den Toten Hosen und anderen Bands am 3. September in Chemnitz selbst, an dem 65.000 Menschen teilgenommen und ein deutliches Zeichen gesetzt haben: #wirsindmehr !
Dass das gesellschaftliche Pendel nach Chemnitz stärker nach links ausschlägt, ist an zwei Dingen zu beobachten. Erstens war anfangs selbst ein CDU-Rechtsaußen wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, gezwungen, sich deutlich von den Faschisten zu distanzieren und das diesmal ohne bei jeder Gelegenheit eine Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus zu betonen (wenn dies auch natürlich weiterhin geschieht, siehe die BILD-Kampagne gegen die linke Band Feine Sahne Fischfilet). Und auch andere Teile des bürgerlichen Establishments, wie Bundespräsident Steinmeier und Aussenminister Maas, umarmen die antirassistische Bewegung – sicher auch mit dem Ziel, zu verhindern, dass in dieser die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen für das Erstarken der Rechtsextremen thematisiert und beantwortet wird. Auf Seiten der Bürgerlichen, die selbst in der einen oder anderen Form für migrantenfeindliche Diskriminierung verantwortlich sind und den propagandistischen und gesellschaftlichen Boden für AfD und Nazis bereitet haben, ist hier zum einen ein hohes Maß an Heuchelei am Werk, zum anderen sind sie zweifelsfrei auch von ganz profanen ökonomischen Interessen geleitet. Denn die ach so sehr benötigten ausländischen Fachkräfte werden es sich drei Mal überlegen, ob sie in ein Land gehen, in dem man nicht sicher über die Straße gehen kann, wenn man nicht weißer Hautfarbe ist. Zweitens zeigt das Auftreten der von Sahra Wagenknecht und anderen initiierten neuen Bewegung „aufstehen“, wie sehr eine antirassistische Stimmung zugenommen hat. Ganz anders als noch zu Beginn der Öffentlichkeitsarbeit von „aufstehen“ und weit entfernt von dem Ton, den Wagenknecht selbst in den letzten anderthalb Jahren in Bezug auf die Migrationsfrage gesetzt hat, versucht „aufstehen“ nun sich deutlich als antirassistisch zu profilieren. Das ist gut, nennt man aber auch das Fähnchen in den Wind hängen – und keiner weiß, wie nachhaltig das sein wird.
Die polarisierte Lage zeigt sich auch darin, dass immer noch deutlich mehr Menschen praktisch an Solidarität mit Geflüchteten beteiligt sind, als es AfD-WählerInnen gibt. Und auch in diversen Meinungsumfragen. Da erhält in Bayern auf die Frage, was das größte Problem des Freistaats ist die Antwort „CSU“ die höchste Prozentzahl und in Umfragen zu den wichtigsten Themen liegt nicht etwa das Thema „Geflüchtete“ ganz oben, sondern soziale Fragen, wie die des Pflegenotstands. Gleichzeitig sollte nicht unterschätzt werden, wie das migrantenfeindliche Propagandatrommelfeuer der letzten Jahre Wirkung erzielt hat und bestimmte Positionen breit akzeptiert sind. Das führt dann unter anderem dazu, dass selbst ein linker Oberbürgermeister, wie René Wilke in Frankfurt/Oder, die Abschiebung von syrischen Geflüchteten, die sich strafbar gemacht haben, fordert und auf den Hinweis, dass das eine Abschiebung in den Tod bedeuten kann, antwortet: „Die Entscheidung trifft jeder Asylbewerber selbst. Er hat die Wahl, ob er sich an unsere Gesetze hält oder zum Straftäter wird – und damit die Ausweisung riskiert.“
Dynamische Bewegung gegen Rechts
Es gibt zur Zeit eine dynamische Gegenbewegung gegen Rechts (und mit „Rechts“ sind nicht nur AfD und Nazis, sondern auch die Seehofers und Söders gemeint). Diese wird nicht nur durch die Ereignisse von Chemnitz angeheizt, sondern auch durch die skandalösen Aussagen von Horst Seehofer und Michael Kretschmer seitdem. Seehofers Aussage, die Migration sei „die Mutter aller Probleme“ und Kretschmers Behauptung, es habe in Chemnitz weder einen Mob noch eine Hetzjagd auf der Straße gegeben, zeigen, dass diese Herren ihren rechten Kurs nicht korrigieren werden und weiterhin versuchen, rassistische Ausgrenzung zu betreiben und damit AfD-WählerInnen zurück gewinnen wollen.
Diese kann mit der für Mitte Oktober angesetzten #unteilbar-Demonstration einen vorläufigen Höhepunkt erlangen. Diese Demonstration muss zu einem Erfolg gemacht werden, um zu unterstreichen: #wirsindmehr ! Aber es sollte auch klar sein: solange die Solidarität mit MigrantInnen und der Widerstand gegen Rassismus und Faschismus nicht mit dem Kampf für die Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen zusammen gebracht wird, solange die soziale Frage nicht wieder in den Mittelpunkt gerückt wird und für Millionen sichtbar wird, dass die tatsächlichen Grenzen in der Gesellschaft nicht zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Nationalität oder Religionszugehörigkeit, sondern zwischen oben und unten verlaufen, solange es nicht zu einem Aufschwung von Klassenkämpfen und sozialen Bewegungen kommt, ist die Gefahr von rechts da und wird stärker.
Krankenhausbeschäftigte und ihre Gewerkschaft ver.di haben in den letzten Jahren gezeigt, dass es möglich ist, erfolgreich für Verbesserungen zu kämpfen. Ausgehend von den Streiks an der Berliner Charité hat sich eine bundesweite Bewegung für mehr Personal in den Krankenhäusern entwickelt, die nun auch in den Uniklinika Essen und Düsseldorf durch Streiks Erfolge erzielen und auch dem Gesundheitsminister Spahn erste Konzessionen abringen konnte. Diese Bewegung wurde von unten in der Gewerkschaft durchgesetzt. Und leider bildet sie noch eine Ausnahme. Dabei wären es die Gewerkschaften, die – nicht zuletzt weil sie Millionen von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zusammen bringen – das Potenzial hätten, den Kampf für soziale Verbesserungen und den Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus voran und zusammenzubringen. Dass ausgerechnet die Gewerkschaftsführungen nach Chemnitz keine lautstarke Kampagne begonnen haben, ist ein Armutszeugnis. Tatsächlich konnte man keine Aufrufe der Gewerkschaften finden, an den antirassistischen Protesten teilzunehmen und erst am 4.9. veröffentlichte der DGB-Vorstand eine Presseerklärung gegen rassistische Hetze, die aber keine konkrete Handlungsperspektive für die Gewerkschaften enthält. Antirassistische und kämpferische GewerkschafterInnen sollten sich dafür einsetzen, dass die Gewerkschaften zur #unteilbar-Demonstration im Oktober aufrufen und massiv mobilisieren.
DIE LINKE
Leider zeigt sich DIE LINKE bisher unfähig, das für sie bestehende Potenzial in Wählerstimmen und Mitglieder umzusetzen. Das hat vor allem etwas damit zu tun, dass sie sich nicht ausreichend deutlich von den Parteien des Establishments abgrenzt, vor allem nicht in Ostdeutschland, wo sie auf Landes- und kommunaler Ebene an Regierungen beteiligt ist, die keinen tatsächlich erlebbaren Unterschied zu anderen Regierungen machen. Das hat etwas damit zu tun, dass sie auch in Westdeutschland oftmals zu sehr in der parlamentarischen Arbeit, nicht zuletzt in den Stadtparlamenten, verhaftet ist und zu wenig bei den Menschen ist, die sich aktiviert haben und mit ihnen kämpft. Es ist bezeichnend, wenn bei dem Konzert gegen Rechts, das am 3. September in Chemnitz stattfand, DIE LINKE gar nicht sichtbar ist und den vielen, die dort nach einem Weg suchen, sich den Rechten entgegenzustellen, kein Angebot macht. Die relative Schwäche der LINKEN hat auch etwas mit dem Agieren der Fraktionsvorsitzenden Wagenknecht zu tun, die mit ihren migrationspolitischen Äußerungen bei vielen Verunsicherung ausgelöst hat und einen innerparteilichen Streit ausgelöst hat, der DIE LINKE natürlich nach außen hin als zerrissen und unattraktiv erscheinen lässt.
Die von der Partei begonnenen Kampagnen zu den Themen Pflege und Wohnen können aber einen Weg in die richtige Richtung aufzeigen, wenn sie entschlossen, kämpferisch und zugespitzt geführt werden. Und wenn in ihnen klare Forderungen, wie die nach der Enteignung der großen privaten Wohnungsunternehmen und eine die Selbstorganisation der Betroffenen in Mieterinitiativen und Gewerkschaften fördernde Praxis in den Mittelpunkt gerückt werden. Das würde sich dann auch in Wählerstimmen niederschlagen. Wenn die Partei solche Kampagnen damit verbinden würde, die Notwendigkeit einer grundlegenden, sozialistischen Veränderung der Gesellschaft zu erklären, würde sie sich klar vom verhassten Establishment abgrenzen und könnte einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer sozialistischen Bewegung leisten.