Die Massen gegen das Modi-Regime
Es ist nicht klar zu bestimmen, wie viele Menschen sich dem Generalstreik vom 2. September 2016 angeschlossen haben. Die Schätzungen reichen bis zur Zahl von 180 Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern – das wäre der größte Streik in der Menschheitsgeschichte. Die Streikenden wenden sich gegen die erneuten Privatisierungsversuche und neoliberalen Reformvorschläge des Premierministers Narendra Modi. Tausende staatlich kontrollierte Banken, Verwaltungsstellen und Fabriken mussten an besagtem Freitag geschlossen bleiben.
Von Tom Hoffmann, Berlin
Die Pläne der indischen Zentralregierung, unproduktive Fabriken zu schließen, mehr ausländische Investitionen in bestimmten Industrien zu ermöglichen und staatliche Unternehmen zu verscherbeln, verursachen verständlicherweise Angst in der Bevölkerung vor weiterer Privatisierung und Stellenabbau. Doch der Streik ist nicht nur von defensivem Charakter. Die zehn Einzelgewerkschaften und Dachverbände, welche zur Auseinandersetzung mobilisierten, fordern von der Regierung sozialstaatliche Absicherungen, höhere Renten, sowie eine für alle zugängliche Gesundheitsversorgung. Die Verhandlungen der Gewerkschaften mit Finanzminister Arun Jaitley waren gescheitert, nachdem dieser der Forderung nach einem einheitlichen Mindestlohn von 18.000 Rupien (240 Euro) pro Monat nicht nachgekommen war. Der aktuelle Durchschnittslohn beträgt 246 Rupien (3,40 Euro) pro Tag – die Regierung hatte einen Mindestlohn von 350 Rupien (4,65 Euro) angeboten, welcher nicht einmal für die einzelnen Bundesstaaten bindend wäre.
Arm und Reich trennen Welten
Die arrogante Haltung der Regierung ist sicherlich „Mitschuld“ an der breiten Streikbeteiligung. Die Wut auf die Regierung ist in der krassen sozialen Ungleichheit der indischen Gesellschaft begründet. Modi und Co. können beispielsweise mit Stolz verkünden, dass die Zahl der indischen Dollar-Millionäre stetig steigt. 437.000 sollen es bis 2018 sein. Auf der anderen Seite steht das riesige Ausmaß an Armut im Land, welches für Millionen jeden Tag Hunger und Elend bedeutet. Knapp 180 Millionen Menschen lebten 2014 unter der Armutsgrenze der Weltbank von 1,78 US-Dollar pro Tag. In drei Viertel der ländlichen Haushalte verdient der/die BestverdienerIn weniger als 5000 Rupien (66,50 Euro) pro Monat. In Mumbai, der größten indischen Metropole, zeigt sich der Gegensatz zwischen Arm und Reich besonders krass. Hier erstreckt sich Dharavi, der vermutlich größte Slum Asiens, über eine Fläche von zwei Quadratkilometer. In der Innenstadt bahnen sich hingegen die Eliten in teuren Autos ihren Weg durch Wolkenkratzer und Luxusimmobilien.
Reaktionäre Regierung
Die Modi-Regierung, die seit 2014 im Amt ist, steht auf keinen festem Boden. Es häufen sich Rückschläge bei Wahlen, wie im von Armut geprägten Bundesstaat Bihar, wo auch der jetzige Streik größere Auswirkungen hatte als in anderen Gegenden. GewerkschafterInnen störten hier den Zug- und Autoverkehr, Geschäfte wurden eigenhändig geschlossen. Die Unzufriedenheit mit der Regierung kommt nicht von Ungefähr. Vom Wirtschaftswachstum – seit 2014 immerhin über jeweils sieben Prozent pro Jahr – sieht die Arbeiterklasse nichts. Die Regierung versucht die Klassengegensätze durch hindu-nationalistische Propaganda zu überdecken. Die Rashtriya Swayamsevak Sangh, eine der Regierungspartei BJP nahestehende, hindu-nationalistische Gruppe, in der sich auch Modi organisierte, ist seit dessen Amtsantritt im Aufschwung und versucht die Bevölkerung nach ethnisch-religiösen Linien zu spalten, hetzt gegen Muslime und Muslimas. Die der RSS nahestehende Gewerkschaft Bharatiya Mazdur Sangh beteiligte sich wenig überraschend nicht an der Auseinandersetzung. Der Streik hat das Potenzial die Hetze der RSS zurückzudrängen und die wirkliche Trennlinie der indischen Gesellschaft offenzulegen: Ausländische Investoren, Kapitalisten und Grundbesitzer auf der einen – die Arbeiterklasse und arme Bauernschaft auf der anderen Seite.
Wut von unten
Im September letzten Jahres hatte Indien ebenfalls einen Generalstreik in ähnlicher Größenordnung gesehen. Mit fast 500 Millionen Beschäftigten ist die indische Arbeiterklasse die zahlenmäßig zweitgrößte nach der chinesischen. Der erneute Streik vom 2. September deutet das noch unvorstellbare Potenzial an, welches diese Menschen als vereinte, gesellschaftliche Kraft entfalten können. Über neunzig Prozent der ArbeiterInnen sind jedoch im sogenannten informellen Sektor beschäftigt. Dieser umfasst alle möglichen Arbeitsbereiche: MaurerInnen, StraßenverkäuferInnen, LieferantInnen usw. In diesem Sektor werden selbst die begrenzten staatlichen Arbeitsrechte nicht durchgesetzt. Jene ArbeiterInnen werden von keiner Gewerkschaft vertreten. Trotzdem war eine Forderung der Streikenden eine Anhebung des Mindestlohnes für ungelernte ArbeiterInnen. So konnten die Gewerkschaften Verbindungen zu den ArbeiterInnen des informellen Sektors aufbauen, welche sich aus Wut über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen in großer Zahl dem Streik anschlossen. Die Probleme der Beschäftigten kann und will die Regierung nicht lösen. Mit der Kampagne „Make in India“ werden stattdessen ganze Wirtschaftszweige reihenweise ausländischen Investoren ausgehändigt. Die Folgen sind Entlassungen, Aussetzung der Lohnzahlungen und längere Arbeitszeiten. Statt die Armut zu bekämpfen, bekämpft Modi die Armen und gibt den Reichen. Die Wut über die Zustände ist da. Die Führungen der linken Parteien und Gewerkschaften schaffen es bisher nicht, diese Wut in einem Aktionsprogramm zu kanalisieren. Nur vier Prozent der indischen ArbeiterInnen sind gewerkschaftlich organisiert. Die den Gewerkschaften nahestehenden Parteien, wie die Kommunistische Partei Indiens (Marxisten), haben kein sozialistisches Programm, welches die Ursachen für Armut und Privatisierungen benennt. Eine Partei, welche den Massen weitergehende Schritte vorschlägt und bereit ist, mit dem kapitalistischen System zu brechen, hätte dabei gute Chancen zum Ausgangspunkt einer ernstzunehmenden Gefahr für das Modi-Regime und die Herrschenden zu werden.