Bericht von der „Sozialismus-Konferenz“ in Tel Aviv
Kurz vor Weihnachten hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNO) mit vierzehn Stimmen und ohne Gegenstimme die israelischen Siedlungen im Westjordanland für illegal erklärt. Diese Abstimmung hat hohe Symbolkraft. Die USA haben sich der Stimme enthalten und abgelehnt – wie von Netanjahus rechtsgerichteter Regierung in Israel gefordert – ein Veto einzulegen. Donald Trump, der designierte Präsident der Vereinigten Staaten, hatte sich übrigens ebenfalls für eine Veto in dieser Frage ausgesprochen.
Per-Åke Westerlund, „Rättvisepartiet Socialisterna“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Schweden), 12/01/2017
Ein Woche zuvor hatte die „Bewegung für den sozialistischen Kampf“, die SAV-Schwesterorganisation und CWI-Sektion in Israel/Palästina, zu ihrer alljährlichen „Sozialismus-Konferenz“ nach Tel Aviv eingeladen. Die Hauptthemen dieser Veranstaltung lauteten: „Der Kampf gegen die rechtsgerichtete Regierung Netanjahu“ sowie „Rassismus und die Besatzung“. Hinzu kamen Diskussionsrunden zum Rechtsextremismus, der Gewerkschaftsfrage, zum Thema Umwelt, Frauenrechten, zu den Rechten von Menschen aus der LGBT-Community und anderen Themen. Der folgende Bericht von Per-Åke Westerlund von der „Rättvisepartiet Socialisterna“ (SAV-Schwesterorganisation und CWI-Sektion in Schweden) liefert einen Eindruck von dieser sehr erfolgreichen Konferenz. „Tnua’t Maavak Sozialisti“/„Harakat Nidal Eshtaraki“ (so der hebräische bzw. arabische Name der „Bewegung für den sozialistischen Kampf“) hatte Per-Åke als internationalen Gast zur „Sozialismus-Konferenz“ eingeladen.
Mit insgesamt fast 150 TeilnehmerInnen und einer Rekordzahl an palästinensischen TeilnehmerInnen war die „Sozialismus-Konferenz“ von „Tnua’t Maavak Sozialisti“/„Harakat Nidal Eshtaraki“ ein voller Erfolg. Vier Tage vor dieser Konferenz war Mohammed Abu Hummus, der Mitglied des Volkskomitees „al-Issawiya“ im besetzten Ost-Jerusalem ist, mit einem Gummigeschoss ins Bein geschossen worden. Trotzdem wollte er sich die Veranstaltung nicht entgehen lassen, zu der er auf Krücken anreiste, um über den Kampf gegen die Siedlungen und die Besetzung von Ost-Jerusalem zu sprechen. „Ich filme immer, wie die Armee, die Grenzpolizei und die Polizei vorgehen. Ich habe über 500 Videomitschnitte über Gewalt, Misshandlungen und ähnliches. Diesmal hatten sie eine Straße abgesperrt. Ich habe gefilmt und sie haben gelogen, was den Grund für die Blockade angeht. Dann haben sie auf mich geschossen“, so Mohammed.
Im Sommer 2014 war ihm mit scharfer Munition während einer Protestaktion gegen den Krieg und das Gemetzel in Gaza ins Bein geschossen worden. Daraufhin musste er ins Krankenhaus, erstattete aber keine Anzeige, da die Polizei ohnehin keine Untersuchung eingeleitet hätte. Im Januar ist der 12-jährige Sohn seines Cousins mit einem Gummigeschoss am Kopf getroffen worden. Die SoldatInnen behaupteten, er habe einen Stein auf sie geworfen. Der 12-Jährige fiel ins Koma, überlebte aber.
Die Siedlungen
Mohammed erklärte, wie der israelische Staat mit immer neuen Siedlungen in Ost-Jerusalem Gewalt und Repression verstärkt. „Vor der Besetzung von 1967 zählte mein Dorf Issawiya 12.500 km². Heute sind es nur noch 2.000 km². Ein Großteil wird vom Militär genutzt. Gerade erst hat man wieder Land beschlagnahmt, um darauf eine Schnellstraße zu bauen, die zur jüdischen Siedlung ‚Maale ‚Edomin‘ und einer neuen Mülldeponie führen wird. Ein weiteres großes Areal von 440 km² soll zu einem Nationalpark werden.“ Maale ‚Edomin ist eine der drei größten Siedlungen, in denen insgesamt 150.000 Menschen leben. Neue und ausgedehntere Siedlungen werden zur Zeit genehmigt und sind Teil der Politik der rechtsgerichteten Regierung.
„Als ein Gericht erklärt hat, dass die israelische Regierung kein Recht hat, unser Land zu nehmen, reagierte die Regierung damit zu behaupten, dass sie nichts weggenommen, sondern lediglich einen ‚Nationalpark eingerichtet‘ hätten“, sagte Mohammed weiter. „Die Polizei und SoldatInnen agieren in Ost-Jerusalem, um die Kriege und Konflikte zu schaffen, von denen sie behaupten, sie durch ihre Präsenz verhindern zu wollen. Wir bekommen mit, wie 30 oder 40 SoldatInnen ein kleines Kind die Straße hinauf jagen. Das Ziel ist einzuschüchtern. Es gibt Kinder, die sich nicht trauen, zur Schule zu gehen. Die Brutalität ist in einem Film ganz klar zu sehen, in dem ein israelischer Soldat einen Palästinenser tötet und dem Opfer dann noch ein Messer in den Körper rammt.“
Wenn die Grenzpolizei eine/n PalästinenserIn in „vorläufigen Gewahrsam“ nimmt, dann muss sie dafür keine Anklage vorlegen oder einen Haftbefehl beibringen. Sie kann jede/n über einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten in Gewahrsam nehmen. Und die Inhaftierung kann sogar noch immer wieder für jeweils ein weiteres halbes Jahr verlängert werden.
Vor ein paar Jahren hat ein Hungerstreik von Inhaftierten dazu geführt, dass einige von ihnen auf freien Fuß gesetzt wurden und die Anzahl der Verhafteten abgenommen hat. Seit Januar 2014 ist die Zahl derer, die ohne Anklage im Gefängnis sitzen, von 155 auf 720 Personen angestiegen. Unter diesen sind auch drei Mitglieder des „Palästinensischen Legislativrats“. 400 Kinder unter 18 Jahren befinden sich in Gewahrsam. Die Organisation „Adamir“ schätzt, dass sich insgesamt 7.000 Personen als politische Gefangene in Haft befinden. Es werden immer mehr palästinensische Häuser zerstört. Sowohl in Ost-Jerusalem als auch im „Area C“ (Gebiete, die seit dem Oslo-Abkommen von 1993 nicht direkt der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstehen) sind in der ersten Hälfte des Jahres 2016 mehr Wohnhäuser und Gebäude zerstört worden als im gesamten Jahr 2015. Die Zerstörungen haben das schlimmste Ausmaß seit 20 Jahren angenommen, so die NGO „Ir Amim“. „Die Regierung zerstört Häuser von Familien, die dort seit 55 Jahren gelebt haben. Sie bezeichnet diese als ‚illegal’“, so Mohammed.
Die Kontrollen
Ron Zaidel von der Organisation „Breaking the Silence“ (dt.: „Das Schweigen beenden“) bestätigte die Beschreibung der Lage in Ost-Jerusalem. Dieser Organisation gehören ehemalige israelische SoldatInnen an, die sich gegen Krieg und Besatzung einsetzen. Er meinte: „Das Vorgehen des Staates in den besetzten Gebieten ist auf Ost-Jerusalem ausgeweitet worden und geht bis ins Staatsgebiet Israels hinein. Es geht um die Kontrollmacht. Man zeigt Präsenz, um klarzumachen, wer die Macht hat. Häuser und Wohnungen werden durchsucht, aber es wird niemals gesagt, was der Grund dafür ist. Wenn eine Razzia beendet ist, werden am Ende noch Handgranaten geworfen. Die PalästinenserInnen werden wie Feinde behandelt, die in permanenter Angst leben sollen“.
An diesem Arbeitskreis nahm auch Amira Hass, eine bekannte Journalistin der Zeitung „Haaretz“ teil, die in Ramallah im Westjordanland lebt. Sie betonte, dass es sowohl um die Besatzung als auch um eine Art Kolonialregime gehe. Demnach übt der israelische Staat die Kontrolle über zwei unterschiedliche Systeme aus: über den Staat Israel und die Gebiete, die eigentlich zur Palästinensischen Autonomiebehörde gehören, faktisch aber als „Protektorat“ Israels bezeichnet werden können. Auch in Israel selbst stehen die demokratischen Rechte zunehmend unter Beschuss.
„Die Kolonialisierung nimmt zu. Die Regierenden in Israel versuchen, die kollektive Existenz der PalästinenserInnen zu eliminieren. In diesem Sinne ist Gaza der Prototyp, eine Enklave, die von der Welt abgeschnitten ist. Im Westjordanland und in Ost-Jerusalem werden viele kleine Gazas geschaffen. Die palästinensische Nation befindet sich auf dem Tiefpunkt“, so Amira.
Yasha Marmer von „Tnua’t Maavak Sozialisti“/„Harakat Nidal Eshtaraki“ wies auch darauf hin, dass die Regierung Netanjahu immer brutaler vorgeht: „2015 sind mehr als 500 Häuser von PalästinenserInnen zerstört worden. In diesem Jahr sind es bereits doppelt so viele. Die Anzahl an Verhaftungen und Tötungen steigt ebenfalls an.“ Yasha weiter: „Das Oslo-Abkommen sollte als Reaktion auf die erste Intifada gelten, wobei es sich um einen Massenaufstand gegen die Besatzung gehandelt hat. Die unmittelbare Militärherrschaft sollte durch eine Teilautonomie für die zerstückelten palästinensischen Gebiete ersetzt werden. Dennoch wird die Besatzung aufrechterhalten und weiter verschärft. Gleichzeitig befindet sich Netanjahu auf Kollisionskurs mit der Geschichte. Im Jahr 2011, als es in Tunesien und Ägypten zur Revolution kam, sind hunderttausende Menschen über zwei Monate lang in Israel gegen Preiserhöhungen und die verschärfte Wohnungskrise auf die Straße gegangen. Die Unterstützung für die Regierung ging in den Keller. Die Konterrevolution in der Region und das Fehlen einer Alternative in Israel hat dazu geführt, dass die Regierung sich wieder berappeln konnte“.
Yasha beschrieb, wie rechtsextreme Elemente in der Regierung Netanjahu seit der Wahl von Trump in den USA offen über die Annexion des Westjordanlands sprechen und darüber, die PalästinenserInnen, die in diesem Gebiet leben, unter ein Regime nach dem Vorbild der Apartheid zu stellen. Doch die Mehrheit der kapitalistischen Elite in Israel hat Angst, dass jede stärkere Bewegung in dieser Richtung einen neuen Aufstand der palästinensischen Massen provozieren kann – ein Aufstand, der, wie Yasha sagte, in der Tat nötig wäre.
Streik der LehrerInnen
„Repression ist auch ein Zeichen dafür, dass das Regime sich Sorgen macht. So soll beispielsweise ein ‚Verhaltenskodex‘, den das Bildungsministerium den Hochschulen in Israel auferlegen will, dafür sorgen, dass Studierende und das Lehrpersonal nicht mehr darüber sprechen dürfen, was in den besetzten Gebieten passiert“. Yasha und andere erinnerten an den Streik der LehrerInnen, der letztes Jahr im Westjordanland stattgefunden hat. Dieser Ausstand richtete sich sowohl gegen die Palästinensische Autonomiebehörde als auch gegen die Besatzung. In den israelischen Medien ist kaum über diesen Streik berichtet worden, und auch die Lehrergewerkschaft in Israel hat ihm keine Aufmerksamkeit geschenkt.
„Tnua’t Maavak Sozialisti“/„Harakat Nidal Eshtaraki“ steht für den Kampf gegen die Besatzung und gegen die Unterdrückung der PalästinenserInnen. Damit stellen wir uns gegen jeden Versuch, Besatzung und Rassismus als Normalzustand anzuerkennen.
Die nationalistisch-rassistische Reaktion in Israel stützt sich in keinster Weise auf irgendein ökonomisches Interesse der jüdischen Arbeiterklasse. Die anhaltende Enteignung der palästinensischen Massen auf beiden Seiten der „grünen Linie“ geht Hand in Hand mit den neoliberalen Attacken auf die abhängig Beschäftigten und die ärmere Bevölkerung in Israel. Diese Methode geht mit einer Politik einher, die dem „Teile-und-Herrsche“-Grundsatz folgt. Wegen der Sorge um die Sicherheit und aufgrund von Existenzängsten, ist die herrschende Klasse in der Lage, die ArbeiterInnen und andere unter Kontrolle zu halten.
SozialistInnen müssen den Dialog befördern und für einen gemeinsamen Kampf eintreten. Dies gilt vor allem für den Kampf der Arbeiterklasse, der für PalästinenserInnen wie für Jüdinnen und Juden gleichermaßen geführt werden muss, um ihre gemeinsamen Interessen in den Vordergrund zu stellen, die den Zielen des Kapitalismus in Israel entgegenstehen. Wir müssen für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft kämpfen, in der es keine Unterdrückung von nationalen Gruppen gibt.
Das bedeutet, sich für ein sozialistisches Israel und ein sozialistisches Palästina stark zu machen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre die Forderung nach einem gemeinsamen Staat weder eine Antwort auf die existierenden nationalen Bestrebungen noch auf die bestehenden großen Sicherheitsbedenken, die auf beiden Seiten vorhanden sind. Demgegenüber würde die Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung auf kapitalistischer Grundlage nur zu einem kapitalistischen Palästina führen, das als Vasallenstaat eines kapitalistischen Israel fungiert.