Spätestens seit den Vorkommnissen in der Silvesternacht in Köln ist mal wieder die Debatte um die Kriminalitätsrate unter „Ausländern“ entbrannt. Folgt man den Darstellungen von PEGIDA, AfD, NPD und Co., aber auch so manches CDU-Politikers, kommen ganz einfach besonders viele kriminelle Menschen nach Deutschland, scheinbar, um die Deutschen zu beklauen und zu überfallen. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) scheint ihnen in diesem Urteil recht zu geben. Gut 39 Prozent der in Deutschland verübten Straftaten werden nach deren Zahlen von „Ausländern“ begangen und das, obwohl nur gut 11 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen laut polizeilicher Statistik als „Ausländer“ angesehen werden. Dabei sind die Grundlage der PKS äußerst fragwürdig und das gleich aus mehreren Gründen.
Von Steve Hollasky, Dresden
1. Statistische Verzerrungen
In die PKS werden alle Straftaten eingerechnet, die zur Anzeige gelangen. Anzeigen werden dabei entweder von Privatpersonen, Institutionen oder der Polizei selbst vorgenommen. Angezeigt werden in Deutschland auch alle sogenannte ausländerspezifischen Delikte. Darunter versteht man strafbare Handlungen, die aufgrund der rassistischen Ausnahmegesetzgebung nur Menschen begehen können, die keinen deutschen Pass haben. Dazu zählen Verstöße gegen die Residenzpflicht (in verschiedenen Bundesländern dürfen sich Geflüchtete und MigrantInnen nicht frei bewegen, der Verstoß dagegen gilt teilweise schon als Straftat), Verstöße gegen das Bleiberechtsverordnungen und die illegale Einreise nach Deutschland (legale Einreisemöglichkeiten gibt es für Geflüchtete übrigens so gut wie gar nicht).
Bereinigt man die PKS um diese Zahlen fällt der Anteil auf gut 27 Prozent, wenigstens, wenn man dem Kriminologen Dr. Christian Waldburg glaubt, der unlängst eine Studie zu „Migration und Jugenddelinquenz“ veröffentlichte.
Hinzu kommen zahlreiche weitere Verzerrungen. Die mit Abstand – moralisch gesprochen – „unfairste“ ist wohl die, dass die PKS die Taten von Ausländern erfasst, die in Deutschland Straftaten begehen, nicht aber die Straftaten von Deutschen, die sich diese im Ausland zu Schulden haben kommen lassen.
Auch macht die PKS keinen Unterschied zwischen dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen, die zwar keinen deutschen Pass besitzen, aber hier beispielsweise geduldet werden, und Menschen, die hier ihren Urlaub verbringen und dabei Verbrechen begehen.
Außerdem werden nur Anzeigen in der PKS festgehalten, nicht aber, ob diese wegen erwiesener Unschuld oder aus Mangel an Beweisen oder wegen Geringfügigkeit wieder eingestellt werden.
2. Racial profiling – die selbst erfüllende Prophezeihung
Gerade das vermeintliche Wissen um die angeblich hohe Zahl von von Ausländern begangenen Verbrechen, lässt Polizisten häufig Menschen kontrollieren, die sie ihrem Aussehen nach für Ausländer halten. Eine Zunahme von Personenkontrollen erhöht aber in allen Bevölkerungsgruppen – unabhängig von Geschlecht, Alter, Berufsstand, sozialem Status, Religion usw. – immer die Zahl der Anzeigen. Zum Einen, weil wirklich strafbare Handlungen nachgewiesen werden, zum Anderen, weil die Polizei ziemlich schnell Anzeigen stellt. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sich mit derartigen Kontrollen selbst unter Erfolgsdruck setzt. Da – wie oben dargestellt – die PKS aber lediglich Anzeigen erfasst und nicht, ob es zu Verurteilungen kommt, wird die wirkliche Verbrechensrate, auch die von MigrantInnen und Geflüchteten – übertrieben hoch dargestellt.
3. Panik und Hetze
Etliche soziologische Untersuchungen haben inzwischen hinlänglich bewiesen, dass gerade dann, wenn in der Presse häufig von kriminellen Ausländern gesprochen wird, die Anzeigen von Hiergeborenen gegen „Ausländer“ deutlich zunehmen. Dabei liegt der „outcome“ zeitlich eindeutig nach dem das Verhalten erzeugende Ereignis. Das bedeutet, dass nicht die Anzeigen steigen und danach berichtet die Presse, sondern, die Kausalität liegt genau andersherum: Durch ein erhöhtes Berichterstatten nehmen auch die Anzeigen gegen Ausländer zu. Gleiches gilt auch für fortgesetzte Hetze durch rassistische Gruppen wie PEGIDA, AfD und Co.
Dies ist nicht zwangsläufig durch bösartig-rassistisches Verhalten begründet. Viel mehr erhöhen sensationsorientierte Pressedarstellungen und der Rassismus, der durch rechte Gruppen und dem rechten Flügel der Bürgerlichen in die viel zitierte Mitte der Gesellschaft getragen wird, das Unsicherheitsgefühl und daraus folgen oftmals gegenstandslose Anzeigen.
Umgekehrt scheuen Geflüchtete und MigrantInnen häufig Anzeigen gegen Hiergeborene. Dies hat wiederum ganz unterschiedliche Ursachen: Sprachbarrieren, Angst vor Rache durch die Angezeigten (vor allem bei rassistischen Übergriffen), fehlendes Wissen über das deutsche Rechtssystem und Misstrauen in die deutschen Strafverfolgungsbehörden.
4. Sozialer Status
Im Allgemeinen gelangen Straftaten signifikant häufiger zur Anzeige und damit in die PKS, wenn sie in Städten oder Kleinstädten begangen werden und vor allem dann, wenn die Täter einen vergleichsweise geringen sozialen Status haben, also arm sind. Wer reich ist, der gerät, selbst, wenn er Verbrechen begeht, weniger ins Visier von Polizei und Staatsanwaltschaft. Das gilt übrigens für alle in Deutschland lebenden Menschen. Geflüchtete und MigrantInnen sind jedoch nicht nur vorrangig in Städten und nur sehr selten auf dem Land ansässig und – entgegen rassistischer Vorurteile – überdurchschnittlich stark von Armut betroffen.
5. Armut und Verbrechen
Wer arm ist begeht sehr viel häufiger Verbrechen, als derjenige, der reich ist. Dieser Satz wird von progressiveren SoziologInnen häufig in dieser oder einer ähnlichen Form angeführt. Er stimmt auch insoweit, als er den Zusammenhang von sozialer Situation und Straftaten herstellt. Er stimmt allerdings nur zum Teil. Zum Einen, weil – wie dargelegt – Reiche deutlich seltener für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Zum Anderen, weil Verbrechen, die von reicheren verübt werden – selbst, wenn sie zahlenmäßig seltener auftreten – gesellschaftlich den schwereren Schaden anrichten: Arme stehlen Nahrungsmittel und Hygieneartikel oder Kleidungsstücke, begehen also den typischen Ladendiebstahl. Reiche hinterziehen Steuern oder stellen in ihren Firmen SchwarzarbeiterInnen an.
Der volkswirtschaftliche Schaden ist also bei Verbrechen, die Reiche begehen ungleich größer als bei Verbrechen, die Arme begehen. Auch das geht aus der PKS nicht hervor. Und wie gesagt, Geflüchtete und MigrantInnen sind überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen.
Doch auch hier muss man genauer hinschauen. Innerhalb „ihrer“ sozialen Gruppe, also verglichen mit Hiergeborenen mit ähnlich hohem Haushaltseinkommen werden Geflüchtete und MigrantInnen deutlich weniger straffällig.
Übrigens, je höher die wirkliche Integration ist, desto weniger begehen Geflüchtete und MigrantInnen Verbrechen. Gerade Arbeit und als sinnvoll empfundene Beschäftigung sind dabei von Bedeutung. Hier ist ein Blick in die PKS wirklich hilfreich. Lediglich 6,2 Prozent der SchülerInnen, Studierenden, Gewerbetreibenden und ArbeitnehmerInnen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind bei der Polizei wegen des möglichen Verdachts eine Straftat begangen zu haben registriert. Hingegen erhöhen erlebte und empfundene Ablehnung durch die einheimische Bevölkerung die Bereitschaft strafbare Handlungen zu begehen. Die rassistische Hetze von Bachmann, Festerling usw. dürfte genau unter diese Rubrik fallen.
6. Völlig unzulängliche Statistik
Die PKS benachteiligt übrigens nicht nur für MigrantInnen und Geflüchtete. Die konsequente Weigerung der deutschen Polizei eine Opferstatistik anzulegen (die der Natur der Sache nach ebenfalls unzureichend, aber besser als die aktuelle PKS wäre) verdeckt zahlreiche Opfer: Seit dem 80er Jahren gibt es eine solche Statistik in Kanada und in ihr tauchen viele in Deutschland kaum wahrgenommene Opfergruppen auf. Beispielsweise jene, die häusliche Gewalt erleiden müssen, aber nicht bereit sind Anzeigen zu stellen. In einer solchen Statistik würden dann auch die Opfer rassistischer Übergriffe auftauchen, die vor allem die Gruppe der Geflüchteten und MigrantInnen bildet. Allerdings nur dann, wenn man nicht – wie bei den Todesopfern rechter Gewalt – die Statistik konsequent schönt.
Es geht um mehr als Zahlen
Rassismus ist nicht ein Ergebnis der PKS. Sie mag Ausdruck rassistischer Ressentiments sein. Sie mag auch hiergeborene Opfer von Verbrechen benachteiligen. Sie mag rechten Gruppen aufgrund ihrer Unzulänglichkeit in die Hände spielen. Aber andersherum würde eine bessere Statistik das Problem nicht lösen. Als eine PEGIDA-Demonstrantin während eines Fernsehinterviews von einem Reporter darauf aufmerksam gemacht wird, dass in Sachsen nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung muslimischen Glaubens sind und daher von einer „Islamisierung“ wohl kaum die Rede sein könne, konterte sie ganz einfach mit den Worten: „Ich sehe das anders.“
Rassistische Statements und Erklärungen für soziale Not durch etablierte Parteien, die dem Kapitalismus inhärente Spaltung der Bevölkerung, die Propaganda von AfD, NPD und PEGIDA und das fehlende Angebot von links gegen Sozialabbau und Rassismus zu kämpfen, haben Teile der Bevölkerung sturmreif für das Einsickern rassistischer Einstellungen geschossen. Die PKS ist da nur ein kleiner Teil des Problems.
Dieses Problem endlich anzugehen, wäre die Aufgabe von Gewerkschaften und der Partei DIE LINKE. Dabei kann und muss sie sicherlich erklären, dass die Zahlen der PKS die Zahlen der Herrschenden sind und das wir den Zahlen der Herrschenden nicht trauen dürfen. Doch leider leider ist die LINKE-Führung im Osten viel zu sehr ins Establishment eingebunden und viel zu sehr verliebt in den Gedanken des Mitregierens, wie die letzten Äußerungen von Bodo Ramelow beweisen. Das vorrangige Problem im Kampf gegen Rassismus und eine sich mehr und mehr militarisierende Rechte ist also nicht die PKS, sondern die falsche Politik der LINKEn.