Kommentar zum Stand der Sondierungsverhandlungen
Derzeit sondieren die vier Parteien CDU, CSU, FDP und Grüne noch die erstmalige Aufnahme von Koalitionsverhandlungen für eine Jamaika-Koalition auf Bundesebene. Bis zum 16. November sollen die Sondierungen abgeschlossen sein. Was können wir von der neuen Regierung erwarten?
von Michael Koschitzki, Berlin
Koalitionsverhandlungen und Sondierungen sind noch keine Regierungspolitik. Gerne wird von den beteiligten Parteien später so getan, als hätten sie schon wirklich umgesetzt, was auf dem Papier eines Koalitionsvertrages steht. Auf Landesebene ist das leider oftmals auch bei rot-rot-grünen oder rot-roten Koalitionen nicht anders.
Nicht selten sieht es am Ende der Legislatur anders aus als am Anfang. So ist zum Beispiel aus der solidarischen Lebensleistungsrente von 850 Euro aus dem letzten Koalitionsvertrag der Großen Koalition nichts geworden und bei der Begrenzung der Leiharbeit auf 18 Monate wurden so große Ausnahmen geschaffen, dass eine Beschäftigung über 48 Monate möglich ist. Andere Dinge stehen dagegen gar nicht in Koalitionsverträgen: So ließ der Koalitionsvertrag 1998 noch nicht erahnen, dass diese Bundesregierung unter Beteiligung der Grünen den ersten Militäreinsatz der Bundeswehr im Ausland nach dem Zweiten Weltkrieg beschließen wird.
Dennoch bilden die Verhandlungen die reale Grundlage für die Regierung in den nächsten Jahren. Hier geschlossene Kompromisse sind schwer wieder aufzukündigen und für die einzelnen Institutionen die Handlungsanweisung für die nächsten Jahre. Für alle Maßnahmen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, könnten jedoch auch weitere Verhandlungen mit der SPD nötig sein, da Jamaika dort derzeit sicher nur auf 21 der 69 Stimmen kommt.
Kommt Jamaika?
Während von FDP und Grünen der Eindruck vermittelt wird, dass die Koalition keineswegs alternativlos sei, sehen sich alle Seiten unter hohem Einigungsdruck. Die SPD hat eine Große Koalition ausgeschlossen, Neuwahlen wären derzeit die vermutlich einzige Alternative und deren Ausgang den Beteiligten zu ungewiss oder bringen nach jetzigen Umfragen keine Veränderung. Außerdem sehnen sich die Grünen so sehr nach einer Rückkehr in die Bundesregierung und Zugriff auf Ministerposten, dass sie in den weiteren Verhandlungen auch zu größeren Kompromissen bereit sein werden.
Erleichtert werden die Verhandlungen durch die nach oben korrigierten Steuerschätzungen. Präsentiert wurde eine Prognose, die 26,3 Milliarden Euro mehr vorsieht, wobei zehn Milliarden davon an Land und Kommunen gehen werden. Doch sie beruhen auf der Fortschreibung der derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung. Ein Einbruch oder eine empfindliche Dämpfung könnte viele Vorschläge, die jetzt in der Debatte sind, wieder zu Makulatur werden lassen.
Grüne als Garant sozialer Politik?
Gerade viele AnhängerInnen der Grünen erhoffen sich, die Partei würde in einer Regierung ein Gegengewicht zur neoliberalen Politik bilden. In Hinblick auf eine Regierungsbildung schrieb die Partei bereits in ihr Zehn-Punkte Programm, das als Schlusskapitel dem Bundestagswahlprogramm angehängt wurde, manche soziale Forderung wie die Besteuerung von Vermögen und Superreichen schon gar nicht mehr hinein. Doch auch aus diesem Minimalprogramm opferten sie bereits die ersten zwei Punkte. Aus dem kompletten Ausstieg aus der Kohle bis 2030 und dem sofortigen Abschalten von zwanzig Kohlekraftwerken blieb zuletzt nur noch die Forderung nach einer deutlichen CO2-Emissionsminderung übrig. Das Ende des Verbrennungsmotors, bisher forderten die Grünen den Ausstieg bis 2030, wird ebenfalls fallen gelassen.
Dem werden weitere Punkte folgen. Die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg leistete die letzten Jahre schon viel Arbeit, ein Vorbild für grüne „Realpolitik“ zu geben. Der grüne Ministerpräsident Kretschmann fordert, grüne Forderungen fallen zu lassen, wenn er gegenüber der Presse sagt: „Jeder Preis ist geringer als Neuwahlen.“ Und dieser Preis könnte sehr hoch sein: Auf der Tagesordnung für die Koalitionsverhandlungen stehen noch Themen wie die Zustimmung zu CETA, die Beibehaltung der Höhe der Rüstungsexporte, die Verlängerung von Bundeswehrmandaten im Ausland und die Anhebung des Verteidigungsetats, die Abschaffung des Solidaritätszuschlags sowie der am meisten diskutierte Knackpunkt des Umgangs mit Geflüchteten und der Familiennachzug.
Wie weit werden die Grünen beim Umgang mit Geflüchteten gehen? Während sich die CSU langsam von der Obergrenze verabschiedet, werden die Grünen vor der Frage stehen, ob sie beschleunigten Asyl- und Abschiebeverfahren in zentralen Zentren zustimmen, welche Grundrechte von Geflüchteten aushebeln.
Regierung der Reichen
Was die kommende Regierung genau machen wird, ist in vielen Bereichen noch Spekulation. Dennoch ist interessant, dass unter den bereits geeinigten Punkten die Schuldenbremse, das Bekenntnis zu mehr Handelsabkommen sowie stärkeres Engagement in Afrika und Ausbau der deutschen Stellung in der UN gehören. Auch bei der Rente sei man sich einig, dass „private Vorsorge“ gestärkt werden müsse. In der Pflege ist lediglich von einem Sofortprogramm die Rede und von akuten Maßnahmen bei der Geburtshilfe. Ob eine bundesweite Pflegepersonalregelung kommt, ist nicht klar. Vor allen Dingen sind Angriffe beim Arbeitszeitgesetz, bei dem eine Ausweitung der Höchstarbeitsdauer droht und weitere Ausnahmen beim Mindestlohn in der Diskussion. Wie sie genau aussehen und was für Maßnahmen kommen, wird sich in den nächsten Wochen herausstellen.
Bei dieser Regierung ist jedoch auf nichts zu hoffen. Jamaika im Bundestag wird kein Synonym für eine grüne Insel, sondern für eine Regierung der Reichen sein. Gewerkschaften und LINKE müssen vom ersten Tag an Druck machen gegen jede soziale oder rechtliche Verschlechterung, die diskutiert und verhandelt wird und an geeigneten Punkten offensiv für eigene Forderungen mobilisieren.