Streiks und Massenproteste aber auch Reaktion in Europa
Die etablierten Parteien und Herrschenden haben für eine anhaltende soziale Krise gesorgt. Arbeitslosigkeit und Armut prägen weite Teile des Kontinents. Ihre Kriege und Ausbeutung der Welt haben zu mehr Flucht und Terror geführt. Antworten darauf haben sie nicht. In dieser Krise suchen die einzelnen kapitalistischen Staaten eigene Antworten und innerhalb der EU-Institutionen nehmen Widersprüche und Krisenerscheinungen zu. Aber während nationalistische Kräfte in vielen Ländern zulegen konnten, gibt es auch massenhaften Widerstand und Erfolge linker Parteien.
von Michael Koschitzki, Berlin
Obwohl es genau die neoliberale Kürzungspolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte ist, die in Europa zu Arbeitslosigkeit und Armut führten, mahnte der Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi im Juni an, die europäischen Staaten müssten ohne Verzögerung mit „Strukturreformen“ fortfahren. Der deutsche Finanzminister Schäuble stieß nach dem Brexit-Votum ins gleiche Horn.
Dabei zeigte sich gerade da, wie satt die Menschen diese „Strukturreformen“ haben. Es sind gerade auch die Regeln, die in Brüssel beschlossen werden, die in den Ländern zu Arbeitsplatzvernichtung, Privatisierung und Deregulierung führen.
Die EU ist ein Staatenbündnis verschiedener kapitalistischer Staaten, um den Konkurrezkampf mit den von den USA und Japan dominierten Wirtschaftsblöcken zu bestehen. Es ist auch ein Instrument deutscher Vorherrschaft. Das deutsche Kapital kann sich sich über die EU-Institutionen seinen Einfluss und seine Macht in Europa sichern und durchsetzen. Auch deshalb wollte ein Teil der britischen Kapitalisten sich davon frei machen. Trotzdem gibt es auch unter dem Dach der EU zahlreiche Konkurrenz und Konflikte. Die wirtschaftliche Krise und hat solche KOnflikte zunehmen lassen und gleichzeitig hat die EU in den Augen vieler Menschen Unterstützung und Legitimität verloren. Das hat die zentrifugalen Kräfte gestärkt, wie sich im Brexit-Referendum zeigte.
Unterschiedliche Faktoren befeuern gleichzeitig die Entwicklung von Widerstand in Europa: Vor allem die Austeritätspolitik des Sozialabbaus, Lohnkürzungen, wachsende Massenerwerbslosigkeit in vielen Ländern. Hinzu kommt, dass sich die etablierten Parteien und Unternehmer angesichts ihrer Korruption, wie sie von den Panama Papers offenbart wurde, diskreditieren. Die Konflikte zwischen den EU-Staaten ermutigen Menschen, Widerstand zu leisten, aber sie können auch von nationalistischen Kräften instrumentalisiert werden.
Aufstand in Frankreich
Wie stark Widerstand gegen die „Reformen“ zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung wächst, zeigt vor allem die Bewegung gegen die Arbeitsmarktreform in Frankreich. Das Gesetz der Arbeitsministerin El Khomri soll den Kündigungsschutz lockern und greift die 35-Stunden-Woche an. Dabei wird einfachere Kündigung und mehr Arbeitszeit nicht zu geringerer Arbeitslosigkeit führen, sondern zu mehr, da weniger Beschäftigte die Arbeit von noch mehr Menschen machen würden und einfach entlassen werden könnten.
Dagegen regt sich massenhafter Widerstand. In mehreren Branchen vor allem Häfen und Raffinerien, aber auch Teilen der Bahn und anderen wurde gestreikt. Am 14. Juni gingen in Paris über eine Million Beschäftigte auf die Straße und legten dafür die Arbeit nieder. Gelbe und rote Helme von Stahl- und HafenarbeiterInnen dominierten die über fünf Kilometer lange Demonstration. Sie war eine eindrucksvolle Machtdemonstration der Gewerkschaft CGT, die mit ihren 690.000 Mitgliedern Trägerin des Widerstandes ist. Zuvor gab es im April und Mai die Bewegung „nuit debout“ („Die Nacht über wach“), die Plätze besetzte, erste Proteste organisierte und wie ein Katalysator für weiteren Widerstand wirkte.
Mit massiver Polizeigewalt und Tränengas reagierte die Regierung Hollande auf die Proteste. Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Ein Journalist lag nach einem Polizeiangriff zehn Tage im Koma. Die Regierung machte auch von Regelungen des Ausnahmezustandes Gebrauch, die nach dem Terroranschlag von Paris eingeführt, jetzt aber im Juni verwendet wurden, um Gewerkschafts-Demonstrationen zu verbieten.
Am 5. Juli gab es erneute Proteste mit bis zu 100.000 Beteiligten landesweit. Das Gesetz ging erneut durch das Parlament ohne dass es dazu eine Aussprache oder die Möglichkeiten zur Änderung gab. Die Proteste könnten jetzt etwas zurückgehen und auch mangels Erfolg zu gewisser Frustration führen, auch wenn die Wut bleiben wird. Sie sahen sich einer Regierung gegenüber, die mit dem Rücken zur Wand stand. Hollande hat mit rund 14 Prozent die schlechtesten Umfragewerte, die ein französischer Präsident je hatte. Er musste den französischen Unternehmern beweisen, dass er ihre Wünsche umsetzen kann. Deshalb ging die Regierung mit voller Härte gegen die Proteste vor und ist zu keinen Zugeständnissen bereit.
Um erfolgreich zu sein, hätte die Bewegung bereit sein müssen, bis zum äußersten zu gehen und auch die Regierung zu stürzen. Um die Regierung zu schlagen und eine Rücknahme des Gesetzes zu erwirken, forderten viele aus den Gewerkschaften und der „nuit debout“ Bewegung einen Generalstreik. In Frankreich bedeutet das einen unbefristeten Streik aller Branchen, mit regelmäßigen Versammlungen der Streikenden, die über die Fortsetzung abstimmen. So ein Streik hatte 1968 die Regierung aus dem Land gejagt.
Welche Alternative?
Doch damals kam die Regierung zurück, weil es nicht gelang, eine Regierung im Interesse der Mehrheit der Beschäftigten und Jugendlichen an ihre Stelle zu setzen. Auch jetzt muss eine Alternative dringend aufgebaut werden. Die kommunistische Partei PCF hat sich entschieden, zu den Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr einen gemeinsameN KandidatIn mit der Partei von Hollande aufzustellen, um die rechte Marine Le-Pen zu verhindern. Doch im Bündnis mit einer Regierung, gegen die eine Millionen Menschen auf die Straße gehen, werden sie die Rechten nicht stoppen. Außerdem kündigte sie damit das Wahlbündnis mit der Schwesterpartei der LINKEN parti de gauche auf, die den Kandidaten Mélenchon ins Rennen schickt.
Um eine Alternative zu dieser Kürzungsregierung zu schaffen, tritt die französische Schwesterorganisation der SAV Gauche Révolutionnaire für die Bildung einer politischen Massenkraft aus den Platz- und Streikversammlungen ein, die in der Lage ist, eine wirkliche Opposition gegen die verhassten MinisterInnen der Regierung zu sein.
Wenn es nicht gelingt, die Regierung zu schlagen und eine Alternative aufzubauen, kann das zur weiteren Konsolidierung und Stärkung der Rechten führen. Der Front National ist angesichts der Streikbewegung gespalten und verfolgt keine Linie. Während Marine Le Pen anfangs das Verbot von Demonstrationen unterstützte, versucht sie mittlerweile sich als Verteidigerin demokratischer und sozialer Rechte zu präsentieren. Eine rechte Präsidentin oder Beteiligung des Front National an der Regierung wird nicht mehr ausgeschlossen. Überall in Europa sind nationalistische Kräfte in der Lage die sozialen Ängste und Krisenerscheinungen aufzugreifen, wenn es keine Antwort von links gibt.
Aufbruch gegen die FPÖ
In Österreich ist die rechte Gefahr akut. Der rechte Präsidentschaftskandidat Hofer bekam bei den Wahlen im Mai 49,65 Prozent und unterlag nur knapp. Bei der Wahlwiederholung am 2. Oktober droht ein Wahlsieg Hofers. Siebzig Prozent der FPÖ WählerInnen gaben an, dass sich ihr Lebensstandard verschlechtert hat. Obwohl die FPÖ nichts daran ändern wird und trotz ihres frauen- und arbeiterfeindlichem Programms sammelt sie Unzufriedene ein und präsentiert sich als Oppositionskraft.
Damit ist sie bisher allein. Denn es gibt auf der Linken keine starke Alternative gegen den neoliberalen Einheitsbrei von ÖVP und SPÖ. Um das zu ändern, trafen sich Anfang Juni über tausend AktivistInnen zur Konferenz des Projekts „Aufbruch“, bei dem sich sowohl viele Linke als auch bisher Unorganisierte zusammen finden, um über eine neue Alternative zu diskutieren. Schon die Vorbereitungstreffen waren gut besucht – die Konferenz übertraf aber nochmal die Erwartungen. Beschlossen wurde eine Kampagne „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“, die in eine Demonstrationen münden soll und es werden regionale Strukturen von Aufbruch aufgebaut. Die Sozialistische LinksPartei (SLP – österreichische Schwesterorganisation der SAV) arbeitet daran mit, um daraus eine kämpferische und sozialistische Massenkraft zu machen, die auch die FPÖ und das Establishment bei den nächsten Wahlen herausfordert.
Stärkung der Linken in Spanien
Die unterschiedlichen Situationen in den Ländern Europs halten eine Reihe von Lehren für linke Parteien bereit. Das Beispiel der Syriza-Regierung in Griechenland, die vor den europäischen Institutionen einknickte und gigantische Kürzungen durchdrückte, stellt die Frage des Verhältnisses zur EU neu zur Debatte. In linken Parteien mehrerer Ländernkonnten sich EU-kritische Positionen durchsetzen.
In Portugal übernahm die Sprecherin des Linksblocks Catarina Martins entgegen vorherigen Aussagen, Positionen gegen den Euro und die EU. Sie sagte beim Parteitag des Linksblocks: „Wenn es nötig ist, sich zwischen dem Euro und der Würde zu entscheiden, sollte Portugal die Würde wählen.“ Auch in Spanien ging die Vereinigte Linke / Izquierda Unida (IU) nach links. Der neue Vorsitzende Garzon setzte sich zum Beispiel für einen Antrag ein, in dem es hieß: „Die EU ist nicht reformierbar und unvereinbar mit der Souveränität der Völker oder irgendeiner Politik der sozialen Transformation.“
Nachdem in Spanien keine Regierungsbildung möglich war, wurden Neuwahlen für den 26. Juni ausgerufen. Die beiden linken Parteien Podemos und Izquierda Unida (IU) traten diesmal, wie auch von der Schwesterorganisation der SAV gefordert, mit einer gemeinsamen Liste Unidos Podemos an und zogen damit die richtige Schlussfolgerung aus den gemeinsamen Wahlsiegen in Barcelona und Madrid. Die gemeinsame Liste holte 21,1 Prozent und konnte, trotz Stimmenverlusten im Vergleich zur Wahl vor wenigen Monaten, sich als starke linke Kraft behaupten.
Das Wahlbündnis sollte jetzt zu wirklicher Einheit an der Basis führen mit gemeinsamen solidarischen Diskussionen über Ausrichtung und Programm des Projekts: Die IU geht an vielen Stellen weiter als Podemos – beispielsweise mit der Forderung nach Verstaatlichung einiger Schlüsselindustrien. Vor allen Dingen müsste Unidos Podemos die jetzige Unterstützung nutzen, den Widerstand gegen Kürzungen und Arbeitslosigkeit sowie für nationale Rechte in Katalonien voran zu bringen. Sie sollte für eine Regierung eintreten, die sich nicht unter das Diktat der Troika stellt und die Banken verstaatlicht. Für so eine Regierung wird die bürgerliche Partei PSOE (Schwesterpartei der SPD) nicht zu haben sein, die versuchen wird, Linke einzubinden, um eine gemeinsame Regierung zu bilden. Das sollte Unidos Podemos ablehnen.
Sommer des Widerstands?
Dass Widerstand erfolgreich sein kann, zeigte die Bewegung gegen Wassergebühren in Irland. Wasser galt dort bisher als frei verfügbares Gemeingut. Um die Kosten der Krise auf die Bevölkerung abzuwälzen, sollte dafür bezahlt werden. Eine Massenbewegung dagegen entstand mit riesigen Demonstrationen in Dublin und anderen Städten. Die Kampagne der Anti Austerity Alliance argumentierte darüber hinaus für eine Boykottkampagne – die Hälfte der Haushalte zahlte daraufhin nicht.
Die Bewegung war erfolgreich und die Einführung von Wassergebühren wurde ausgesetzt. Nach dieser Ermutigung wird ein Sommer des Widerstands erwartet, mit Streiks von LehrerInnen, KrankenpflegerInnen, Bus- und Bahnbeschäftigten. Jedoch kündigte die EU Kommission an, dass ein Aussetzen der Wassergebühren gegen EU Recht verstößt und will die irische Regierung zwingen, sie durchzusetzen. Welchen besseren Beweis für die Richtigkeit der Brexit Abstimmung auf der Nachbarinsel hätte sie noch erbringen können?
Belgien
Ähnliche Entwicklungen wie in Frankreich gibt es auch in Belgien. Die Regierung sieht bei Kürzungen Nachholbedarf und will sieben bis acht Milliarden Euro im nächsten Haushalt streichen. Nachdem der Widerstand gegen die Regierung angesichts des schrecklichen Anschlags in Brüssel und der Terrorgefahr abgeflaut war, ist die Wut nicht verschwunden. Im wallonischen Teil brachen lokale Kämpfe aus. Am 24. Juni gab es einen Streik im Öffentlichen Dienst. Er ist Teil eines gewerkschaftlichen Aktionsplans – vorgeschlagen und diskutiert auf regionalen Gewerkschaftsversammlungen. Er mündet am 7. Oktober in einen eintägigen Generalstreik gegen die Kürzungen.
Sozialistisches Europa
Noch können rechte Kräfte in Europa von der Krise der EU profitieren. Zwischen FN, FPÖ, AfD und anderen werden Kooperationen aufgebaut. In Schweden liegen die rassistischen Schwedendemokraten bei 17 Prozent in Umfragen. Wenn es der britischen Linken nicht gelint, eine starke internationalistische Antwort auf die EU zu geben, besteht die Gefahr, dass sich die rechtspopulistische Ukip aus dem Brexit heraus aufbaut.
Doch auf der anderen Seite gibt es Widerstand, Solidarität und eine Stärkung linker Parteien. Für Jeremy Corbyn sind innerhalb von zwei Wochen circa 160.000 Menschen in die Labour Party eingetreten. In Osteuropa und den Balkanstaaten gibt es wichtige Ansätze für Widerstand. In Mazedonien ist von der „Bunten Revolution“ die Rede. Über 20.000 Menschen demonstrierten in Skopje gegen die Regierung.
Sozialistische Kräfte müssen jetzt beweisen, dass sie Antworten auf die Krise, auf Arbeitslosigkeit und auf die Abschottung Europas haben. Das bedeutet, dass diejenigen für die soziale Krise zahlen sollen, die sie verursacht haben. Die Reichen und Konzerne müssen zur Kasse gebeten und die Banken unter demokratische Kontrolle und Verwaltung verstaatlicht werden. Die EU war seit ihrer Gründung eine Wirtschaftsgemeinschaft, ein Projekt vor allem des deutschen Kapitals und nicht der europäischen Bevölkerung. Ihre Institutionen sollten als undemokratisch und neoliberal abgelehnt werden. Stattdessen müssen durch die Proteste starke linke Kräfte aufgebaut werden, die für ein demokratisches und sozialistisches Europa kämpfen.
Michael Koschitzki ist aktiv in der Linksjugend[‘solid] und Mitglied der SAV Bundesleitung.