Wenn man das Ahmadinedschad-Regime überwinden will, muss man Klarheit über seinen Charakter erlangen, über die gesellschaftlichen Kräfte und Verhältnisse, auf die es sich stützt, über seine Entwicklungsmöglichkeiten und inneren Widersprüche. Der komplizierte Prozess von Revolution und islamistischer Konterrevolution 1978-81 hat gezeigt, dass der Sturz eines Regimes nicht automatisch bedeutet, dass es durch etwas Besseres ersetzt wird. Als MarxistInnen gehen wir davon aus, dass entscheidend für das Verständnis des gegenwärtigen Herrschaftssystems im Iran und der Kräfte, die es bekämpfen, nicht der Islam oder die Mentalität der Menschen im Iran sind, sondern die wirtschaftlichen Verhältnisse und Strukturen.
von Wolfram Klein
Dieser Text soll erklären, warum das Bürgertum im Iran nie eine revolutionäre Rolle wie in Frankreich 1789 spielte und wie trotzdem kapitalistische Verhältnisse im Iran entstanden. Das politische System von Khomeini bis Ahmadinedschad ist kein „vorkapitalistisches Überbleibsel“ sondern eine Herrschaftsform, die sich aus der Stellung des Iran in der kapitalistischen weltweiten Arbeitsteilung ergibt. Deshalb ist es weder möglich, einzelne Symptome wie Korruption und Unterdrückung gründlich zu beseitigen, ohne das gesamte Herrschaftssystem zu stürzen, noch ist es möglich, dieses Herrschaftssystem durch eine stabile Demokratie auf kapitalistischer Grundlage zu ersetzen. Die Ersetzung der Mullahs durch ein vom Imperialismus abhängiges Regime ist möglich, würde aber für die Massen dauerhaft so wenig bringen, wie die Ersetzung des pro-westlichen Schah durch das jetzige Regime. Wenn unser Buch den Titel „Freiheit durch Sozialismus“ trägt, dann drückt sich darin genau diese Einschätzung aus, dass ein wirklicher Fortschritt im Iran weder durch Reformen noch durch eine rein politische Revolution zu erreichen ist, sondern nur durch eine soziale Revolution, die den Kapitalismus überwindet und ein Beitrag ist, weltweit eine sozialistische Gesellschaft einzuführen. Um den LeserInnen so weit reichende Schlussfolgerungen nicht nur vorzusetzen, sondern sie zu begründen, ist es notwendig, etwas weiter auszuholen.
Der vorkapitalistische Iran
Gesellschaften, in denen die Landwirtschaft dominiert – und in der Landwirtschaft der Großgrundbesitz – werden oft als feudalistisch bezeichnet. Marx und andere marxistische Klassiker hatten wesentlich differenziertere Ansichten. Marx schrieb wiederholt von einer „asiatischen Produktionsweise“64. Die iranische Landwirtschaft ist seit Jahrhunderten dadurch geprägt, dass es Gebiete gibt, in denen Ackerbau betrieben werden kann – oft nur mit Bewässerung, während sich andere Gebiete nur zur Viehzucht eignen und andere gar nicht landwirtschaftlich nutzbar sind. Dieses Nebeneinander von sesshaften Ackerbauern und nomadischen Viehzüchtern führte alle paar Jahrhunderte dazu, dass Nomadenstämme oder Bündnisse von Stammesgruppen die politische Macht eroberten und eine neue Dynastie errichteten. Die siegreichen Nomadenstämme übten ihre Herrschaft erst über ihre traditionellen Stammes- und Loyalitätsstrukturen aus.
Wenn eine neue Dynastie errichtet wurde, vertraute der Herrscher seinen Vertrauten bestimmte Provinzen an. Diese Leute waren zunächst faktisch unabhängige Herrscher, die nur nominell der Zentralregierung und dem Schah unterstanden.65 Nach und nach konnte der Schah die Provinzregenten gegeneinander ausspielen und die Herrschaft einer zentralisierten Bürokratie errichten. Die Provinzverwalter waren in dieser zweiten Phase nur Steuer- oder Tributeintreiber (Tuyuldare), die jeder Zeit in Ungnade fallen und ihren Posten verlieren konnten. Es gab aber eine Tendenz dieser Steuereintreiber, sich der Stellung erblicher Großgrundbesitzer anzunähern. So kam es dann jeweils in einer dritten Phase zur Schwächung der Zentralgewalt und der Verlagerung der Macht an örtliche Großgrundbesitzer. Dieser geschwächte Staat konnte dann wieder von Nomadenstämmen erobert werden und der Kreislauf begann von Neuem. Es gab also im Mittelalter keine Kontinuität des zentralen Staatsapparats. Noch weniger kann man den modernen bürokratischen Staatsapparat des Iran als Fortführung dieses mittelalterlichen Staats betrachten und daraus einen vorkapitalistischen Charakter des heutigen Staats ableiten.
Das Eigentum der Tuyuldare war nie so sicher, wie das feudaler Großgrundbesitzer im europäischen Mittelalter – und spätestens, wenn eine neue Dynastie an die Macht kam, war es mit der Herrlichkeit vorbei. Dadurch hatten diese Tuyuldare ein Interesse, das ihnen anvertraute Gebiet möglichst schnell auszuplündern, aber wenig Interesse, die Landwirtschaft in ihrem Herrschaftsbereich weiterzuentwickeln. Auch ihr Verhältnis zu den Bäuerinnen und Bauern war anders. Im europäischen Mittelalter waren für jeden Hof bestimmte Abgaben festgelegt (Frondienste, ein bestimmter Teil der Ernte usw.), die sich in einer so konservativen und von Traditionen bestimmten Gesellschaft nur langsam ändern ließen. Verbesserungen in der Landwirtschaft führten in Europa erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zu höheren Abgaben. Im Iran hatten die Bauern einen solchen Anreiz zur Verbesserung ihrer Wirtschaft nicht. Die Abgaben mussten nicht von einzelnen Höfen, sondern von ganzen Dörfern geleistet werden. Der einzelne Bauer hatte keinen Anreiz, seine Produktion zu steigern, wenn er damit vor allem seinen Anteil an den Steuerzahlungen seines Dorfes erhöhte. So hatten weder die Bauern noch die Tuyuldare ein Interesse an der Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktivkräfte. Tatsächlich gab es in der frühen Neuzeit einen Niedergang der iranischen Landwirtschaft, die immer mehr ausgesaugt wurde. Dazu kamen die Folgen der wiederholten Eroberungen durch Nomadenstämme.
Während die europäischen mittelalterlichen Feudalherren auf dem Lande lebten, wohnten die iranischen Großgrundbesitzer in den Städten. In Europa haben sich die Städte im hohen Mittelalter von den feudalen Stadtherren befreit und entwickelten sich in einem Spannungsverhältnis zum Feudalismus auf dem Lande, das durch wirtschaftlichen Austausch und politischen Gegensatz geprägt war. Dagegen waren die iranischen Städte der Sitz der Großgrundbesitzer. Es gab zwar wie in Europa Handwerkerzünfte und Kaufmannsgilden (Asnaf), aber diese regierten nicht wie im mittelalterlichen Europa die Städte. Da es keine städtische Selbstverwaltung wie in Westeuropa gab, übernahmen die Zünfte und Gilden teils deren Aufgaben. Es gab auch nicht viel Handel zwischen bäuerlicher Landwirtschaft und städtischem Handwerk, sondern Steuer- und Tributzahlungen der Dörfer an die in den Städten lebenden Großgrundbesitzer.66 Dadurch war bei der städtischen Handwerksproduktion der Anteil der Güter des täglichen Gebrauchs geringer und der Anteil der Luxusgüter für die Reichen größer, die Notwendigkeit zur Massenproduktion, zum Einsatz von Maschinen und zur industriellen Entwicklung war daher weit geringer.
So gab es im Iran weder auf dem Lande noch in der Stadt Ansatzpunkte für eine kapitalistische Entwicklung ähnlich wie in Westeuropa. Zum wirtschaftlichen Niedergang in der frühen Neuzeit trug auch der Niedergang des Karawanenhandels durch die Verlagerung der Handelsströme als Folge des europäischen Seehandels im indischen Ozean seit dem Beginn des Kolonialismus im 16. Jahrhundert bei. Ob man diese Wirtschaftsform mit Marx als „asiatische Produktionsweise“ bezeichnet oder als eine Spielart des Feudalismus auffasst, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass sich keine Dynamik hin zum Kapitalismus entwickeln konnte und damit auch kein Bürgertum als revolutionäre Klasse. Ein iranisches Gegenstück zur französischen Revolution 1789 konnte es nie geben.
Revolutionäre Organisationen, die ihre Strategie und Taktik im Kampf gegen den Schah nicht auf dieser Erkenntnis aufbauten, und dem iranischen Bürgertum eine Rolle wie dem französischen 1789 zutrauten oder eine revolutionäre nationale Bourgeoisie im Unterschied zu einer von Imperialismus abhängigen Kompradoren-Bourgeoisie suchten und dann Khomeini für deren Vertreter hielten, machten einen schweren Fehler (vgl.: „Revolution und Konterrevolution 1978-81“). Das gleiche gilt für heutige Hoffnungen in den Rafsandschani-Mussawi-Flügel der Kapitalisten im Kampf gegen Ahmadinedschad (vgl.: „Perspektiven und Aufgaben der iranischen Revolution“).
Dabei unterschied sich die iranische Wirtschaft auch in bestimmten Punkten von der typischen „asiatischen Produktionsweise“, wie Marx sie beschrieben hat. Vor allem gab es im Iran keine riesigen Flüsse wie den Nil in Ägypten, Euphrat und Tigris (nur deren jeweiliger Unterlauf bildet seit Jahrhunderten die iranische Grenze), Indus, Ganges und Brahmaputra auf dem indischen Subkontinent oder Jangtsekiang und Hoangho in China. Diese Ströme machten riesige zentralisierte Be- und Entwässerungssysteme notwendig, um Dürren oder Überschwemmungen zu verhindern. Unter solchen Verhältnissen war ein zentralisierter Staatsapparat notwendig. Im Iran dagegen war eine solche Zentralisierung nicht notwendig. So konnte es im Iran einen Kreislauf von lockeren Strukturen – unmittelbar nach der Machteroberung und Gründung der Dynastie durch einen Nomadenstamm – und Zentralismus geben.
Der Iran und die kapitalistische Weltwirtschaft
Im 19. Jahrhundert begann die Integration des Iran in die sich herausbildende kapitalistische Weltwirtschaft. Eine Besonderheit des Iran war, dass es zwischen dem sich in Zentralasien ausdehnenden russischen Zarenreich und dem den indischen Subkontinent erobernden britischen Kolonialreich lag. Diese Situation paralysierte den iranischen Staatsapparat noch mehr, weil pro-russische und pro-britische Gruppen in ihm einander bekämpften. Dagegen hatte er für die iranischen Kaufleute positive Wirkungen. Weil sie von russischer und britischer Seite hofiert wurden, konnten sie recht gute Geschäfte machen. Es gab vergebliche Versuche, den Staatsapparat durch Verwaltungsreformen, das Imitieren europäischer Vorbilder, effizienter zu machen. In der Realität schwand jedoch die Durchsetzungsfähigkeit des Staatsapparates, die Staatsfinanzen gerieten immer tiefer in die roten Zahlen. Die Regierung versuchte, durch den Verkauf von Ämtern und Titeln, die Verpachtung staatlicher Einnahmequellen, die Vergabe von Konzessionen – all das oft an ausländische Kapitalisten – und Anleihen im Ausland kurzfristig Geld aufzutreiben, wodurch die langfristigen Probleme immer größer wurden.
Der Import von Textilien zu Dumpingpreisen, oft trotz hoher Transportkosten zu niedrigeren Preisen als in ihren Herstellungsländern, verschaffte zwar Kaufleuten Gewinne, ruinierte aber die heimische Textilherstellung. Der Iran verwandelte sich in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem Land, das seine Baumwolle verarbeitete und einen Teil der Baumwollprodukte exportierte, in ein Land, das seine Baumwolle zu großen Teilen exportierte und die fertigen Baumwollprodukte dann wieder importierte, wie die Struktur der Exporte nach Russland, dem wichtigsten Handelspartner, zeigt:
Tabelle 1: Anteil an den iranischen Exporten nach Russland (in %)67
Jahr |
1844 |
1870 |
1910 |
Baumwollprodukte |
52,3 |
25,3 |
0,0 |
Rohbaumwolle |
0,0 |
19,7 |
31,1 |
Insgesamt wurde der Iran von einem Exporteur von gewerblichen Produkten zu einem von Agrarprodukten, wobei der Außenhandel insgesamt enorm zunahm. Die einzigen nennenswerten „gewerblichen“ Exportartikel waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts Teppiche, Lederprodukte, Henna und Opium. Offensichtlich bot das wenig Ansatzpunkte für eine kapitalistische Industrie. Versuche von Fabrikgründungen durch ausländische und iranische Kapitalisten waren wenig erfolgreich. Stattdessen führte das Niederkonkurrieren heimischer Gewerbe durch Billigimporte zum Niedergang der Zünfte.
Die Tuyuldare nutzten die Schwäche des Staatsapparats, um ihr Land in unbeschränktes Privateigentum zu verwandeln. So entstand die Klasse von Großgrundbesitzern, die erst durch die Reformen in den 1960er Jahren wieder beseitigt wurde. Zugleich beschränkten sie sich nicht mehr darauf, Steuern und Abgaben abzuschöpfen, sondern griffen auch in die Agrarverhältnisse ein. Die Produktion für den Export nahm zu. Teilweise war diese Umstellung der Produktion auf neue Produkte für den Export mit einer Steigerung der Arbeitsproduktivität verbunden. Aber in den Bereichen, in denen die Nahrungsmittel für die eigene Bevölkerung produziert wurden, blieb die Landwirtschaft rückständig – so dass auch der Spielraum für die Umstellung der Landwirtschaft für den Export gering war.
Da die Großgrundbesitzer den Anbau für den Export so stark ausdehnten, dass nicht mehr genug Nahrungsmittel für den Eigenbedarf angebaut wurden, kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiederholt zu Hungersnöten, Nahrungsmittel mussten importiert werden, der Lebensstandard der Bauernschaft sank, die Nahrungsmittelpreise stiegen, worunter auch die Masse der städtischen Bevölkerung litt. Die Großgrundbesitzer versuchten, die verschärfte Ausbeutung der Bauernschaft durch die Einführung von Formen der Leibeigenschaft abzusichern. Manche AutorInnen sprechen in diesem Zusammenhang von Feudalismus oder halbfeudalen Verhältnissen. Diese iranischen „Feudalherren“ lebten aber anders als Feudalherren im europäischen Mittelalter weiterhin in den Städten – und beuteten die Bauern nicht für den Eigenbedarf aus, sondern für den Export ins Ausland.
Ende des 19. Jahrhunderts trat das Bündnis von Basar und Ulama schon als oppositionelle politische Kraft auf. Zum Basar gehörten die handwerklichen Warenproduzenten und die Verkaufsläden samt der Geldgeschäfte, die mit dem Handel verbunden waren. Sozial gesehen standen die Groß- und Fernkaufleute am oberen Ende, die StraßenhändlerInnen am unteren. Diese soziale Vielschichtigkeit des Basars bedeutete, dass er nicht immer einheitliche Interessen hatte. Importe konnten für Kaufleute eine Einnahmequelle sein und für Handwerker übermächtige Konkurrenz. Unter Ulama waren nicht einfach Priester im westlich-christlichen Sinne zu verstehen, sondern islamische Rechtsgelehrte, die auf Basis der Schari‘a Recht sprachen, Rechtsgutachten abgaben, das Bildungs- und Sozialwesen organisierten und damit auch eine wichtige ideologische Macht darstellten. Das Bündnis zwischen ihnen bestand sowohl aufgrund eines Netzwerks vielfältiger verwandtschaftlicher Beziehungen als auch wegen gemeinsamer Interessen, der Begrenzung westlichen Einflusses. Die Konkurrenz der Billigimporte hatte die Stellung der Handwerker geschwächt, die – bis dato gescheiterten – Versuche der Modernisierung des Staatsapparats bedrohten die Stellung der Ulama in Rechtswesen, Bildung usw. Die Großkaufleute machten zwar hohe Gewinne, ihre Möglichkeiten, diese Gewinne wieder zu investieren, waren aber beschränkt. Die Schlagkraft dieses Bündnisses zeigte sich 1892: Der Schah verkaufte in seiner ständigen Geldnot das Monopol der Tabakerzeugung und des Tabakhandels an ein britisches Unternehmen. Das führte zu einer großen Protestbewegung. Der Basar bekämpfte diesen Angriff auf die traditionellen Tabakhändler, die Ulama machte durch ein Rechtsgutachten den Tabakboykott zur religiösen Pflicht. Der Schah musste nachgeben.68
Der Basar ähnelte von seiner sozialen Zusammensetzung her den französischen revolutionären Kleinbürgern und Kapitalisten von 1789. Auch in Frankreich spielte die Opposition gegen ausländische Konkurrenz eine Rolle, ein Auslöser der Revolution war ein Handelsvertrag mit England von 1786. Aber das französische Bürgertum suchte sein Heil in der Abschaffung der Zunftvorschriften, einer Modernisierung des Staatsapparats und dem Bündnis mit der Aufklärungsphilosophie, während die iranischen Basaris im Bündnis mit der Ulama Veränderungen abwehren wollten. Das lag einmal daran, dass die Schwäche und Rückständigkeit der iranischen Basaris gegenüber dem Westen viel größer war als 1789 die Rückständigkeit der französischen Kapitalisten gegenüber der englischen Konkurrenz. Zum anderen versuchten die führenden kapitalistischen Länder Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur wie England 1786, Waren zu exportieren, sondern den Rest der Welt als Kolonien und Einflusssphären unter sich aufzuteilen und Kapital zu exportieren, zu investieren. Der Kauf des iranischen Tabakmonopols war kein Warenexport, sondern eine Investition. Die französischen Kapitalisten konnten mit Ende des 18. Jahrhunderts hoffen, in einer revolutionären Kraftanstrengung mit der englischen Konkurrenz gleichzuziehen, für die iranischen Basaris war dies aussichtslos.
Im Gefolge der russischen Revolution von 1905 kam es zur „Verfassungsrevolution“ von 1906-1911. Die zentrale Forderung der Revolution war die Einführung einer Verfassung aus der etwas naiven Überlegung heraus, dass die westlichen Länder Verfassungen hatten und es darin allen besser ging. Aber natürlich brachte die Imitation der belgischen Verfassung nicht belgische Verhältnisse. Die wirtschaftliche Rückständigkeit und die Stellung des Iran in der Weltwirtschaft änderten sich nicht. Außerdem beantwortete die Forderung nach einer Verfassung noch nicht die Frage, was in der Verfassung stehen würde, welchen Klasseninteressen sie entsprechen würde. So beteiligten sich an der Verfassungsrevolution Kräfte mit gegensätzlichen Zielen, die sich nur in der Ablehnung der Herrschaft des Schah einig waren: Sowohl die Basar-Ulama-Allianz, der die bisherigen Reformversuche des Schah zu weit gingen als auch reformorientierte Teile des Staatsapparats, denen sie zu unentschlossen waren. Im Parlament saßen aufgrund des eingeschränkten Wahlrechts nur für Besitzende vor allem Vertreter der Großgrundbesitzer, die vor allem ihre eigene Verwandlung von Steuerpächtern in Privateigentümer legalisierten. Die Regierung hatte wenig Macht und nach wenigen Jahren beendeten russische Truppen den Verfassungsversuch: Sie besetzten den Norden das Landes und erzwangen die Schließung des Parlaments.69
Die russische Revolution von 1917 hatte noch größere Auswirkungen als die von 1905. Aber den herrschenden Klassen erschien sie nicht als Vorbild, sondern als Bedrohung. Jetzt waren sie sich einig, dass sie einen starken Staatsapparat brauchten, um ihre Herrschaft gegen den revolutionären Nachbarn im Norden und revolutionäre Bewegungen im eigenen Land zu verteidigen. Reza Khan, der Kommandeur einer Kosakeneinheit, dem einzigen stehenden Heer, das der Iran damals hatte, begann mit dem Aufbau einer modernen Armee und eines modernen Staatsapparats, putschte den bisherigen Schah weg und ließ sich zum Schah krönen. Aus Angst vor der Revolution wehrte sich die Ulama diesmal nicht dagegen, dass ihre Funktionen in Rechtswesen und Bildung durch Institutionen nach westlich-kapitalistischem Vorbild ersetzt wurden. Ebenso schluckte es der Basar, dass die bereits stark geschwächten Zünfte und Gilden völlig beseitigt wurden. Die Stammesstrukturen wurden ebenso bekämpft, die Nomaden zwangsweise sesshaft gemacht und nicht-persische Nationen unterdrückt.
Dagegen wurden die Grundeigentümer weiter gestärkt, durch das neue Zivilrecht und das Landregistrierungsgesetz in den Jahren 1928-30. Sie wurden von Territorialfürsten in Staatsbürger verwandelt, aber in sehr reiche Staatsbürger. Der Verkauf von Staatsland stärkte die Großgrundbesitzer weiter, während umgekehrt die führenden Staatsbürokraten sich durch Beschlagnahmungen usw. selbst in Großgrundbesitzer verwandelten. Der Staat verzichtete auf die Erhebung von Grundsteuern nachdem die alten Steuereintreiber jetzt Großgrundbesitzer waren und ihre Einkünfte für sich behielten und finanzierte sich vor allem durch indirekte Steuern. Zugleich hatte sich die Stellung des Iran auf dem Weltmarkt drastisch verschlechtert.
Der erste Weltkrieg, die daraufhin einsetzende Verelendung der Massen und dann die Große Depression ließen die Preise der agrarischen Exportwaren fallen. Dazu kam der Wertverfall des Silber, der die damalige iranische Silberwährung (Krain) entwertete und Importe verteuerte. Als Folge gab es eine deutliche Zunahme von Industriebetrieben, die aber vor allem Konsumgüter erzeugten wie Textilien, Zucker und Streichhölzer, die früher importiert wurden. Die Zahl der Beschäftigten in den in den 1930er Jahren gegründeten Industriebetrieben wird mit weniger als 50.000 angegeben, im Durchschnitt weniger als 200 pro Betrieb. Ein beträchtlicher Teil dieser Betriebsgründungen ging vom Staat aus, der außerdem große Investitionen im Eisenbahn- und Straßenbau ausgab. Die Öleinnahmen waren damals noch niedrig, die Anglo-Iranian Oil Company (AIOC, sie hieß damals offiziell noch Anglo-Persian Oil Company) strich den Löwenanteil ein. 1919-1930 ging ein Zwanzigstel der Einnahmen der AIOC an den iranischen Staat, in den 1930er Jahren war der Anteil etwas höher. Die Öleinnahmen machten aber auch in dieser Zeit nur einen Bruchteil der Staatseinnahmen aus (z.B. 1937 12 Prozent). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in einer Reihe von Öl-Ländern der Anteil der Regierungen an den Öleinnahmen zu Ungunsten der multinationalen Konzerne erhöht. Im Iran betrieb der Ministerpräsident Mossadegh eine solche Politik bis zu seinem Sturz 1953.
Die „Weiße Revolution“ des Schah
Der Schah stützte sich bei seinem Staatsstreich gegen Mossadegh 1953 auf den US-Imperialismus und die Großgrundbesitzer und die Basar-Ulama-Allianz. In den folgenden Jahren gab es einen deutlichen Wirtschaftsaufschwung, weil der Iran jetzt einen höheren Anteil an den Öleinnahmen erhielt. Der Aufschwung führte aber bald zu wirtschaftlichen Schieflagen und einer schweren Wirtschaftskrise ab 1960, in deren Gefolge Klassenkämpfe und soziale Unruhen zunahmen. Durch Reformen von oben sollte einer Revolution von unten vorgebeugt werden. Zugleich sollte durch die Modernisierung des weiterhin extrem rückständigen Agrarsektors die Arbeitsproduktivität der Landwirtschaft erhöht und dadurch ein Hindernis für die allgemeine Entwicklung des iranischen Kapitalismus beseitigt werden. Durch diese, Weiße Revolution genannten Reformen wurden die Großgrundbesitzer als Klasse beseitigt70, auch wenn einzelne Großgrundbesitzer ihr Land durch Überschreiben an Verwandte retteten und Betriebe mit modernen Produktionsmethoden von der Enteignung ausgenommen waren. In der Praxis hieß das, dass sie Entschädigungen erhielten und ihr Geld jetzt in anderen Wirtschaftsbereichen investierten. Die Bauern erhielten das Land, das sie bisher bebaut hatten, als Eigentum. Landlose Bauern erhielten nichts. Mit den Reformen stellte sich der Schah gegen die Großgrundbesitzer und die Basar-Ulama-Allianz – zu den enteigneten Großgrundbesitzern gehörten auch religiöse Einrichtungen –, hatte aber die Unterstützung des US-Imperialismus. Mit den Agrarreformen herrschten in der gesamten iranischen Wirtschaft spezifisch kapitalistische Verhältnisse.
In den folgenden Jahren verschob sich das Schwergewicht der Landwirtschaftspolitik von der Kleinbauernschaft hin zu Agrarkapitalisten. Bäuerliche Genossenschaften förderten vor allem die wohlhabenderen Bauern, zugleich wurden Bauern massiv unter Druck gesetzt, ihr Land zu Aktiengesellschaften zusammenzuschließen. Daneben gab es agroindustrielle Großbetriebe, die oft multinationalen Konzernen gehörten. Die Politik trug zu einer starken Landflucht bei. Viele entwurzelte Bauern zogen in die Städte.
Khomeini hatte seine zentrale politische Rolle Anfang der 1960er Jahre begonnen als ein Führer der reaktionären Opposition von Großgrundbesitzern, Basar und Ulama gegen die Reformen des Schahs. Als Khomeini 1979 an die Macht kam, konnte er aber nicht daran denken, seine alten Verbündeten zu bedienen und den Großgrundbesitz wiederherzustellen. Tatsächlich flohen Großgrundbesitzer vor der Revolution, es gab geringfügige Landverteilungen an landlose Bauern statt Rückgabe an die Großgrundbesitzer. Es wurde teilweise die Tendenz rückgängig gemacht, die selbstständigen Bauern durch Zwangszusammenschlüsse oder Verdrängung durch kapitalistische Großbetriebe zu ersetzen – also von der zweiten Phase der Agrarreformen des Schah zur ersten zurückzukehren, zu der Phase, gegen die Khomeini & Co Anfang der 1960er Jahre rebelliert hatten!
Das unterstreicht, dass die iranische Revolution 1979 eine echte Revolution war. Khomeinis Reaktionäre konnten die Revolution ausmanövrieren und politisch entmachten und sich die Macht unter den Nagel reißen, aber nur, weil sie auf ihr soziales Programm weitgehend verzichteten. Statt dessen wurden in den folgenden Jahren echte Anstrengungen unternommen, die Verhältnisse in den ländlichen Gebieten zu entwickeln. Die Verhältnisse in der Landwirtschaft bestätigen, dass die Wirtschaft im heutigen Iran keineswegs vorkapitalistisch ist, abgesehen davon, dass auch die früheren in den Städten lebenden Großgrundbesitzer, die für den Weltmarkt produzieren ließen, Feudalherren nur oberflächlich ähnelten.
Ölrente und Kapitalismus
Viele AutorInnen bezeichnen den Iran als Rentenökonomie oder Rentierstaat71. Hinter diesen Schlagworten können sich aber verschiedene Inhalte verbergen. Man kann unter einer Rentenökonomie eine kapitalistische Volkswirtschaft mit Besonderheiten verstehen, man kann darunter aber auch eine nichtkapitalistische Wirtschaftsweise verstehen, in der die Staatsbürokraten und nicht die Kapitalisten die herrschende Klasse darstellen. Da eine falsche Antwort auf diese Fragen zu falschen Strategien für den Kampf gegen das Ahmadinedschad-Regime beitragen kann – insbesondere zu der Annahme, im Iran stehe jetzt das Erkämpfen des Kapitalismus auf der Tagesordnung – ist eine genauere Beschäftigung wichtig.
„Rente“ meint in diesem Zusammenhang nicht Alterssicherung, sondern steht für Sondergewinne, die dadurch erzielt werden, dass man günstiger produzieren kann, als durchschnittlich für die Produktion einer bestimmten Ware nötig ist. Daher wird auch von Differenzialrente gesprochen. Marx zeigte, dass der Wert – der Tauschwert und von ihm abgeleitet der Preis – einer Ware durch die in ihr enthaltene „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ bestimmt ist, nicht durch die individuelle Arbeit. In bestimmten Bereichen ist aber aufgrund der Naturbedingungen die Arbeitszeit sehr verschieden, die notwendig ist, um gleichartige Waren herzustellen. In der Landwirtschaft braucht man bei einem fruchtbaren Boden weniger Arbeit, um einen Zentner Getreide zu produzieren als bei einem weniger fruchtbaren Boden. Der Eigentümer des fruchtbaren Bodens kann also mit sehr viel weniger Arbeit so viele Zentner Getreide produzieren wie der Eigentümer eines unfruchtbaren Bodens mit sehr viel mehr Arbeit. Oder er kann mit der gleichen Arbeit wesentlich mehr Getreide erzeugen und damit mehr Geld verdienen. Diese Differenz kommt dem Eigentümer des Bodens zugute.
Das gleiche gilt bei der Förderung von Rohstoffen, einschließlich von Erdöl und Erdgas, wo ja die Kosten für die Förderung extrem variieren können. Am Persischen Golf sind sie viel niedriger als am Golf von Mexiko, der wichtigsten Förderregion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wenn am Persischen Golf so viel Öl gefördert würde, dass es die weltweite Nachfrage allein decken würde, würden die dortigen Produktionskosten den Preis bestimmen. Die Regionen mit höheren Produktionskosten müssten die Förderung einstellen oder staatlich subventionieren. Da aber die Förderung der Ölfelder mit niedrigen Kosten die Nachfrage nicht deckt, ist auch die Förderung auf den Ölfeldern mit höheren Kosten dazu notwendig. Deshalb fließt sie in die „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ und damit den Weltmarktpreis ein. Die Differenz zwischen den Förderkosten können die Eigentümer der Ölfelder mit niedrigen Kosten als Differenzialrente einstreichen.
Dieses Phänomen gibt es in gewisser Hinsicht immer, wenn mehrere Produzenten gleichartige Produkte herstellen. Des Einen Extra-Profite sind des Anderen Verluste oder geringere Profite. Das besondere beim Iran und der Ölproduktion ist die Existenz einer dauerhaften Einnahmequelle, solange bis die Böden, Ölquellen usw. erschöpft sind. In diesem Zusammenhang wird von Differenzialrente gesprochen. Diese Differenzialrente ergibt sich notwendig daraus, dass die natürlichen Produktionsbedingungen verschieden sind, aber gleichzeitig auf dem Markt für Produkte mit gleichem Gebrauchswert ein einheitlicher Preis bestehen muss. In einer kapitalistischen Wirtschaft ist sie bei verschiedenen Naturbedingungen der Produktion ein zwangsläufiges Phänomen. Eine andere Frage ist, in wessen Taschen diese Einnahmen fließen.
Wenn nicht die seit den 1970er Jahren meist staatlichen Unternehmen, die das Erdöl fördern, diese Differenzialrente einstreichen würden, würde sie bei den multinationalen Erdölkonzernen landen, die das Rohöl weiterverarbeiten, transportieren und in den Handel bringen. Die VerbraucherInnen hätten trotzdem keine niedrigeren Preise. Diese Differenzialrente fällt ebenfalls an, wenn innerhalb eines Erdöl produzierenden Landes das Öl zum Weltmarktpreis gehandelt wird und nicht, wie zum Beispiel bisher im Iran, subventioniert wird. Dann zahlen auch die VerbraucherInnen des eigenen Landes Differenzialrente. Wenn in der Literatur zur Rentenökonomie die Ölrente oft als „internationale Rente“ betrachtet wird, ist das eine optische Täuschung. Es ist eine Rente, die die VerbraucherInnen der Erdölprodukte an die Eigentümer der Ölfelder zahlen müssen. Historisch waren diese Eigentümer multinationale Konzerne oder Nationalstaaten. Nationale Privatunternehmen der Länder der „Dritten Welt“ spielten keine Rolle. Aber rein ökonomisch könnte der Privateigentümer eines Ölfelds für sein Erdöl von den VerbraucherInnen im eigenen Land genauso Differenzialrente einkassieren wie der Privateigentümer von Ackerland für sein Getreide. Die Besonderheit der iranischen Volkswirtschaft besteht aber darin, dass durch die in der Ölproduktion erzielte Differenzialrente der Staat kontinuierlich mit hohen Sondereinnahmen ausgestattet ist.
Manche bürgerliche AutorInnen bestreiten auch den kapitalistischen Charakter der Ölrente, indem sie guten kapitalistischen Profit und schlechte parasitäre Rente einander gegenüberstellen. Diese Argumentation führt in eine gefährliche Nähe zur Unterscheidung von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital. Tatsächlich beruht jedes kapitalistische Einkommen auf Eigentumstiteln. Auch ganz normale Profite beruhen nicht auf produktiver Arbeit von Kapitalisten, sondern auf der Ausbeutung der Natur und der Lohnabhängigen, die durch das Privateigentum an Produktionsmitteln möglich wird. Wenn das Eigentum an Ölfeldern höhere Einkommen bringt, ist das Glück für den Eigentümer, aber im Rahmen des Kapitalismus zwangsläufig.
MarxistInnen kritisieren deshalb nicht die Rente als Einkommensquelle, sondern kämpfen für die Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und an Grund und Boden, damit die Renteneinnahmen nicht einer Klasse von privilegierten Müßiggängern, sondern der Allgemeinheit zukommen können – was allerdings zur Voraussetzung hätte, dass auch der kapitalistische Klassenstaat durch einen demokratischen Staat der ArbeiterInnen und Bauern ersetzt wird. Gleichzeitig treten sie für die Überwindung des Nationalstaats und für internationale wirtschaftliche Kooperation auf der Basis föderierter sozialistischer Staaten ein, damit nicht der geologische Zufall der Verteilung von Bodenschätzen den einen Staat reich und den anderen arm macht.
Um zusammenzufassen: Die Öleinnahmen des Iran als Rente zu betrachten, ist dann sinnvoll, wenn Rente betrachtet wird als Differenz an notwendiger Arbeitszeit bzw. Kosten zur Herstellung gleichartiger Produkte als Folge unterschiedlicher Naturbedingungen. Wenn man aber Rente definiert als „Einkommen, dem keine Investitions- und Arbeitsleistungen des Empfängers gegenüberstehen“ (Beck)72, trifft man eine Unterscheidung, der keine kapitalistische Realität entspricht und befindet sich in der Vorstellungswelt der von Marx verspotteten „Vulgärökonomie“73. Eine „internationale Rente“ ist nur scheinbar eine besondere Rentenart. In Wirklichkeit ist sie nur die Form, die die Differenzialrente annimmt, wenn die Ölquellen verstaatlicht sind und das Öl exportiert wird. Ölproduzierende Staaten sind keine nichtkapitalistischen Staaten, sondern kapitalistische Staaten, die im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung auf dem kapitalistischen Weltmarkt eine bestimmte Rolle spielen, eine bestimmte Aufgabe haben, was bestimmte Besonderheiten der Wirtschaftsstruktur mit sich bringt.
Rentierstaat und Bonapartismus
Der Begriff Rentierstaat wird auf solche Staaten angewendet, die die Quelle der Renteneinnahmen – im Falle des Iran die Ölfelder – verstaatlichen, so dass diese Einnahmen in seine Staatskasse fließen. Daraus leiten manche Ökonomen ab, dass die Staaten im Nahen Osten fast alle undemokratisch sind, weil sie durch ihre Renteneinnahmen nicht auf Steuern angewiesen seien. Dabei wissen diese Ökonomen selber, dass es genügend diktatorische Regime gegeben hat, die von der eigenen Bevölkerung Steuern kassiert haben. Auch im Iran selbst hat Reza Khan in den 1920er und 1930er Jahren praktisch alle gesellschaftlichen Gruppen unterdrückt und ihre unabhängigen Organisationen verfolgt, obwohl damals die Öleinnahmen noch gering und die Steuern die Haupt-Einnahmequelle des Staats waren. Aber sie argumentieren, Besteuerung sei zwar keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für Demokratie.
Der Zusammenhang ist jedoch eher umgekehrt: Nicht auf der Seite der Staatseinnahmen, sondern der -ausgaben. Ein Regime mit hohen Öleinnahmen kann diese Einnahmen nutzen, um Teile der Bevölkerung durch Zuwendungen ruhig zu stellen und kann sich dadurch besser an der Macht halten. Richtig ist dabei, dass durch die Verstaatlichung von Öl- und sonstigen Rohstoffquellen die Renteneinkünfte die Form von Staatseinnahmen annehmen und Staaten der „Dritten Welt“ durch sie einen finanziellen Spielraum erhalten, der sonst für sie undenkbar wäre.
Aber für den Marxismus ist ein Regime, das scheinbar über den Klassen schwebt, in dem sowohl ArbeiterInnen als auch Kapitalisten politisch machtlos sind, nichts Neues und auch nichts, was es nur im Zusammenhang mit Ölrenten gibt. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hat Marx solche Regime als bonapartistisch beschrieben. Derartige Regime kommen auf, wenn das Bürgertum nicht mehr stark genug ist, um direkt die Herrschaft auszuüben und die Arbeiterklasse noch nicht stark genug dazu. In ihnen kann der Staatsapparat, indem er ArbeiterInnen und Kapitalisten gegeneinander ausspielt, beiden sowohl Schläge versetzt als auch Vergünstigungen erteilt, ein hohes Maß an Selbständigkeit erreichen und scheinbar über den Klassen schweben.
Marx betonte, dass der Staatsapparat dabei seine eigenen Interessen vertritt und sich seine Spitzen persönlich bereichern, aber er war keineswegs der Ansicht, dass dieser Staatsapparat die herrschende Klasse sei. Da der Staatsapparat bei all seinen Manövern und gelegentlichen Schlägen gegen die Kapitalisten oder Teile der Kapitalisten die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse verteidigt und die historischen Interessen der Kapitalisten vertritt, betrachtete Marx die Kapitalisten weiter als ökonomisch herrschende Klasse, auch wenn sie politisch entmachtet sind.74
Ähnliches gilt auch für den Faschismus, der sich vom Bonapartismus vor allem dadurch unterscheidet, dass er nicht nur auf der passiven Unterstützung durch das Kleinbürgertum – z.B. an der Wahlurne – beruht, sondern eine kleinbürgerliche Massenbewegung aufbaut, die er auf die Arbeiterklasse hetzt. Im Faschismus wird die Arbeiterbewegung nicht nur durch den Staatsapparat unterdrückt wie im Bonapartismus, sondern durch die kleinbürgerliche Massenbewegung zerschlagen, die Arbeiterklasse atomisiert, weshalb die Errichtung einer faschistischen Diktatur eine viel schwerere, viel länger nachwirkende Niederlage darstellt als die Errichtung eines bonapartistischen Regimes.75
Um zusammenzufassen: In einem Rentierstaat kann der Staatsapparat die Renteneinnahmen nutzen, um Teile der Bevölkerung ruhig zu stellen. Dadurch kann er sich gegenüber der Gesellschaft ein Stück weit verselbstständigen und die gesellschaftlichen Klassen politisch entmündigen. Das heißt aber nicht, dass die Staatsbürokratie die herrschende Klasse wäre, sondern die Kapitalisten bleiben aufgrund ihres Privateigentums an Produktionsmitteln die wirtschaftlich herrschende Klasse. Der Staatsapparat ist ein Werkzeug der herrschenden Klasse, der insgesamt die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die kapitalistischen Interessen schützt. Wir werden unten am Beispiel der Entmachtung der „radikalen“ Fraktion des iranischen Regimes 1988-92 sehen, dass der Rentierstaat-Ansatz nur dann beim Verständnis des Iran hilft, wenn man die Bürokratie nicht für eine herrschende Klasse hält. Die Besonderheiten des Staatsapparats der Rentierstaaten sind kein Ausdruck eines nichtkapitalistischen Charakters des Staats, sondern Besonderheiten der Staatsstruktur, die den Besonderheiten der Wirtschaftsstruktur, also der Rolle in der kapitalistischen internationalen Arbeitsteilung, entsprechen.
„Rentiermentalität“?
Es wird oft davon gesprochen, dass in Rentierstaaten eine „Rentiermentalität“ entsteht. Auf internationaler Ebene ist der Rentierstaat Rentenempfänger. Aber im zweiten und dritten Schritt kämpfen Teile des Staatsapparats und verschiedene gesellschaftliche Gruppen darum, einen möglichst großen Anteil dieser Renteneinnahmen für sich zu bekommen. Das führt zu einer Aufblähung des Staatsapparats und zur Konkurrenz verschiedener Segmente der Bürokratie, deren Kompetenzen einander überlappen und deren Kommunikation miteinander unterentwickelt ist, die dabei oft verschiedene politische Strategien vertreten und den Einfluss und die finanziellen Mittel für ihre Bürokratenfraktion zu vergrößern versuchen, indem sie den Herrscher für ihre Strategie zu gewinnen versuchen.
Für gesellschaftliche Gruppen ist die am meisten versprechende Einnahmequelle ein Anteil an den Renteneinnahmen, wofür gute Beziehungen zum Herrscher oder ihm nahe stehenden Bürokratenfraktionen entscheidend sind. Diese Beziehungen können auf Korruption, Patronage oder traditionellen Verwandtschafts- und sonstigen Netzwerken beruhen.
Den größten Erfolg haben dabei normalerweise Kapitalisten und ihre Familien, weil sie meist bessere Beziehungen zu Spitzenbürokraten oder mehr Bestechungsmöglichkeiten haben. So führen die Renteneinnahmen, die theoretisch zum Abbau sozialer Ungleichheit genutzt werden können, in der Praxis dazu, diese zu vergrößern. Kapitalisten bekommen Lizenzen für Handel und Produktion und Waren zu subventionierten Preisen, was ihnen hohe Gewinnspannen ermöglicht. Angehörige der Mittelschicht bekommen Jobs im aufgeblähten Staatssektor. Arbeiterklasse und Stadtarmut bekommen höchstens Brosamen wie Lebensmittelsubventionen, während für die Bauernschaft gar nichts abfällt. Das macht oft die Lebensverhältnisse der Stadtarmut für die Bauernschaft attraktiv und verstärkt die Landflucht.
Dabei wird die Korrumpierung von Gesellschaftsgruppen durch Patronage mit Unterdrückung unabhängiger Organisationen verbunden. Dadurch wird die Entwicklung von modernen Massenorganisationen wie Gewerkschaften oder Parteien behindert. Es kommt zu einer „Depolitisierung“, während sich informelle Beziehungsnetzwerke nicht so leicht unterdrücken lassen. Dadurch werden traditionelle, „vorkapitalistische“ Strukturen konserviert.
Bürgerliche TheoretikerInnen neigen dazu, solche Strukturen einem Ideal eines effizienten, rationellen Kapitalismus gegenüber zu stellen. Demnach müssen Renten anders als privat angeeignete Profite nicht produktiv investiert werden, um weiter zu fließen. Aber das unterschlägt, dass auch in den entwickelten kapitalistischen Staaten die Widersprüche des Kapitalismus zu wachsenden Schwierigkeiten beim produktiven Investieren von Profiten führen. Deshalb haben in den letzten Jahrzehnten die Finanzmärkte und die Privatisierung ein solches Gewicht erlangt, um profitable Anlagemöglichkeiten für das Kapital zu schaffen, während das produktive Investieren der Profite an Bedeutung verliert.
Ebenso abgeschmackt ist die Unterscheidung zwischen einem selbstsüchtigen Rentenstreben im Nahen Osten und einem dem gesellschaftlichen Nutzen dienenden Profitstreben im Westen. Die Realität zeigt, dass sich die Profite oft durch das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen, das Aufkaufen und Ausschlachten von Unternehmen, Umweltzerstörung, das Erzeugen von Spekulationsblasen, die Produktion von Waffen, Drogen usw. besser steigern lassen als durch gesellschaftlich sinnvolle Produktion.
Ebenso vergisst diese Gegenüberstellung, dass es im real existierenden westlichen Kapitalismus auch Filz, Klüngel, Korruption und Seilschaften gibt. Das nimmt in Rentenökonomien sicher wesentlich größere Ausmaße an, aber durch eine mechanische Gegenüberstellung der Realität im Nahen Osten und eines idealisierten Westens verbaut man sich die Erkenntnis, dass solche Praktiken eben nicht Ausdruck verschiedener Kulturen sind, die sich durch kulturelle „Modernisierung“ überwinden lassen, sondern Folge davon, dass es in der kapitalistischen Weltwirtschaft eine internationale Arbeitsteilung gibt, die bestimmten Ländern bestimmte Rollen und Funktionen zuweist und diesen verschiedenen Rollen verschiedene wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse, Kulturen und Ideologien entsprechen.
Wenn Korruption in einer Rentenökonomie zweckmäßig ist, dann lässt sie sich weder durch moralische Appelle noch durch Strafverfolgung wirksam bekämpfen, sondern nur dadurch, dass ein Land seine Rolle in der internationalen Arbeitsteilung ändert, was aber nur sehr selten und auf jeden Fall nur für einzelne Länder möglich ist, z.B. nicht für alle Rohstoffe produzierenden Länder. Woher sollten sonst die Rohstoffe für den Weltmarkt kommen? Letztendlich gehören die kapitalistische Weltwirtschaft und ihre internationale Arbeitsteilung insgesamt auf den Müllhaufen der Geschichte.
Um auch diesen Gedankenschritt der Rentenökonomie zusammenzufassen und zu bewerten: Es gibt innerhalb des Staatsapparats und in der Gesellschaft einen Kampf um den Zugang zu den Renteneinnahmen. Das führt zu aufgeblähten, segmentierten Staatsapparaten, Korruption und Patronage, Unterdrückung und Entpolitisierung. Dabei sind in der Regel die am erfolgreichsten, die schon reich und mächtig sind. Falsch sind Versionen der Rententheorie, die diese Scheusslichkeiten als etwas dem Kapitalismus Fremdes betrachten. Sie zeichnen den Kapitalismus überall aus. Wenn sie in Rentierstaaten viel stärker ausgeprägt sind, liegt das nicht daran, dass es sich um vorkapitalistische Staaten handeln würde, sondern sie sind wie die Besonderheiten der Wirtschaftsstruktur und der Staatsstruktur Ergebnis der besonderen Rolle dieser Staaten in der kapitalistischen internationalen Arbeitsteilung.
Die Ölabhängigkeit des Iran
Wenden wir uns von der Theorie der Rentenökonomie der Realität des Iran zu. Zweifellos spielen seit über einem halben Jahrhundert die Öleinnahmen eine zentrale Rolle. Ab 1954 erhielt der Iran einen deutlich höheren Anteil der Öleinnahmen der AIOC. Zusätzlich bekam er Militär- und andere Hilfe der USA. Dadurch verbesserten sich die Staatsfinanzen sprunghaft. In den 1970er Jahren stiegen die Ölförderung, der Ölexport und der Beitrag des Öl- und Gassektors zum Bruttoinlandsprodukt mit dem Anstieg der Ölpreise (Tabelle 2) und der Ölförderung (Tabelle 3) noch stärker.
Die Revolution 1978/79 und Zerstörungen und Behinderungen im Krieg mit dem Irak verringerten die Ölförderung und den Ölexport für Jahre – was aber teilweise durch den Anstieg der Ölpreise als Reaktion auf die iranische Revolution ausgeglichen wurde, weshalb der Beitrag des Öl- und Gassektors zum Bruttoinlandsprodukt weniger sank. Danach stieg die Förderung wieder, erreichte aber nie die Werte vor der Revolution. Da der eigene Ölverbrauch seitdem gestiegen ist, stiegen die Ölexporte entsprechend langsamer. Der Beitrag des Ölsektors zum Bruttoinlandsprodukt sank Mitte der 1980er Jahre wegen der fallenden Ölpreise, stieg aber inzwischen wegen des nach einigen Schwankungen extrem starken Ölpreisanstiegs 1998-2008 fast auf das Niveau vor 1979.
Tabelle 2: Der Preis von Rohöl der Marke Arabian Light (ab 1986: Dubai) (US-Dollar pro Barrel)76
Jahr |
1972 |
1973 |
1974 |
1978 |
1980 |
1986 |
1990 |
1998 |
2008 |
Preis |
1,90 |
2,83 |
10,41 |
13,08 |
35,69 |
13,10 |
20,45 |
12,21 |
94,34 |
Ein weiteres Merkmal der kapitalistischen Rentenökonomie ist der hohe Anteil des Öls an den Staatseinnahmen. Allerdings sind hier Aussagen manchmal schwierig, weil die Öleinnahmen teilweise auf verschiedene Haushaltstitel verteilt sind (z.B. kam 1959/60 ein beträchtlicher Teil der indirekten Steuern von 36,9 Prozent von der staatlichen Ölgesellschaft NOIC, gehörte also faktisch zu den Öleinnahmen, und 2002/03 wurde der Ölstabilisierungsfonds OSF eingerichtet, in den ein Teil der Öleinnahmen außerhalb des regulären Haushalts fließt).
Tabelle 3: Die Ölabhängigkeit des Iran77
Jahr |
59/60 |
72/73 |
77/78 |
80/81 |
86/87 |
91/92 |
01/02 |
07/08 |
Ölförderung (Mio. Barrel/Tag) |
0,35 |
k.A. |
5,58 |
1,48 |
2,17 |
3.36 |
3,6 |
4,1 |
Ölexport (Mio. Barrel/Tag |
k.A. |
k.A. |
4,81 |
0,76 |
1,25 |
2,46 |
2,21 |
2,48 |
Anteil des Öl- und Gassektors am BIP |
12% |
25% |
34% |
14% |
3% |
7% |
15% |
28% |
Anteil des Öl- und Gassektors an den Exporten |
74% |
86% |
94% |
96% |
87% |
48% |
70% |
80% |
Anteil des Öl- und Gassektors an den Staatseinnahmen |
39% (+ indirekte Steuern) |
74% |
k.A. |
55% |
22% |
45% |
69% |
k.A. |
Obwohl die Ölförderung vor der Revolution nicht wieder erreicht wurde, war der Iran 2008 der viertgrößte Ölproduzent. Dazu kommt, dass der Iran weltweit die zweitgrößten gesicherten Ölreserven hat. Außerdem wurden die Angaben für den Iran in den 10 Jahren 1998-2008 deutlich nach oben korrigiert, von 93,7 auf 137,6 Milliarden Barrel. Bei der Fördermenge von 2008 würde das Öl noch 86,9 Jahre reichen.78
Rentenökonomie unter dem Schah und nach 1979
Wenn man sich die Zusammensetzung des Bruttoinlandsprodukts anschaut, dann entspricht die Entwicklung unter dem Schah weitgehend dem, was man von einer Rentenökonomie erwarten konnte. Die Landwirtschaft fiel zurück, während sich neben dem Ölsektor Bauwirtschaft und Öffentlicher Dienst ausdehnten.
Tabelle 4: Anteil der Wirtschaftssektoren am Bruttoinlandsprodukt79
Sektoren in % |
59/60 |
72/73 |
77/78 |
82/83 |
87/88 |
97/98 |
07/08 |
Landwirtschaft |
38,4 |
18,5 |
8,8 |
18,7 |
24,6 |
14,8 |
9,3 |
Öl und Gas |
12 |
25,1 |
33,8 |
20,4 |
5,1 |
14,0 |
27,9 |
Industrie |
6,0 |
9,6 |
17,3 |
7,9 |
8,2 |
14,0 |
10,9 |
Bau |
2,5 |
4,9 |
8,6 |
6,4 |
6,0 |
4,5 |
5,3 |
Öffentlicher Dienst |
12,0 |
16,2 |
15,4 |
17,9 |
15,7 |
12,8 |
8,4 |
Dagegen war eine Besonderheit, dass der Schah mit den Öleinnahmen (neben Luxus, Rüstung usw.) auch den Aufbau von Industrieunternehmen finanzierte. Das war aber keineswegs gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Fortschritt im Interesse der Bevölkerung. Der Schah nutzte das Geld, das die Ölrenten ins Land spülten, dazu, hochmoderne Industriebetriebe aufzuziehen. Oft produzierten sie langlebige Konsumgüter für die Reichen wie Autos statt etwa landwirtschaftlicher Maschinen. Sie waren der Wirtschaft aufgepfropfte Fremdkörper. Sie erhielten günstige Kredite, während Kleinbetriebe auf die traditionellen Geldverleiher des Basars mit ihren hohen Zinsen angewiesen blieben.
Dieser rentenökonomische Charakter der iranischen Wirtschaft kann auch zum Verständnis gewisser Eigentümlichkeiten der iranischen Revolution und ihrem schnellen Umschlagen in die islamistische Konterrevolution beitragen. Die schnelle Industrialisierung hatte eine kämpferische Arbeiterklasse geschaffen, die zu Methoden des proletarischen Klassenkampfs griff: Streiks, Arbeiterräte, Versuch der Arbeiterkontrolle der Produktion. Daneben gab es aber Schichten des Kleinbürgertums und der Stadtarmut, die weniger direkt unter kapitalistischer Ausbeutung litten als darunter, bei der Verteilung der Ölrenten benachteiligt zu sein (neben der politischen Unterdrückung, unter der sie natürlich ebenso wie die ArbeiterInnen litten). Um das in Worte zu fassen, dazu reichte der Rückgriff auf islamische Vorstellungen der Ablehnung von Ungerechtigkeit, Korruption und Unmoral. Es wurden nicht Kapitalisten und ArbeiterInnen einander gegenübergestellt, sondern die arroganten Reichen und die Entrechteten, Mustakberin und Mostazafin. Ein Kapitalist, der nicht zu den Günstlingen des Schah gehörte und getreu dem Koran seine Almosen gab usw. galt nicht als Mustakbir.80
Verstärkt wurde die Anziehungskraft der islamistischen Ideologie dadurch, dass die Basar-Ulama-Allianz Strukturen bot, um diese Ideologie zu verbreiten und ihre AnhängerInnen zu mobilisieren. Für den Basar war die Wirkung des Ölbooms widersprüchlich. Auf der einen Seite nahm sein relatives Gewicht ab (z.B. bedeuteten moderne Supermärkte den Verlust von Kunden), auf der anderen Seite nahm sein Wohlstand absolut zu. Die Landflucht bescherte den Kleinunternehmen des Basars billige Arbeitskräfte. Als Eigentümer von städtischen Grundstücken profitierten sie von steigenden Preisen durch den Bauboom. Da der Staat keine Steuern verlangte, konnte der Basar sie an die Ulama abführen, die auch bei Basar-internen Rechtsstreiten zu Rate gezogen wurden. Mit den Abgaben des Basars konnten sie ein gewisses Maß an Wohltätigkeit und sozialer Integration für die Stadtarmut organisieren.
Zugleich bildeten die Moscheen und Madrasas (islamische Hochschulen) ein organisatorisches Netzwerk. Während an der Spitze der Ulama (unter den Großajatollahs und Ajatollahs) Khomeini eine Minderheitenposition vertrat, hatte er unter den Mullahs Massenanhang. Diese stammten meist aus der ländlichen Mittelschicht, hatten in den Städten wenig Schulbildung im westlichen Sinne erhalten und dann an den Madrasas eine hohe Bildung im islamischen Sinne, die aber im westlich orientierten Staatsapparat des Schahs nichts galt. So war für ihre Bildung und ihre Fähigkeiten im Staat des Schahs kein Platz, auch nicht bei einer Wiederherstellung der Verfassung von 1906, wie sie die Mehrheit der Ajatollahs favorisierte. Und nur Khomeinis Programm eines von Ulama geführten Staats bot ihnen die Aussicht, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten anzuwenden und sozial aufzusteigen.
Die „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ (Velayet-e Faqih), die Khomeini predigte und einführte, widersprach allen islamischen, auch schiitischen Traditionen, entsprach aber den Interessen dieser Mullahs. Geistliche, ihre Verwandten und Günstlinge besetzten Posten im Staatsapparat, der von Anhängern des Schah, Menschen, die nicht am gemeinsamen Freitagsgebet teilnehmen wollten oder sonst wie unzuverlässig schienen, gesäubert wurde, in den Staatsbetrieben und Stiftungen (Bonyads). Diese Bürokraten und Manager von Staatsbetrieben wurden oft als Aqazadegan oder Aqayan (persische Bezeichnungen für die Söhne hoher Geistlicher bzw. diese Geistlichen selbst) bezeichnet.81
Der Staat, der durch die iranische Revolution entstanden ist, zeigt deutlich Merkmale eines Rentierstaats. Das komplizierte Geflecht von einander kontrollierenden und behindernden Institutionen (Parlament, Regierung, Präsident, Wächterrat, Expertenrat, Oberster Geistlicher Führer), für das es in der islamischen Tradition kein Vorbild gibt, das jahrelange Kompetenzgerangel von Armee und Pasdaran ist die Form, die die Konkurrenz zwischen verschiedenen Segmenten der Bürokratie in den Verhältnissen nach der Revolution annahm.
Vor dem Hintergrund der revolutionären Massenmobilisierung konnten diese Konflikte nicht in informellen Netzwerken, in „Hofintrigen“ usw. ausgetragen werden, sondern mussten öffentlich(er) ausgekämpft werden. Zugleich war damit der Spielraum für diese öffentlichen Auseinandersetzungen bestimmt: Es handelt sich inhaltlich um Kontroversen innerhalb der Bürokratie, wie ihre Herrschaft gesichert und wofür sie verwendet werden kann. Das Volk kann bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zwischen verschiedenen Herrschaftsstrategien der Bürokratie wählen, aber die Infragestellung (ob bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt) dieser Herrschaft wird nicht geduldet, sondern gnadenlos verfolgt.
Bürokratenfraktionen im Iran
In den ersten Jahren nach der Revolution war zunächst eine radikalislamistische Fraktion an der Macht, die beanspruchte, für die Entrechteten (Mostazafin) einzutreten. Sie forderte eine Enteignung der Großgrundbesitzer, die Besteuerung der Reichen, Subventionen für die Armen, den stufenweisen Ausstieg aus der Erdölindustrie, eine Ausweitung des Staatssektors und Staatseingriffe in die Wirtschaft (Preiskontrollen, Rationierung, Verstaatlichung des Außenhandels). Kulturell traten sie gegen westliche Einflüsse, für die Verdrängung der Frauen aus dem Arbeitsleben und die islamische Kleiderordnung ein. In der Außenpolitik förderten sie islamistische Bewegungen in anderen Ländern und lehnten westliche Investitionen oder Kredite ab. Sowohl Mussawi als auch Rafsandschani gehörten jahrelang zu dieser Fraktion. Rafsandschani griff in Freitagspredigten die Basarhändler an und wurde im Gegenzug von ihnen auf Plakaten als „sozialistischer Mullah“ mit rotem Turban dargestellt.82
Nach dem Krieg gegen den Irak und dem Tod Khomeinis versuchten Rafsandschani als Staatspräsident und Khamenei als neuer religiöser Führer den Niedergang der Wirtschaft durch Reformen und Liberalisierung zu stoppen. Ihre Zusammenarbeit kann als Bündnis zweier Bürokratenfraktionen gegen die bisher vorherrschenden Radikalen verstanden werden. Gatter nennt sie in seiner sehr materialreichen Untersuchung Pragmatiker und Konservative. Leider vertritt er eine Version des Rentierstaat-Ansatzes, nach der die Staatsbürokratie eine herrschende „Staatsklasse“ ist.
Folglich sieht er die internen Kämpfe als Auseinandersetzungen zwischen Teilen der herrschenden Klasse, die verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu ihrer Unterstützung mobilisieren. Die Radikalen würden sich auf städtische Arme, landlose Bauern, Kriegsveteranen und Studierende aus Märtyrer-Familien stützen, die Pragmatiker auf moderne Mittelschichten, Technokraten, Intelligenz und die städtische Jugend, die Konservativen auf den Basar, Großgrundbesitzer und die traditionelle ländliche Bevölkerung.83 Es wäre dann aber völlig unverständlich, wie die dominierende Fraktion der „herrschenden Klasse“ so schnell und mit so wenig Reibung von der Macht verdrängt werden konnte.
Das lässt sich nur erklären, wenn man zu Grunde legt, dass die Kapitalisten die ökonomisch herrschende Klasse waren und blieben. Zunächst mussten in der Revolution den revolutionären Massen Zugeständnisse gemacht werden, bis der Staatsapparat so weit gefestigt war, dass er sie unterdrücken und die Zugeständnisse wieder einkassieren konnte. Dann waren im Krieg gegen den Irak Staatseingriffe in die Wirtschaft militärisch sinnvoll, weshalb die Staatseingriffe in die Wirtschaft länger fortgesetzt wurden, als es sonst der Fall gewesen wäre. Auch in anderen kapitalistischen Ländern, die nicht gerade eine Revolution durchlaufen hatten, gab es in Kriegen Maßnahmen wie Lebensmittelrationierung, Preiskontrollen usw. In dieser ersten Periode waren die Radikalen die vorherrschende Strömung.
Nachdem mit dem Ende des Krieges auch dieser zweite Grund entfallen war, entsprachen die Radikalen nicht mehr den Interessen der herrschenden Klasse. Der Wächterrat ließ z.B. 1992 amtierende radikale Parlamentsabgeordnete nicht mehr als Parlamentskandidaten zu. Der Erdrutschsieg des Bündnisses von Pragmatikern und Konservativen lag aber vor allem darin begründet, dass die Bevölkerung vom wirtschaftlichen Niedergang, der Korruption und der Unterdrückung der vergangenen Jahre die Nase voll hatte. Allerdings hatten schon 1991/92 die Wirtschaftsreformen, vor allem die Beseitigung von Preissubventionen, zu einer Welle von Protesten geführt. Das war ein Grund dafür, dass das Bündnis auseinander brach und die Parlamentsmehrheit in den folgenden Jahren Rafsandschanis Reformen weitgehend blockierte.84
Politisch traten und treten die Pragmatiker für einen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft ein, für Marktreformen und eine Teilprivatisierung. Das verbanden sie mit einer kulturellen Liberalisierung und einer Verbesserung der Beziehungen zum Westen. Die Konservativen waren auch für eine Wirtschaftsliberalisierung, für Privatisierung und Subventionsabbau – der Basar lehnte die Preisverzerrung durch die Subventionen ab – und verstärkten Handel mit dem Westen. Investitionen von Ausländern oder Exil-Iranern lehnten sie ab, da sie auch die Interessen der Kapitalisten wahrten, die sich ehemaliges Vermögen der Schah-Günstlinge angeeignet hatten und es nicht wieder hergeben wollten.
Man kann sagen, dass diese beiden Bürokratenfraktionen verschiedene Kapitalfraktionen vertraten. Die Konservativen vertraten die traditionelle herrschende Klasse, die kapitalistischen Teile des Basars, die verbliebenen Großgrundbesitzer und Unternehmer. Die Pragmatiker vertraten die kleineren Teile der herrschenden Klasse, die von einer Öffnung der iranischen Wirtschaft zum Westen zu profitieren hofften. Um Unterstützung in der Masse der Bevölkerung zu bekommen, traten sie für eine politische und vor allem kulturelle Liberalisierung ein. Die Wahlerfolge von Khatami 1997 und 2001 und von Mussawi 2009 zeigten die Wirksamkeit dieser Politik. Auf der anderen Seite versuchten die Konservativen, durch Almosen und Wahlgeschenke, durch soziale Demagogie und antiwestliche Propaganda, die heimatlos gewordenen Anhänger der Radikalen zu gewinnen, was Ahmadinedschad 2005 gelang.
Beide Fraktionen unterscheiden sich also in wirtschaftlichen Fragen vor allem bezüglich des Grades der Öffnung zum Westen, die Einen wollen nur Handel zulassen, die Anderen sind offen für Investitionen, Kredite und Kapital auch von Exil-Iranern. Das sind Unterschiede, die Auswirkungen weniger für die Zukunft des Landes als für die Bereicherungsmöglichkeiten bestimmter Kapitalgruppen haben. Die sichtbaren Unterschiede ergeben sich aus den Methoden, mit denen sie für ihre Politik Unterstützung in der Bevölkerung suchen: begrenzte Liberalisierung versus Almosen. Die Präsidentschaft Khatamis, dessen Liberalisierungsanläufe ständig gestoppt wurden, zeigte, dass solche Maßnahmen zwar riesige Unterstützung in der Bevölkerung haben und erdrutschartige Mehrheiten bei Wahlen gewinnen können, aber in der herrschenden Klasse und ihrem Staatsapparat keine Mehrheit haben.
Ahmadinedschad und seine Fraktion knüpfen an der reaktionären Kulturpolitik und der Terminologie der radikalen Fraktion der 1980er Jahre an. Damals hatten Millionen AktivistInnen Illusionen diese reaktionäre antiaufklärerische Politik sei revolutionärer Antiimperialismus, die Staatseingriffe in die Wirtschaft würden soziale Gerechtigkeit schaffen und die Pasdaran die revolutionären Errungenschaften gegen den Überfall des Irak verteidigen. Statt dessen wurden die revolutionären Errungenschaften im Windschatten des Krieges vernichtet, Ahmadinedschad stützt sich seit 2005 auf die Pasdaran als Machtfaktor und gibt ihren Spitzen dafür Posten und Einkünfte, privatisiert mehr als seine Vorgänger und betreibt in der Region eine imperialistische Politik mit der Unterstützung islamistischer Gruppen im Irak oder Libanon und gegenüber den nicht-persischen Nationalitäten im Iran.
Verstaatlichung, Stiftungen und Privatisierung
Wie erwähnt, fanden die umfangreichen Verstaatlichungen und staatlichen Kontrollen der Wirtschaft teilweise unter dem Druck der revolutionären ArbeiterInnen statt. Wegen der rentenkapitalistischen Struktur des Schah-Regimes gehörte ein Großteil der Kapitalisten zu den Günstlingen des Schahs. Viele wurden vor Gericht gestellt und verurteilt, andere flohen in den Westen. Wenn die Betriebe weiter produzieren sollten, war die Alternative nicht privat oder staatlich, sondern bürokratische Kontrolle von oben oder Arbeiterkontrolle und -verwaltung von unten. Die im ganzen Land entstehenden Arbeiterräte (Schoras) begannen Letzteres in die Tat umzusetzen. Die Khomeini-Clique setzte ihre ganze Macht dafür ein, dass erste Variante verwirklicht wurde. Vor allem Bereiche wie Stahl, Petrochemie, Kupfer, Autoindustrie, Maschinenbau wurden verstaatlicht.
Eine Besonderheit des Iran sind die Bonyads. Im Islam haben religiöse Stiftungen (Waqf, Plural: Awqaf) eine lange Tradition. Sie dienten im Mittelalter den Reichen dazu, Eigentum vor dem Zugriff des Staats halbwegs zu schützen. Die Bonyads entstanden in und seit der Revolution als neue Einrichtungen, die aber einige Ähnlichkeiten mit den alten Stiftungen aufweisen. Sie machen einen beträchtlichen Teil der Wirtschaft aus, oft wird die Zahl genannt, dass ihr Haushalt insgesamt halb so groß wie der Staatshaushalt sei bzw. sie 20 Prozent des BIP ausmachen.85 Bei ihrem Vermögen handelt es sich teils um das ehemalige Vermögen des Schahs, seiner Familie und seiner Günstlinge.
In der Literatur werden sie oft als verkappte Staatsbetriebe behandelt und da die meisten Autoren die neoliberale Ideologie verinnerlicht haben, gießen sie ihren ganzen Abscheu gegen Staatsbetriebe auch über die Bonyads aus. In dieser Situation ist es schwierig, ein klares Bild zu bekommen. Mir scheint aber folgende Einschätzung86 am Plausibelsten: Die Bonyads sind ein Teil des alten Netzwerks von Basar und Ulama. Um eine sozialistische Entwicklung der Revolution von 1979 zu bekämpfen, hat die Khomeini-Clique einen Teil des beschlagnahmten Vermögens Angehörigen dieses Netzwerks anvertraut. Deren Kontrolle von oben sollte die Arbeiterkontrolle von unten aushebeln. Zugleich misstraute die Khomeini-Clique auch dem alten Staatsapparat des Schahs und übertrug verschiedene Aufgaben im sozialen, Bildungs- und Kulturbereich auf die Bonyads. Die Bonyads sind so wenig Staatseigentum wie in Deutschland die Bertelsmann-Stiftung und der ihr mehrheitlich gehörende Bertelsmann-Konzern. Tatsächlich gibt es einige Parallelen: Zum einen die zur Steuervermeidung dienende Stiftungsform (allerdings wurde die Steuerfreiheit 2002 nach manchen Quellen aufgehoben), zum Anderen die Verbindung von Großkonzern, gesellschaftlicher Betätigung und Ideologieverbreitung.
Die Bonyads sind gerade nicht Teil des Staatsapparats, sondern haben eigene Strukturen und sind nur dem obersten geistlichen Führer direkt verantwortlich. Es gibt zwar jede Menge informelle Beziehungen zu Angehörigen des Staatsapparats – Verwandtschaft, Korruption und Begünstigung usw. – aber eben keine formellen. Man kann sie eher als einen „Staat im Staate“ bezeichnen. Ihre Leiter sind zwar ebenso wie führende Staatsfunktionäre überzeugte Islamisten, aber das gilt z.B. für viele Eigentümer kapitalistischer Familienbetriebe ebenfalls. Interessant ist vielmehr, dass Bonyads oft bestimmten Bürokratenfraktionen als Machtbasis dienen und teilweise die Regierungspolitik hintertreiben. So wurden die Märtyrer-Stiftung (Bonyad-e-shahid) und die Stiftung des 15. Khordad (Bonyad panzdah Khordad) den Radikalen zugerechnet, als diese schon weitgehend aus dem Staatsapparat verdrängt waren und letztere Stiftung hat mit ihrem Kopfgeld auf den Schriftsteller Salman Rushdie in den 1990er Jahren gezielt Rafsandschanis Politik der Entspannung mit dem West torpediert.
Die Bonyads sind große Wirtschaftsunternehmen, oft Mischkonzerne, die mit ihren Gewinnen soziale Tätigkeiten (soziale Fürsorge für Arme, die Hinterbliebenen von Opfern der Revolution und des Krieges gegen den Irak, Beratung usw.) finanzieren sollen. Zugleich boten sie Anhängern des neuen islamistischen Regimes soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Die erste war die Bonyad-e Mostazafen e Javanbazan, (Stiftung der Unterdrückten und Behinderten). Es heißt, dass sie 20 Prozent der Textilindustrie, 40 Prozent der Soft-Drink-Produktion und viele weitere Unternehmen kontrolliert. Die Angaben zu den Beschäftigtenzahlen schwanken stark, mal werden sie mit 60.000 mal mit mehr als 200.000 beziffert. Der Wert der 350 Tochterfirmen wird mit mal mit 3,0 und mal mit 3,5 Milliarden Dollar angegeben. Der Bonyad-e-shahid soll 150 Betriebe besitzen.87 Neben den landesweiten gibt es noch zahlreiche kleinere örtliche Bonyads. Wenn Sozialmaßnahmen durch private Stiftungen organisiert werden, bedeutet das Willkür und Belohnung von politischem und sozialem Wohlverhalten. Das Nebeneinander von verschiedenen Organisationen führt obendrein dazu, dass Bedürftige leicht durch die Maschen des Netzes fallen können.
Da die Bonyads nur vom obersten geistlichen Führer kontrolliert werden, sind Zahlen über sie schwer zu bekommen. Die Angaben der bei ihnen Beschäftigten reichen von 400.000 bis 5 Millionen. Ob sich die Arbeitsbedingungen bei ihnen für normale Beschäftigte positiv von kapitalistischen Privatunternehmen unterscheiden, darüber habe ich nirgends Hinweise gefunden. Klar ist, dass sie für ihre Spitzenfunktionäre große Bereicherungsmöglichkeiten bieten. Durch ihre Verbindungen zum Staatsapparat haben sie zahlreiche Vorteile gegenüber privaten Konkurrenten, bekommen Zollerleichterungen oder günstigere Kreditbedingungen bei Staatsbanken. Als der Iran noch mehrere Wechselkurse hatte, konnten sie oft zu vorteilhaften Wechselkursen im- und exportieren.88 Wenn die Bonyads ihre Wirtschaftsmacht nutzen, um kleineren kapitalistischen Privatbetrieben das Leben schwer zu machen, verhalten sie sich aber nicht anders, als sich kapitalistische Trusts und Kartelle seit Ende des 19. Jahrhunderts jahrzehntelang verhalten haben und teilweise noch verhalten. Deshalb scheint es mir plausibel, die Bonyads als Teil der kapitalistischen Profitwirtschaft zu betrachten.
Privatisierung
Nach dem Krieg mit dem Irak wurden die Pasdaran (Revolutionswächter) für den Wiederaufbau des Landes eingesetzt. Auf dieser Grundlage bauten sie ein bedeutendes Wirtschaftsimperium, vor allem in Baubereich auf. Im Juni 2006 gab ihre Baufirma Ghorb an, an 250 laufenden Bauprojekten beteiligt zu sein. 2009 war von Zehntausenden Beschäftigten und einem Auftragsvolumen von 15 Milliarden Dollar die Rede. Unter Ahmadinedschad wuchs ihr Wirtschaftsimperium. Ihre Rüstungsbetriebe produzieren nebenbei zivile Güter wie Computer oder Telefone. Unternehmen in Bereichen wie Öl und Gas, z.B. die Erschließung von South Pars, dem größten Erdgasfeld der Welt, kamen dazu. Ende April 2009 kauften sie die größte Werft Irans, Sadra. Ihre Kontrolle über Häfen und Flughäfen nutzen sie offenbar zum Schmuggel.89
Nach dem Ende des Krieges mit dem Irak und der Wahl von Rafsandschani zum Präsidenten wurde die Privatisierung von Teilen der Staatsbetriebe vorangetrieben. Für die Anhänger des Neoliberalismus ist das logisch: Die Wirtschaft war in Schwierigkeiten, Privatunternehmen sind effizienter als Staatsbetriebe, also ist Privatisierung zur Überwindung der Probleme notwendig. Wenn man aber bedenkt, dass sich in Ländern der „Dritten Welt“ nirgends unter Bedingungen von freiem Markt eine starke einheimische Kapitalistenklasse und eine starke Industrie entwickelt haben und Länder, die verhältnismäßig erfolgreich wurden, wie Südkorea oder Taiwan, und deshalb als Vorbilder dargestellt waren, jahrzehntelang umfangreiche Staatseingriffe in die Wirtschaft praktiziert haben, bis die Wirtschaft stark genug war, ist das überhaupt nicht so logisch. Es macht vielmehr den kapitalistischen Charakter des Iran deutlich – und die nach dem Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa und der Sowjetunion 1989-91 herrschende kapitalistische Ideologie – dass sie den starken Sektor nur als einen Notbehelf ansahen, den man wieder loswerden musste.
Tatsächlich war der Erfolg der Privatisierung recht bescheiden. In den 1990er Jahren wurden 300 Staatsunternehmen und rund 1000 Bergwerke an der Teheraner Börse verkauft. Ab 1994 waren die Käufer oft Bonyads. Der Internationale Währungsfonds (IWF) lobte zwar die neoliberalen „Reformen“ insgesamt, kritisierte aber die langsame Privatisierung. Auch die iranische Zentralbank kritisierte regelmäßig das Nichterfüllen der Privatisierungsziele.90 In den ersten fünfzehn Jahren (1991-2006) schwankten die Privatisierungserlöse zwischen 99 und 2.432 Millionen US-Dollar. Der größte Privatisierungsschub bisher war 2006/07, also unter der Präsidentschaft des angeblich antiimperialistischen Ahmadinedschad, mit 4.977,1 Millionen (oder 30,7 Prozent der gesamten Privatisierungserlöse der ersten 16 Jahre), aber das blieb eher ein Ausrutscher.91
Dabei mag Sabotage durch einen Teil des Staatsapparats eine Rolle spielen, aber die Hauptfrage ist, wer in einem Land mit einer so ungleichen Vermögensverteilung das Geld haben kann, um Firmenanteile zu kaufen: Vor allem die Kapitalisten, die sich in den letzten Jahrzehnten durch Korruption, Schmuggel usw. bereichert haben sowie die Bonyads. Um den Spielraum für die Privatisierung zu erweitern, wurde 2006 ein Erlass über „Gerechtigkeitsaktien“ beschlossen. Die Angaben dazu schwanken. Laut IWF sollen 40-100 Prozent der Aktien kleiner profitabler Unternehmen zum halben Preis an Holdings und dann an das ärmste Fünftel der Bevölkerung gehen. Die Regierung will 20 Prozent behalten, der Rest soll an der Teheraner Börse verkauft werden. Andere Firmen werden ganz an die Börse gehen. Geplant ist der Verkauf von 20 Prozent der Staatsbetriebe jährlich, beginnend mit kleinen Firmen in den ersten zwei bis drei Jahren. Das Programm soll 2014/15 am Ende des 5. Fünfjahresentwicklungsplans abgeschlossen sein.92 Dieses Programm hat eine gewisse Ähnlichkeit mit manchen Versuchen in Osteuropa nach 1989 die Privatisierung durch Belegschaftsaktien „gerecht“ zu machen, die auch eine Konzentration der Vermögen in den Händen weniger nicht dauerhaft verhindern konnten.
Westliche Kommentatoren stören sich in Wirklichkeit vor allem daran, dass multinationale Konzerne nicht zum Zug kommen, aber das behindern weniger Gesetze als die gespannten Beziehungen zwischen dem Iran und den USA und anderen westlichen imperialistischen Ländern. Aber mittelfristig. bei einem geänderten Umfeld, sprich einem Regimewechsel hin zu willigen Erfüllungsgehilfen des westlichen Imperialismus, ist das die einzige Alternative für die Privatisierung: Der Verkauf entweder an iranische Kapitalisten, die sich durch Korruption, Schmuggel und staatliche Privilegien ein Vermögen ergaunert haben, oder an multinationale Konzerne. Das kommt etwa der Wahl zwischen Geiern und Hyänen gleich.
Allerdings ist das Tempo der Privatisierung nicht gleichbedeutend mit dem Tempo des Wachstums des Privatsektors, weil in ihm die Investitionen wesentlich größer sind. Während die öffentlichen Bauinvestitionen größer waren als die privaten, waren die privaten Ausrüstungsinvestitionen um ein Mehrfaches größer als die öffentlichen Ausrüstungsinvestitionen (Tabelle 5). In den neun Jahren von 1999 bis 2008 waren die summierten privaten Ausrüstungsinvestitionen um 19 Prozent höher als das Volkseinkommen von 2007/08.
Tabelle 5: private und öffentliche Investitionen (in Milliarden Rial, zu Preisen von 1997/98 und Prozent). 1 Euro entspricht ca. 13.300 Rial. Das Volkseinkommen des Iran (491.096 Milliarden Rial) entspricht 37 Milliarden Euro.93
07/08 |
in % des Volkseinkommens |
99/00-07/08 summiert |
in % des Volkseinkommens |
|
Ausrüstungsinvestitionen privat |
85835 |
17,5 |
584949 |
17,7 |
Ausrüstungsinvestitionen öffentlich |
19378 |
3,9 |
138664 |
4,2 |
Bauinvestitionen privat |
35546 |
7,2 |
225588 |
6,8 |
Bauinvestitionen öffentlich |
40260 |
8,2 |
270746 |
8,2 |
Volkseinkommen |
491096 |
100 |
3311196 |
100 |
„Reine Privatbetriebe“ (ohne Bonyads usw.) gibt es im Iran vor allem in der Landwirtschaft, im Binnen- und Außenhandel, im Bergbau und im Kleingewerbe. 1997/98 waren 15 Prozent der Gewerbe- und Industriebetriebe staatlich. Sie erzeugten aber 70 Prozent des Werts (15 Prozent des BIP).94 Auch heute noch ist der Anteil von Staatsbetrieben an Betrieben mit vielen Beschäftigten größer als an Betrieben mit wenigen Beschäftigten. Aber in den letzten Jahren stiegen bei allen Betriebsgrößen Anzahl und Anteil der Privatbetriebe und sanken Anzahl und Anteil der Staatsbetriebe (Tabelle 6). Offensichtlich nimmt auch in der Industrie der Anteil der Privatwirtschaft zu.
Tabelle 6: Anteil der Staatsbetriebe an Betrieben der produzierenden Industrie95
Betriebe mit 10-49 Beschäftigten |
Betriebe mit 50-99 Beschäftigten |
Betriebe ab 100 Beschäftigte |
|
1996/97 |
4,1% |
13,6% |
40,9% |
2005/06 |
1,9% |
4,6% |
13,4% |
Die „niederländische Krankheit“ im Iran
Der Schah hatte künstlich einen Industriesektor geschaffen. Nach seinem Sturz sank der Anteil des produzierenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt drastisch von 17,3 Prozent des BIP 1977/78 auf 7,9 Prozent 1982/83. Dabei spielten eine Verlagerung der politischen Prioritäten (z.B. zur Landwirtschaft), die Flucht von qualifiziertem Personal, bürokratische Misswirtschaft und andere Faktoren eine Rolle. In den folgenden Jahren gab es wieder einen Anstieg, aber der Anteil von 1977/78 wurde nicht wieder erreicht (siehe Tabelle 4).
Eine Erklärung dafür ist das Phänomen, das als „niederländische Krankheit“ („dutch disease“) bekannt ist. Die Erdgasexporte führten in den 1960er Jahren in den Niederlanden zu verstärkten Deviseneinnahmen und damit zu einer Aufwertung des niederländischen Guldens. Dadurch wurden niederländische Industrieprodukte gegenüber der ausländischen Konkurrenz teurer und weniger wettbewerbsfähig, sowohl auf dem Weltmarkt als auch in den Niederlanden selber. Es ist logisch, dass in einem industriell rückständigen Land wie dem Iran mit ohnehin niedrigerer Arbeitsproduktivität dieser Effekt noch stärker negative Auswirkungen haben muss. Geld fließt dann vor allem in Bereiche, die nicht auf dem Weltmarkt konkurrieren, weil sie keine beweglichen Waren herstellen: Z.B. Bodenspekulation und Bauwirtschaft.
In ihrem letzten Jahresbericht hat sich auch die iranische Zentralbank (Bank Merkazi) mit dieser Problematik beschäftigt. Dort vergleicht sie die Preisentwicklung des Iran mit den USA und der EU. Da die Inflation im Iran wesentlich höher war, hätte der Rial gegenüber dem Dollar an Wert verlieren müssen, tatsächlich ist er gestiegen. Nach diesen Daten ist der nominelle Wert des Dollar in den fünf Jahren 2004/05-2008/09 um 15,6 Prozent gestiegen, der nominelle Wert des Euro um 40,5 Prozent. Dagegen ist der reale Wert des Dollar um 36,4 Prozent gefallen, der reale Wert des Euro um 23,7 Prozent. Mit dem nominellen Wert ist offenbar der Wert gemeint, der der Kaufkraftveränderung entsprechen würde. Das bedeutet, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit der iranischen Wirtschaft in diesen Jahren, den Jahren drastisch steigender Ölpreise, massiv verschlechtert hat. Damit erklärt die Zentralbank, dass sich das Nicht-Öl-Handelsdefizit von 23,5 Milliarden Dollar 2003/04 auf 49,8 Milliarden Dollar 2008/09 vergrößert hat.96
Wenn man sich die Zusammensetzung der iranischen Exporte anschaut, dann dominieren dort 2008/09 „landwirtschaftliche und traditionelle Produkte“ (16,9 Prozent) und weiterverarbeitete Rohstoffe: Öl- und Gasprodukte (20,9 Prozent), organische Chemieprodukte (17,1 Prozent), Plastikmaterialien und ihre Produkte (7,6 Prozent). Damit unterscheidet sich die Exportstruktur grundlegend von der, mit der in den vergangenen Jahrzehnten Japan, die „Tigerstaaten“ oder China ihren wirtschaftlichen Aufstieg geschafft haben.97 Bei der Produktion und den Investitionen dominieren Nahrungsmittel, Erdölprodukte, chemische Produkte, nichtmetallische Mineralprodukte und Metalle. Die Wirtschaft ist ganz offensichtlich auf die Produktion für den Binnenmarkt und die ersten Verarbeitungsschritte einheimischer Rohstoffe orientiert.
Korruption, Subventionen, Misswirtschaft
Die oben beschriebenen Praktiken einer Rentenwirtschaft spielen im Iran eine große Rolle. Durch die starken staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft während des Krieges mit dem Irak war die Frage, ob Unternehmen zu diesem eingreifenden Staat gute Beziehungen hatten, zentral. Bei mehreren offiziellen Wechselkursen bis 2002 gab es große Möglichkeiten der Begünstigung beim Außenhandel. Da auch heute noch wirtschaftliche Bereiche stark bürokratisiert sind, eine Unzahl von Genehmigungen erfordern, spielt die Frage von Beziehungen, um solche Genehmigungen zu erlangen, weiterhin eine große Rolle.
Es gibt umfangreiche Subventionen. Nach Regierungsangaben machen sie umgerechnet 100 Milliarden Dollar pro Jahr aus, 80 Prozent davon für Energie. Der IWF gab das Ausmaß der Subventionen für 2005/06 mit 25 Prozent des BIP (der Energiesubventionen mit 17,5 Prozent) an.98 Durch diese Subventionen ist es ein sehr lukratives Geschäft, Treibstoff zu subventionierten Preisen zu kaufen und ins Ausland zu schmuggeln. Nach Schätzungen verschwinden so 17 Prozent der iranischen Ölproduktion.99
Wir haben oben gesehen, dass der Anteil des produzierenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt heute niedriger ist als zur Zeit des Schahs. Das bedeutet aber nicht, dass das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse heute niedriger wäre. Tatsächlich war der Anteil der Lohnabhängigen an der Erwerbsbevölkerung 2008 größer als 1976 oder gar 1986. Dabei gibt es Bereiche, in denen dieser Anteil schon 1976 nahe 100 Prozent war und es auch blieb (Bergbau und Ölförderung, Elektrizität, Gas und Wasser oder Kommunale, soziale und persönliche Dienstleistungen). Bei Finanzdienstleistungen ging er zurück, im Transportwesen sogar drastisch. In der Landwirtschaft und dem Bauwesen sank er nach der Revolution stark und stieg seitdem wieder. Aber im produzierenden Gewerbe stieg der Anteil der Lohnabhängigen deutlich. Dieser Anstieg ist mit einem Rückgang von Klein-Selbständigen verbunden, während die Zahl der Unternehmer, die Lohnabhängige beschäftigen, ebenfalls leicht angestiegen ist.
Tabelle 7: Anteil der Lohnabhängigen an der Erwerbsbevölkerung100
% Lohnabhängige |
1976 |
1986 |
1991 |
2008 |
Gesamt |
48,4 |
41,5 |
51,1 |
53,2 |
Landwirtschaft usw. |
18,3 |
10,3 |
11,0 |
15,0 |
Bergbau (Öl) |
98 |
92,6 |
95,4 |
96,9 |
Produktion |
53,6 |
56,0 |
58,1 |
62,2 |
Elektrizität, Gas, Wasser |
98,7 |
91,2 |
96 |
98,3 |
Bau |
88,7 |
60 |
57,7 |
75,9 |
Handel |
26,3 |
20,9 |
23 |
32,4 |
Transport |
62,9 |
41,2 |
46,1 |
38,8 |
Finanz |
83,6 |
85,1 |
83,4 |
73,7 |
Kommunale, Soziale, Persönliche Dienstleistungen |
91,9 |
86,0 |
88,6 |
92,3 |
Die Schlussfolgerung, die sich hieraus aufdrängt, ist, dass der Iran zunehmend zwei Gesichter hat. Von oben, aus der Sicht der herrschenden Klasse, ist er weiterhin eine kapitalistische Rentenökonomie, bei der das Streben nach einem Anteil an den Öleinnahmen der sicherste Weg zum wirtschaftlichen Erfolg ist. Von unten gesehen nimmt der stinknormale kapitalistische Klassengegensatz zwischen ArbeiterInnen und Kapitalisten, die stinknormale kapitalistische Ausbeutung ein immer größeres Gewicht ein.
Sackgasse Kapitalismus
Nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten in Osteuropa und der Sowjetunion haben sozialistische Ideen in der „Dritten Welt“ massiv an Einfluss verloren. Statt dessen blühten Hoffnungen auf, dass es doch im Rahmen des Kapitalismus eine qualitative Besserung der Lebensverhältnisse geben könne. Wenn die Abhängigkeit vom Öl zur „niederländischen Krankheit“ führt und eine industrielle Entwicklung behindert, ist dann eine kapitalistische Entwicklung durch eine freiwillige drastische Beschränkung der Ölförderung möglich? Aber wie soll eine herrschende Klasse zu einer solchen Selbstbeschränkung gezwungen werden?
Für Kapitalisten ist die Produktion von Gebrauchswerten, von nützlichen Dingen, ist die Entwicklung der Produktivkräfte kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Zweck, zur Profitmaximierung. Wir sehen in den westlichen kapitalistischen Ländern, dass sie statt produktiver Investitionen an den Finanzmärkten spekulieren, wenn das profitabler scheint. Wie will man die iranischen Kapitalisten dazu bringen, auf die Ölrente zu verzichten? Dazu müsste man sie entmachten. Wenn der Kapitalismus durch ein sozialistisches Wirtschaftssystem ersetzt wird, in dem nicht die kurzfristige Profit- und Rentenmaximierung, sondern die langfristigen Bedürfnisse der Menschen bestimmen, dann könnte der Iran eine Entwicklung jenseits der Ölabhängigkeit beginnen, wie sie die RevolutionärInnen von 1978/79 erstrebt haben.
Wenn man aber annehmen würde, dass sich innerhalb der iranischen Kapitalisten eine Fraktion durchsetzen würde, die keinen Zugang zu den Ölrenten hat und deshalb an einer industriellen Entwicklung interessiert wäre – sobald sie sich durchsetzt, sobald sie die Kontrolle über den Staatsapparat erlangt, bekommt sie diesen Zugang und wird ihre guten Vorsätze bald vergessen, so wie das mit den radikalen Islamisten und den hinter ihnen stehenden Basaris nach 1979 geschehen ist.
Aber selbst, wenn sie aus unerklärlichen Gründen ihren Zielen über viele Jahre treu bleiben würden, obwohl sich ihre Interessen längst geändert haben (und eine industrielle Entwicklung des Iran würde natürlich viele Jahre dauern) hätte das Aussicht auf Erfolg? Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus 1989 wurden verschiedene kapitalistische Staaten als Vorbilder dargestellt, die aber nach einiger Zeit die Hoffnungen enttäuschten und in einen großen Katzenjammer führten. Ein klassischer Fall waren die Mitte der 1990er Jahre gefeierten „Tigerstaaten“, die in der „Asienkrise“ 1997/98 schwere Wirtschaftseinbrüche erlitten. Aber die oben angeführten Daten zeigen, dass der Iran auf absehbare Zeit auf kapitalistischer Grundlage nicht einmal diese vorübergehenden Erfolge nachahmen kann. Abgesehen davon konnten diese Staaten ihre industrielle Basis aufbauen unter dem Schutz massiver Staatseingriffe in die Wirtschaft, was der US-Imperialismus damals duldete und sogar finanziell unterstützte wegen seinem Systemgegensatz zur Sowjetunion und zu China. Warum sollte er heute gegenüber irgendeinem Land so kulant sein?
Heute leidet der Kapitalismus weltweit unter dem Mangel an profitablen Anlagesphären. Um Kapital anzulegen, wurde in den letzten Jahrzehnten weltweit viel privatisiert. Aus demselben Grund dehnten sich die Finanzmärkte aus. Westliche Regierungen wollen einen Regimewechsel im Iran, um dort Kapital investieren zu können. Warum sollten sie plötzlich darauf verzichten und dem Iran zubilligen, unter staatlichem Schutz eine konkurrenzfähige Industrie aufzubauen, konkurrenzfähig gegen die hohe Arbeitsproduktivität des Westens und konkurrenzfähig gegen die Hungerlöhne, unmenschlichen Arbeitsbedingungen und fehlenden Umweltschutzmaßnahmen von Ländern wie China? 2008 stürzte die Weltwirtschaft in die tiefste Krise nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist nicht realistisch, dass die Wachstumsraten der vergangenen Jahrzehnte, die schon viel niedriger waren als 1948-73, jemals wiederkommen. Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt wird zunehmen. Und unter diesen Umständen soll sich die iranische Industrie neu auf dem Weltmarkt etablieren?
Und welche Aussichten hat der Iran unter Bedingungen des freien Marktes auf dem Weltmarkt? Entwickelte kapitalistische Länder können Wettbewerbsnachteile mittels einer Abwertung ihrer Währung abbauen. Länder wie Italien haben von diesem Mechanismus jahrzehntelang profitiert, bis ihnen die Einführung des Euro diesen Weg versperrte und sie wachsende wirtschaftliche Probleme bekamen. Aber entwickelte kapitalistische Länder haben trotz der weit entwickelten internationalen Arbeitsteilung relativ lange Produktionsketten im eigenen Land.
Dagegen wird rückständigen Ländern in der kapitalistischen Arbeitsteilung, wenn sie nicht überhaupt nur Rohstofflieferanten sind, nur die Rolle einer „verlängerten Werkbank“ zugestanden: Sie importieren Vorprodukte, fügen ihnen nur wenige weitere Verarbeitungsschritte hinzu und exportieren sie dann wieder. Das bedeutet aber, dass bei einer Abwertung ihrer Währung der Vorteil der konkurrenzfähigeren Exporte fast vollständig durch höhere Importpreise der zu verarbeitenden Vorprodukte aufgefressen wird. Dieser Effekt schwächt zwar die oben geschilderte Wirkung von Währungsaufwertungen ab, aber für Länder mit niedrigerer Arbeitsproduktivität ist schon eine kleine zusätzliche Verschlechterung fatal. Wer schon nahe am Abgrund steht, für den ist auch ein kleiner Schritt tödlich.
Das Ergebnis ist ein Teufelskreis: Länder der „Dritten Welt“ sind nur mit wenigen Produkten auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig. Dadurch werden sie dazu getrieben, diese einseitige Orientierung immer weiter zu verfestigen, so dass dieser Exportsektor immer weiter vom Rest der Wirtschaft isoliert ist. Das wird manchmal als „strukturelle Heterogenität“ oder „fehlende Vermaschung der Wirtschaftskreisläufe“ bezeichnet. Es ist dann ökonomisch rational, Erdöleinnahmen à la Kuwait in moderne Industrien im Westen zu investieren statt in rückständige im eigenen Land. Es erscheint zweckmäßig, mit den Renteneinnahmen Warenimporte zu finanzieren, statt diese teuer im eigenen Land herzustellen. Es wäre zwar das Geld da, um Entwicklung zu finanzieren, aber die Interessen, es anderweitig zu nutzen, sind größer. Es ist Wunschdenken, dass der Iran auf kapitalistischer Grundlage aus seiner Erdölabhängigkeit mitsamt den Folgen von Rentenökonomie und Rentierstaat – Unterdrückung, Korruption, soziale Ungleichheit – ausbrechen kann. Ein Ausweg aus diesem Teufelskreis lässt sich nur finden, wenn die internationale Arbeitsteilung der kapitalistischen Weltwirtschaft überwunden wird, also der Kapitalismus international gestürzt wird.