Buchbesprechung von Paul Masons „Postkapitalismus“
„Postkapitalismus – Grundrisse einer kommenden Ökonomie“ des britischen Journalisten Paul Mason erschien im April im Suhrkampverlag und wird derzeit innerhalb der deutschen und internationalen Linken heiß diskutiert. Masons Buch steht für eine Vision von einer neuen Gesellschaft ohne den Horror des derzeitigen kapitalistischen Systems. Der Autor sieht allerdings nicht mehr die Möglichkeit, dass die Gesellschaft durch den massenhaften Kampf der Arbeiterklasse verändert werden kann. Er verwirft den Sozialismus als alte Idee, deren Zeit vorüber ist.
Wir veröffentlichen hiermit eine Buchkritik von Peter Taaffe, Generalsekretär der „Socialist Party“, Schwesterorganisation der SAV, die auf englisch am 18.08.2015 erschien.
Mit vielem was Paul Mason in „Postkapitalismus“ aufgreift, hat sich Jeremy Rifkin in seinem Buch „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ vor zwei Jahren bereits befasst. Letzteres wurde in der Socialism Today (No.183, November 2014) besprochen (vgl.: https://www.archiv.sozialismus.info/2016/01/stuerzen-roboter-den-kapitalismus/). Rifkin schrieb: „Die kapitalistische Ära geht vorbei […] er hat seinen Höhepunkt erreicht und beginnt seinen langsamen Niedergang“. Nun schreibt Mason: „Die langfristigen Perspektiven für den Kapitalismus sehen trübe aus“. Die Ära des Neoliberalismus sei definitiv dem Untergang geweiht. Sein Buch lohnt sich zu lesen aufgrund seiner glänzenden Beschreibung des Scheiterns des Kapitalismus.
Mason und Rifkin sind sich einig, dass das „Ende des Kapitalismus“ durch die kolossale technologische Entwicklung, vor allem im Bereich der Informationstechnologie, besiegelt wird, da diese Entwicklung nicht im engen Rahmen des Nationalstaats und des kapitalistischen Privateigentums über die Produktionsmittel vonstatten gehen kann. Der enorme Produktivitätsschub, der daraus resultiert, bedeutet, dass die Kosten der Produktion für jede neu hinzukommende Einheit gegen Null geht. Dies würde umgekehrt dazu führen, dass die Produkte umsonst oder nahezu kostenlos zu haben sein werden. Wenn dies dann eintrifft, „würde der Profit, das Lebenselixier des Kapitalismus, versiegen“, so Rifkin.
Obwohl er selbst kein Marxist ist, beschäftigt Rifkin sich sehr gewissenhaft mit den Ideen, die Marx ausgearbeitet hat. Rifkin selbst bezeichnet seine eigene Herkunft als kleinbürgerlich. Er steht für die empirischen Schlussfolgerungen eines denkenden Teils bürgerlicher Intellektueller, die durchaus vom Marxismus zu beeinflussen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die entsprechenden Konsequenzen, die gezogen werden, die Masse der Bevölkerung betreffen. Darüber hinaus deuten Rifkins Ansichten – wie wir ausgeführt haben – auf die Möglichkeit hin, einige dieser Intellektuellen für die Arbeiterbewegung gewinnen zu können – vor allem die jüngeren Vertreter.
Paul Mason hingegen nimmt für sich in Anspruch Marxist zu sein, obgleich sein Buch für eine klare ideologische Abkehr vom eigentlichen Marxismus steht. Vor allem, wenn es um die Perspektiven für die Arbeiterbewegung und den Sozialismus geht, ist es zutiefst pessimistisch. Den Sozialismus verbindet er mit der Vergangenheit. Die von ihm präferierte Alternative ist hingegen das politische Niemandsland des „Post-Kapitalismus“. Obwohl sie den aktuellen Kapitalismus scharf kritisieren, werben sowohl Rifkin als auch Mason für durch und durch utopische Projekte. Ihre Alternative ist die Organisation durch „Gemeinschaftliches Wirtschaften“. So schreibt Mason: „Wir sehen das spontane Erstarken der Kollektiv-Wirtschaft […] Parallel-Währungen, Zeit-Banken, Kooperativen und selbstorganisierte Räume […] Neue Formen des Eigentums, neue Formen des Kreditwesens […] Ich meine, dass dies einen Ausweg bietet – aber nur, wenn diese mikroökonomischen Projekte gestärkt, gefördert und geschützt werden“.
Und wie soll dieser glückliche Zustand erreicht werden? Nicht durch die Arbeiterklasse und ihre Organisationen, die angeblich für die Vergangenheit stehen, sondern durch „den allgemeinen Intellekt […] womit der Geist jedes Menschen auf der Welt gemeint ist, miteinander verbunden durch das gesellschaftlich vorhandene Wissen, in dem jedes Upgrade jedem Menschen zum Vorteil gereicht“. Mason, der als Journalist für „Channel 4“ und davor für „Newsnight“ tätig war, offenbart an dieser Stelle, wie stark er von der Occupy-Bewegung beeinflusst worden ist.
Zweifellos stand Occupy für eine bedeutende Entwicklungsstufe im Zuge des politischen Wiedererwachens der neuen Generation in den USA und weltweit. Das haben auch die Bewegungen in Spanien, Griechenland und andernorts gezeigt. Wir haben das sehr begrüßt. Doch Mason orientiert sich nicht an der Stärke und dem Potential der Bewegung sondern an ihre Schwachstellen: ihre angebliche „Spontaneität“ und somit auf ihre Naivität bei der Art, wie sie den Kapitalismus konfrontieren will. Die Idee, dass sich eine allgemeine Bewegung der jungen Leute durch bewusste „Nicht-Organisation“ zu einer Bewegung entwickeln kann, die den brutalen „modernen“ Kapitalismus stürzen und den Staatsapparat neutralisieren kann, hat sich als Einbahnstraße erwiesen. Ein Teil der Occupy-Bewegung (z.B. in Seattle, wo Kshama Sawant in den Stadtrat gewählt worden ist) hat schnell gelernt, dass politisches Handeln nötig ist, will man Ziele erreichen.
Ein ähnlicher Prozess hat sich in Spanien vollzogen, wo die „Indignados“ entstanden sind, die „die Politik“ bei den letzten Parlamentswahlen effektiv boykottiert hat [Anmerkung des Übersetzers: Taaffe bezieht sich in seinem Artikel von 2015 auf die aus heutigem Blickpunkt vorletzten Parlamentswahlen]. Das aber hat zum Sieg der rechts-konservativen „Partido Popular“ (PP) geführt. Die Folge dessen ist gewesen, dass wir erleben durften, wie ein neues Bewusstsein entstanden ist, zu dem auch die Einsicht gehört, politisch radikale Maßnahmen zu ergreifen. Dies zeigt sich am Aufstieg von „Podemos“. Ob diese neue Bewegung die zweifellos radikale und verbitterte Stimmung innerhalb der Arbeiterklasse Spaniens wird nützen können oder nicht, ist dabei eine ganz andere Frage. Ihre Führung hat es zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls nicht vermocht, die Mehrheit der spanischen ArbeitnehmerInnen für sich zu gewinnen. Das liegt an ihrem Versuch, im Endeffekt eine „Anti-Parteien-Partei“ aufzubauen, die unklare Kritik an dem übt, was sie als „Kaste“ bezeichnet. Stattdessen könnte sie auch klare Kritik an der herrschenden Klasse und deren Parteien und Organisationen üben. Fakt ist, dass sie in den Umfragen der jüngsten Zeit an Unterstützung verloren hat.
Falsch verstandener Marxismus
Mason greift den Marxismus, besonders Friedrich Engels, den Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus, für seine Analyse der Arbeiterklasse in Großbritannien an. Er zerfleischt Lenin und die die bolschewistische Partei sowie die Russische Revolution, die sie angeführt haben. Er übt auch starke Kritik an der marxistischen Analyse der wirtschaftlichen Lage vor dem Ersten Weltkrieg, die angeblich von „düsteren Vorahnungen“ heimgesucht wurde, welche sich „als falsch erwiesen haben“. Obendrein lobt er Rudolf Hilferding, den vor dem Ersten Weltkrieg wirkenden österreichischen „marxistischen Ökonomen“, der als reformistischer Apologet und Stütze des Kapitalismus endete.
Mason liegt falsch, wenn er erklärt: „Der Marxismus unterschätzt die Fähigkeit des Kapitalismus sich anpassen zu können“. Marx hat bekanntermaßen erklärt, dass kein System von der Bildfläche der Geschichte verschwindet, ohne dass nicht alle verborgenen Möglichkeiten ausgereizt werden, die ihm innewohnen. Diese Feststellung kann aber nicht auf die grobe ökonomisch-„deterministische“ Weise interpretiert werden, wie es Mason bedauerlicherweise tut. Ökonomische Entwicklungen können natürlich letztendlich maßgebend sein, aber der Staat und die Politik spielen in diesem Prozess ebenfalls eine entscheidende Rolle.
Aus diesem Grund beschäftigt sich der Marxismus nicht nur mit den ökonomischen Perspektiven sondern auch mit „politischer Ökonomie“, mit der dialektischen Wechselbeziehung zwischen ökonomischen und politischen Entwicklungen. Denn Ursachen können zu Auswirkungen werden, und Auswirkungen zu neuen Ursachen. So schuf beispielsweise der Verrat der Sozialdemokratie und des Stalinismus an der revolutionären Welle, die auf den Zweiten Weltkrieg folgte, die politischen Vorbedingungen für die Stabilisierung des Kapitalismus und den lang anhaltenden Boom des Welt-Kapitalismus von 1950 bis 1975.
Aus demselben Grund weisen wir das künstliche Konstrukt ab, das vom russischen Ökonomen Nikolai Dmitrijewitsch Kondratieff geborgt wurde und die sogenannten langen Wellen bzw. Super-Zyklen umfasst. Leon Trotzki hatte 1923 schon darauf reagiert und den von Kondratieff erdachten 50-Jahres-Zyklus, der nun von Mason und anderen wieder hervorgeholt wird, ins Land der Mythen verwiesen. Die Zyklen-Theorie basiert allein auf der abstrakten Analyse linearer ökonomischer Prozesse, ohne dabei die Auswirkungen großer politischer Entwicklungen mit einzubeziehen – weder im Inland noch auf internationaler Ebene.
Mason kann auch nicht widerstehen, einen Seitenhieb gegen den „Trotzkismus“ auszuteilen (dem er selbst einmal anhing, als er noch Mitglied der kleinen Gruppe „Workers Power“ war, die wiederum aus der SWP heraus entstanden ist). Dieser Seitenhieb gilt einer falschen ökonomischen Analyse aus dem Jahr 1946, die von einer Strömung, dem „Vereinten Sekretariat der Vierten Internationale“, angestellt worden ist. Die Vorläufer der Strömung „Militant“ (heutige: „Socialist Party“) haben die politischen Entwicklungen der damaligen Zeit mit einbezogen (vor allem den Ausverkauf der revolutionären Welle der Nachkriegszeit durch die Sozialdemokratie und den Stalinismus). Dementsprechend wurden auch deren ökonomische und politische Perspektiven angepasst, und man war daher in der Lage, vorherzusehen, dass die „Labour“-Regierung von 1945 fähig sein würde, grundlegende Reformen durchzusetzen.
Der Erste Weltkrieg
Ähnlich verkehrt liegt Mason, wenn es um die Gründe für den Ersten Weltkrieg geht. Die Analyse von Lenin, Trotzki, Rosa Luxemburg und anderen, die diese vor dem Krieg und als Reaktion auf den reformistischen Theoretiker Eduard Bernstein angestellt haben (seine These war: „Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles.“) ist durch den Krieg selbst bestätigt worden. Sie haben erkannt, dass es sich beim Kapitalismus vor dem Krieg um ein vergleichsweise fortschrittliches System gehandelt hat, das in der Lage war, die Produktivkräfte weiterzuentwickeln: die Wissenschaften, die Technik und die Organisation der Arbeiterschaft. Das heißt aber nicht, dass eine Revolution des 19. Jahrhunderts (wie z.B. die „Pariser Kommune“ von 1871) – gesetzt den Fall, sie wäre erfolgreich verlaufen – nicht in der Lage gewesen wäre, die Industrie und die Gesellschaft in weit größerem Umfang fort zu entwickeln.
Weil es dazu aber nicht gekommen ist, war der Kapitalismus weiterhin in der Position fortzufahren, was zum Anwachsen der Arbeiterklasse geführt hat. Sie ist die Macht, die im Laufe der Zeit als Totengräber des Kapitalismus in Erscheinung treten soll. Doch der Kapitalismus kam an seine Grenzen und wandelte sich von einer relativen Barriere der Produktion zur regelrechten Fessel derselben. Der Nationalstaat und das Privateigentum nahmen den Produktivkräften die Luft zum Atmen. Dies konnte nur in der Katastrophe des Krieges münden.
Im Boom, der dem Ersten Weltkrieg vorausging (grob von 1896 bis 1914), beruhigten sich die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen und die gesellschaftlichen Beziehung gleichwohl in gewissem Rahmen. Und die Führungen der Arbeiterorganisationen passten sich dieser Situation an. Aus diesem Grund war die Arbeiterklasse nicht auf die bevorstehende Katastrophe des Krieges vorbereitet. Der Verrat der sozialdemokratischen Führer, die im Krieg jeweils ihre eigene herrschende Klasse unterstützten, führte zur völligen Orientierungslosigkeit in der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung.
Drei Jahre des Gemetzels bereiteten den Boden für die Revolution und 1917 kam es dann zur Russischen Revolution. Mason schreibt: „Das maßgebliche Ereignis in der 200jährigen Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung [war] die Zerstörung der deutschen Arbeiterbewegung durch den Faschismus“. Nicht die Revolution sondern die Konterrevolution soll demnach größere Bedeutung gehabt haben! Im Gegensatz dazu war es jedoch in diesen 200 Jahren die Russische Revolution (die bis dato einmalig in der Geschichte der Menschheit ist), bei der es sich um das entscheidende Moment gehandelt hat. Es waren keineswegs die faschistischen Konterrevolutionen in Deutschland, Italien und Spanien. Letztere fungierten als gigantischer Bremsklotz für die Gesellschaft und die Bewegung der Arbeiterklasse.
Kämpfen, um den Kapitalismus auszuhalten?
Es handelt sich hierbei auf gar keinen Fall um rein abstrakte Aspekte, die lediglich von historischem Interesse wären. Mason geht in seiner Analyse einseitig vor, wenn er schreibt: „Es ist nötig etwas zu sagen, das von vielen Linken als schmerzhaft empfunden werden wird: Der Marxismus hat die Arbeiterklasse nicht begriffen. Das Proletariat war knapp davor, zum aufklärerischsten und kollektiven Subjekt der Geschichte zu werden, das die menschliche Gesellschaft jemals hervorgebracht hat. Die Erfahrungen der letzten 200 Jahre zeigen aber, dass das Proletariat eher damit beschäftigt war ‚trotz des Kapitalismus zu leben‘ als selbigen zu Fall zu bringen […] Die Literatur der Linken ist übersät mit Ausflüchten über diese 200jährige Geschichte, bei der es sich um die Geschichte von Niederlagen handelt: Der Staat sei zu stark gewesen, die eigene Führung zu schwach, die Arbeiteraristokratie habe zu viel Einfluss gehabt […] Weit davon entfernt, zum bewussten Träger des Sozialismus zu werden, war sich die Arbeiterklasse sehr bewusst, was sie wollte. Und das hat sie durch ihr Handeln auch gezeigt. Sie wollte eine weniger lebensgefährlich Form von Kapitalismus […] Das war nicht das Resultat geistiger Rückschrittlichkeit. Es handelte sich hierbei um eine offenkundige Strategie, die auf etwas basierte, von der die marxistische Tradition noch nie etwas gehört hat: der Beständigkeit der Fertigkeiten, der Autonomie und des Status im Leben der Arbeiterklasse“.
Das 20. Jahrhundert, das von Kriegen, wirtschaftlichen und sozialen Katastrophen, Revolutionen und Aufständen gezeichnet war, steht also nicht für die gewaltigen Anstrengungen, eine neue sozialistische Welt zu errichten, sondern war nur der Versuch des Proletariats, zu einer „weniger lebensgefährlichen Form von Kapitalismus“ zu kommen. Mason bekommt es tatsächlich hin, die Russische Revolution, die deutsche Revolution von 1918 bis 1823, die Sitzstreiks und das revolutionäre Potential im Italien der 1920er Jahre sowie den USA der 1930er und die Spanische Revolution von 1931 bis 1937, als die unsterbliche Arbeiterklasse Spaniens zehn Revolutionen hätte starten können, auszublenden.
Und bei dieser Aufzählung wurden die größten Generalstreiks der Geschichte sowie die Massenbesetzungen der Fabriken im Frankreich des Jahres 1968 noch gar nicht erwähnt. Selbiges gilt für die revolutionären Erhebungen in Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und in anderen Staaten, zu denen es in den 1970er Jahren gekommen ist. Wir sollten an dieser Stelle daran erinnern, was die Tageszeitung „The Times“ 1975, nach dem gescheiterten Putschversuch von Spinola erklärt hat: „Der Kapitalismus in Portugal ist tot“. Schließlich waren die Banken verstaatlicht und 70 Prozent der Industriebetriebe in die eigene Hand genommen worden. Dies war möglich aufgrund des Drucks einer rebellischen Arbeiterklasse. Aber wie es scheint war all dies nur auf ein großes Missverständnis zurückzuführen! Es ging dabei laut Mason gar nicht um die Revolution und um die Perspektive einer neuen Gesellschaft. Die Massen haben ihr Blut gegeben, enorme Opfer gebracht und kolossale Energiereserven erbracht, allein um eine andere Form von Kapitalismus zu bekommen.
Dasselbe gilt für Masons Behauptung, wonach das, was wir aktuell erleben, „nicht nur eine Arbeiterklasse in anderem Gewand ist sondern miteinander vernetzte Menschlichkeit“. Da haben wir es: Die Arbeiterklasse hat sich auf einen Schlag einfach aufgelöst. An diesen Argumenten ist nichts wirklich Neues zu finden. Mason würgt nur die Ideen der Vergangenheit wieder hervor, die vor allem nach dem Zusammenbruch des Stalinismus vom selbigen Abstand genommen haben, um zu dem zu werden, was wir als „Euro-Kommunismus“ kennen. Diese Tendenz hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, den Rechtsschwenk der „Labour Party“ unter Neil Kinnock in Großbritannien theoretisch zu unterfüttern. Ein bekannter Vertreter hierbei war Eric Hobsbawm, den Mason in seinem Buch anhimmelt. Er wies auf die Deindustrialisierung als Ausdruck des angeblichen Niedergangs der Arbeiterklasse hin.
Während die Arbeiterklasse in ihrer klassischen Form (als IndustriearbeiterInnen) in den entwickelten Industrieländern zahlenmäßig kleiner geworden ist, ist sie im Weltmaßstab – allein was ihren Anteil an der Bevölkerung angeht – wahrscheinlich sogar größer geworden. Auf jeden Fall hat sie wesentlich mehr Gewicht allein aufgrund der enormen Industrialisierung in Ländern wie China, Indien, Brasilien etc.
Wir erkennen an, dass der Prozess jetzt sogar noch weiter gegangen ist. Aber es gibt immer noch einen substantiellen Teil der Arbeiterklasse, der im Transportwesen, der Industrie usw. beschäftigt ist und der eine entscheidende Rolle spielen kann und wird. Das haben die jüngsten Streiks der Beschäftigten der Londoner U-Bahn gezeigt.
Doch selbst, wenn das nicht der Fall sein sollte, so gibt es immer noch die Proletarisierung der ehemals „privilegierten“ Schichten wie z.B. der LehrerInnen, Staatsbediensteten, Postbeschäftigten und HochschuldozentInnen, die häufig miserable Löhne bekommen und sich selbst als Teil der Arbeiterklasse verstehen. Sie schließen sich Gewerkschaften an und so weiter. In der jüngeren Vergangenheit haben wir große Bewegungen in den USA für die Anhebung des Mindestlohns auf 15 Dollar erleben dürfen. Hinzu kamen die Beschäftigten aus dem Niedriglohnsektor in Großbritannien, die einen Stundenlohn von 10 britisches Pfund fordern. Es ist zu Revolten unter den Beschäftigten in Call-Centern gekommen. Dasselbe gilt für die KollegInnen bei „Amazon“, die sich gegen zunehmend ausbeuterische Arbeitsbedingungen zur Wehr setzen. Sie sind und werden noch angesteckt von der allgemeinen Stimmung, dass die Arbeiterklasse als solche (nicht nur im Bereich der Industrie sondern auch politisch und gesellschaftlich) eine Rolle spielt.
Sozialistisches Bewusstsein
Bislang hat sich kein breites sozialistisches Bewusstsein herausgebildet. Das gilt sogar für Griechenland, obwohl die Wirtschaftskrise dort tiefe Gräben aufgerissen und die Wut der Arbeiterklasse sowie Aktionen dagegen mit sich gebracht hat. Man bedenke nur die mehr als 30 Generalstreiks, in deren Verlauf die heldenhafte Arbeiterklasse buchstäblich an die Grundfesten des griechischen Kapitalismus gerüttelt hat. Wir wurden ebenfalls Zeuge der kolossalen Erhebungen in Spanien und Portugal. Und in Großbritannien ist es zum „Phänomen Corbyn“ gekommen. Letzteres wird auf einen politischen Aufstand der Arbeiterklasse und vor allem der jungen Leute hinauslaufen, die die Nachfolger von Tony Blair genauso geschockt haben wie die bürgerlichen Kräfte insgesamt.
Mason betrachtet die marxistische politische Analyse und die Erklärung, weshalb all dies noch immer nicht zum Sieg der Arbeiterklasse geführt hat, als einfache „Ausreden“. Er hat einen völlig einseitigen und deterministischen Blick auf das Bewusstsein, das durch eine Kombination von Entwicklungen geprägt wird. Wesentlich dabei ist der Faktor der kollektiven Erfahrung, die die Arbeiterklasse macht, vor allem ihre führenden Schichten, zusammen mit der Führungsrolle von Parteien und Einzelpersonen. In ihrer Hochphase des späten 19. Jahrhunderts, als sie beispielsweise in Deutschland unter dem direkten Einfluss von Marx und Engels standen, aber auch noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben die sozialdemokratischen Parteien systematisch für die sozialistische Bildung tausender ArbeiterInnen gesorgt. Diese haben ihrerseits wiederum Millionen von KollegInnen mit den Ideen des Sozialismus versorgt und diese mit den täglichen Erfahrungen zusammengebracht. Die Unzulänglichkeiten des Kapitalismus wurden in Reden, Zeitungsartikeln, Pamphleten usw. auf den Punkt gebracht.
Die römische Mythologie lehrt uns, dass Minerva in ihrer ganzen Gestalt aus dem Kopf Jupiters entsprungen ist. Mason glaubt, dass es sich mit der Entstehung des Bewusstsein der Arbeiterklasse ganz ähnlich verhält. Demnach hätten objektive Veränderungen keinen Einfluss auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse. Wie sonst könnte er in der Buchbesprechung der Zeitung „The Guardian“ zu seinem Buch schreiben: „In den letzten 25 Jahren ist das Projekt der Linken in sich zusammengebrochen. Der Markt hat über den Plan gesiegt. Der Individualismus hat den Kollektivismus und die Solidarität ersetzt. Die stark angewachsene Arbeiterschaft der Welt sieht aus wie ein ‚Proletariat‘, denkt und verhält sich aber nicht mehr wie einst“. Es kommt darin zum Vorschein, dass er nicht begreift, wie der Zusammenbruch des Stalinismus – vor allem vor dem Hintergrund des kapitalistischen Aufschwungs – enorme Auswirkungen hatte und immer noch großen Einfluss auf die politischen Perspektiven der Arbeiterklasse ausübt.
Die Demontage der Planwirtschaft – die für die Arbeiterklasse trotz des Vorhandenseins einer erdrückenden Bürokratie als Bezugspunkt gewirkt hat – ermöglichte es der herrschenden Klasse, einen umfassenden Feldzug durchzuführen. Dabei sind die Vorteile des Kapitalismus in Gegensatz zum „in Misskredit gefallenen Sozialismus“ über den Klee gelobt worden. Dies markierte eine enorme politische Niederlage für die Arbeiterbewegung und die Arbeiterklasse weltweit. Das Bewusstsein ist zurückgeworfen worden. Es ist allerdings nicht vergleichbar mit dem Ausmaß, zu dem es durch den Sieg des Faschismus in den 1930er Jahren kommen konnte.
Nach der Krise 2007/08 haben die Kapitalisten von allen Bühnen herab gebrüllt, dass es keine Alternative zum „Markt“ geben würde. Die FührerInnen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie haben diese Parolen nachgebetet und sind immer weiter nach rechts gerückt. Das ist der Grund, weshalb es die Arbeiterklasse als breite Masse aber auch in Gestalt ihrer stärker entwickelten Schichten trotz der Tatsache, dass sie sich in den Kampf gegen die Attacken des Kapitalismus geworfen hat, immer noch nicht vermocht hat, demokratischen Sozialismus als echte Alternative zum bestehenden System des Kapitalismus für sich zu entdecken.
Und dennoch ist der Boden bereitet, wie die Wahl von Kshama Sawant in Seattle und die Kampagne von Bernie Sanders bei den Vorwahlen zur US-Präsidentschaft gezeigt haben. Auf diesem Boden wird die Saat eines sozialistischen Bewusstseins keimen. Das wird sogar in den USA, der Festung des Kapitalismus, geschehen. Das krisengeschüttelte Europa und der Rest der Welt werden dahinter nicht weit zurückfallen.
Der utopische Sozialismus
Die Alternativen, mit denen Paul Mason aufwartet, sind nicht gerade als moderner Fortschritt gegenüber den „überholten Ideen des Sozialismus“ zu bezeichnen. Im Grunde geht es – und das gibt er unverhohlen zu – um eine Rückbesinnung auf die Idee der Zusammenarbeit in Kooperativen. In Wirklichkeit geht es hierbei um die alte Idee von Robert Owen und anderen, die dem Marxismus und dem Aufkommen einer politisch bewussten Bewegung der Arbeiterklasse vorausgegangen waren. Owen war ein Genie mit einer großartigen Persönlichkeit, der uns durch seine Modell-Siedlungen einen Geschmack davon gegeben hat, was im Sozialismus möglich ist. Dennoch war dies utopisch, und am Ende scheiterten seine Projekte. Sie standen für den heldenhaften Versuch, in einem Meer des Kapitalismus, Inseln des Sozialismus zu schaffen. Das Ziel bestand darin, die „Gesellschaft hinter dem Rücken der Gesellschaft zu verändern“.
Mason behauptet, dass die utopischen SozialistInnen damals wegen der herrschenden Mangelwirtschaft gescheitert sind, dass ihr Projekt heute aber – angesichts des Überflusses, der auf die Informationstechnologien, die Möglichkeit zu teilen etc. zurückzuführen ist – von Erfolg gekrönt sein würde. Er liegt in vielerlei Hinsicht falsch. Wie Marx und Engels ausgeführt haben, sind die utopischen SozialistInnen in dieser Gestalt aufgetreten, weil die Arbeiterklasse noch nicht zu einer unabhängigen gesellschaftlichen Kraft mit ausgewachsenem Klassenbewusstsein herangereift war. Zu diesem gelangten sie aber durch die „Chartisten-Bewegung“ [Anmerkung des Übersetzers: nach der „People´s Charter“ benannte Arbeiterbewegung um 1830], die erster Ausdruck einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse in der Geschichte gewesen ist.
Über einen Zeitraum von rund zehn Jahren durchlief die „Chartisten-Bewegung“ alle Stufen des Klassenkampfs vom Mittel der friedlichen Eingabe bis hin zum revolutionären Generalstreik. Diese Erfahrung war es, die Engels für sein großartiges Buch heranzog, das er im Alter von 24 Jahren schrieb: „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ von 1844. Von Mason wird dieses Werk angegriffen. Dasselbe macht er in Bezug auf die Erklärung von Marx und Engels, weshalb der Kapitalismus nach der Revolution von 1848/51 einen Boom erlebte, der innerhalb der britischen Arbeiterbewegung zu einer Phase der „Mäßigung“ führte.
Mason schreibt: „Engels sagte, die ArbeiterInnen wurden angepasst, weil sie ‚Anteil hatten an den Wohltaten‘ der imperialen Macht Großbritanniens. Nicht nur die Fachkräfte – die er als ‚Arbeiteraristokratie‘ beschrieb – sondern auch die breite Masse der Bevölkerung, so glaubte Engels, profitierten ebenfalls von den sinkenden Preisen infolge der britischen Empire. Allerdings dachte er, dass die Wettbewerbsvorteile Großbritanniens nur zeitweilig Bestand haben würden und dass das Privileg der Fachkräfte ebenfalls nur zeitlich befristet sei“.
Engels hatte recht. Im späten 19. Jahrhundert begann der Kapitalismus, seine Wettbewerbsvorteile einzubüßen. Das wiederum hatte Folgen für die Arbeiterklasse und führte zur Revolte der schlecht bezahlten „match-girls“ (Frauen in der Streichholz-Produktion; Erg. d. Übers.), der HafenarbeiterInnen und anderer. Natürlich gab es noch den gut ausgebildeten Teil der Arbeiterklasse, obwohl auch dieser vom Niedergang des britischen Kapitalismus betroffen war. Selbst in einer Gesellschaft, die sich im Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus befindet, werden die ausgebildeten Fachkräfte mehr Lohn bekommen müssen. Der Versuch von Mason, Marx und Engels als fehlgeleitet und einseitig in ihrer Analyse der Arbeiterklasse als die wesentliche Triebfeder für den Wandel darzustellen, hält keiner ernstzunehmenden Untersuchung stand. Seine Methode ist eklektisch, ein ökonomisch-politisches Gewirr, das zusammengestellt wurde, um in seine utopische Sichtweise zu passen.
In seinen Schlussfolgerungen gesteht Mason soviel ein wie etwa, dass „wir […] ganz unverhohlen als Utopisten auftreten“ müssen. Dieses Ziel hat er schon erreicht, wenn man sich nur sein schematisches Modell ansieht, das keine Verbindung zur Frage herstellt, wie die Ereignisse sich in der nächsten Zeitspanne in Großbritannien und weltweit entwickeln werden. Die ideologischen Wurzeln, auf die seine Analysen zurückgehen, zeigen sich, wenn er schreibt: „Die erfolgreichsten Unternehmer im frühen Post-Kapitalismus sind genau diese [Utopisten], und genauso waren es all die Pioniere der Befreiung der Menschheit“. Weder der Sozialismus noch die Arbeiterklasse werden bei den Kämpfen genannt, die in nächster Zukunft anstehen.
Es ist klar, dass Mason vom Scheitern der radikalen Bewegungen negativ berührt ist, die den maroden Kapitalismus konfrontieren wollten. Dies gilt vor allem für die Kapitulation von Alexis Tsipras in Griechenland, die er aus nächster Nähe für das Fernsehen verfolgt hat. Es handelt sich hierbei aber lediglich um eine bestimmte Phase im Klassenkampf. Die Arbeiterklasse in Griechenland, Europa und der Welt wird auch korrekte Schlussfolgerungen aus dieser bitteren Erfahrung ziehen. Wir brauchen nicht nur starke Organisationen der Arbeiterklasse sondern eine Führung, die in der Lage ist, zusammen mit den Massen bis zum Ende, bis zur Beendigung des Kapitalismus zu gehen und eine neue sozialistische Perspektive zu bieten. Bedauerlicherweise wird das Buch von Paul Mason bei dieser Aufgabe eher hinderlich als hilfreich sein.