Der NSU-Skandal geht weiter
von Steve Hollasky, Dresden
Die Zahl der erschienen Aufsätze, Artikel, Bücher, Filme und Radiobeiträge – nicht wenige von zweifelhafter Qualität – die sich mit dem Komplex des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) beschäftigen, schwillt beinahe im Wochenrhythmus an. Bei all dem Irrsinn, der inzwischen bezüglich dieses Falls produziert wurde, mag das wenig überraschen. Nun ist die dicke Chronik der Untersuchungen um ein skandalöses Kapitel bereichert worden.
Zumindest eine Sache scheint gesichert zu sein: Der NSU, den wir kennen, war eine aus drei Rechtsterroristen bestehende Terrorzelle, die für zahlreiche Morde und mehrere Sprengstoffanschläge verantwortlich ist. Zwei der mutmaßlichen Täter sind tot – Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt – und das dritte Mitglied – Beate Zschäpe – steht in München vor Gericht.
An dieser Stelle enden allerdings bereits die Klarheiten. Gab es mehr als diese drei Rectsterroristen? Wer wusste eigentlich vom Bestehen der Gruppe? Welche Rolle spielten Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst, Bundesnachrichtendienst, Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter? Waren es wirklich zehn Morde, die auf das Konto des Trios gingen? Oder waren noch andere Täter in die Mordserie verwickelt? Gab es gar mehr Taten, die dem NSU zur Last gelegt werden müssten?
Die Spekulationen reisen nicht mehr ab, sie widersprechen einander und erhöhen ständig die Verwirrung. Zwielichtige Gestalten und Gruppen tummeln sich um den Fall wie der „Arbeitskreis NSU“. Die strategisch geschickte Aussage von Beate Zschäpe brachte, wie zu erwarten, kein Licht in das Dunkel. Neben einer Bestätigung der zweifelhaften Version der Bundesanwaltschaft, diente die Einlassung der Angeklagten vorrangig der Entlastung von Zschäpe. Sie war natürlich ganz unschuldig und erfuhr immer erst nach den Morden von denselben. Eine Aufhellung des Dunkels war von Zschäpe ohnehin nicht zu erwarten.
Wer erfahren will, was wirklich geschehen ist, der muss auf die zahlreichen Untersuchungsergebnisse von JournalistInnen und der Untersuchungsausschüsse zurückgreifen. Doch selbst deren Möglichkeiten sind durch die Vernichtung von Akten, die Weigerung zur Zusammenarbeit und das tendenziöse Dahinscheiden möglicher Zeugen äußerst eingeschränkt.
Nazi-Aktivist Thomas Richter
Es gäbe also viel, worüber es sich zu schreiben lohnen würde. Da mag es wie ein Detail anmuten über Thomas Richter zu berichten, jenen Nazi-Multi-Aktivisten, der AntifaschistInnen vor allem deshalb auffiel, weil er ständig Bilder machte: Kaum eine Nazi-Demonstration mit bundesweiter Bedeutung fand ohne Richter statt. Seine Bilder zierten rechte Fanzines und Nazi-Websites. Dabei sorgte er sich nicht nur darum, faschistische Aufmärsche martialisch in Szene zu setzen. Richter interessierte sich vor allem auch für die GegnerInnen, die in Hör- und Sichtweite protestierten.
Thomas Richter oder „HJ-Tommy“, wie man ihn in einschlägigen Kreisen zu nennen pflegte, hatte sich der „Anti-Antifa-Arbeit“ verschrieben. AntifaschistInnen, die auffielen, wurden von Thomas Richter fotografiert. Nazis führen über ihre Gegner Buch.
„HJ-Tommy“ war so etwas wie ein rechtes Urgestein: Schon 1992 hatte er seine rechte Karriere mit dem Beitritt in die von Friedhelm Busse gegründete „Nationalistische Front“ (NF) begonnen. Politisch orientierte sich die „NF“ an den Brüdern Otto und Gregor Strasser. Damals lebte Richter in Paderborn. Für ihn wird dieser Ort in doppelter Hinsicht Bedeutung erlangen.
Aber Richter war auch mehr als der einfache Alt-Nazi-Kader oder der rechte Fotograf mit dem unvermeidlichen Basecap und der dunklen Sonnenbrille. In Baden-Württemberg gründete er den deutschen Ku-Klux-Klan. Die rassistische Vereinigung, die ihre Wurzeln in den USA nach Ende des Bürgerkriegs hatte, und die mit kaum zu beschreibender Brutalität gegen Afro-AmerikanerInnen vorging, war in Baden-Württemberg scheinbar besonders bei Polizisten beliebt. Die – scheinbar verworfene – Idee eine „Klavern“, eine Art „Ku-Klux-Klan“-Ortsgruppe, eigens für Polizisten ins Leben zu rufen, sollte diesem Umstand wohl Rechnung tragen.
Besonders brisant an der Gründung des Klans in Baden-Württemberg: Zwei der vom Landesamt für Verfassungsschutz ausgemachten Mitglieder sind als Polizisten derselben Einheit zugeteilt, in der auch Michele Kiesewetter, das zehnte Mordopfer des NSU, Dienst tut. Es ist jene berühmt-berüchtigte Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) 523, die auch mit einem brutalen Einsatz in Stuttgart von sich reden macht. Damals – mehr als vier Jahre nach dem Mord an Kiesewetter – prügeln die Polizisten der BFE 523 dort auf Gegner des umstrittenen Bahnprojekts „Stuttgart 21“ ein.
Thomas Richter kannte beide Polizisten persönlich. Und Richters Freundesliste ist lang: Er ist ebenso mit Uwe Mundlos, einem der Mitglieder des NSU, befreundet. Richters Name befindet sich auch auf jener ominösen Kontaktliste, die die Polizei bei der Durchsuchung der Garage des Nazi-Terror-Trios in Jena im Jahre 1998 findet. Ausgewertet wird die Liste erst nach der zufälligen Aufdeckung des NSU.
Und es ist eben jener Thomas Richter, auf dessen Konto das Erscheinen eines rechten Fanzines geht, das bereits 2002 – neun Jahre vor der offiziellen Enttarnung – den NSU namentlich erwähnt. Auch auf einer CD aus dem Jahre 2005, an dessen Entstehen Richter beteiligt war, fand sich die Bezeichnung NSU. Diese CD hat Richter übrigens nachweislich dem Verfassungsschutz übergeben. Das kann kaum überraschen, denn Thomas Richter, der Mann der Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ebenso kannte wie zwei rassistischen Polizisten aus Michele Kiesewetters Einheit, von denen einer ihr Vorgesetzter werden wird, dieser Thomas Richter, der rechte Fanzines herausgab und AntifaschistInnen ausspionierte, war 18 Jahre lang V-Mann des Verfassungsschutzes. Seine Dienste waren den staatlichen Spionen 300.000 Euro wert. Das macht einen monatlichen Verdienst von 1.400 Euro – manche hart arbeitende Putzfrau, die jene Hotelzimmer zu reinigen hat, in denen Verfassungsschützer immer dann absteigen, wenn sie vor Untersuchungsausschüssen über ihre fragwürdigen Praktiken zu berichten haben, kann von solch einem Verdienst nur träumen.
Das Ende eines V-Manns
Aber Thomas Richter, der V-Mann Corelli, hatte irgendwann Pech. Es dauerte zwar 18 Jahre, bis 2012, doch dann wurde er enttarnt. Das ist nicht unbedingt ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist jedoch was dann geschah. Sein V-Mann-Führer beim Verfassungsschutz wollte mit seinem Schützling gar in eine WG ziehen, um ihn rund um die Uhr beschützen zu können – professionelle Distanz dürfte selbst in diesen Kreisen anders aussehen. Rückblickend wäre diese Version übrigens für Richter die eventuell gesündere gewesen.
Stattdessen kam der V-Mann Corelli ins Schutzprogramm des Verfassungsschutzes und der verfrachtete den enttarnten Spitzel ausgerechnet nach Paderborn, wo seine alten Kameraden aus der „Nationalistischen Front“ nach wie vor aktiv waren. Wieso man Richter in eine Stadt brachte, in der seine Entdeckung und damit auch Gefährdung lediglich eine Frage der Zeit war, ist bislang vom Verfassungsschutz nicht erklärt worden.
Doch bei Weitem eigenartiger war Corellis Tod: Wenige Tage bevor er vor dem Untersuchungsausschuss zum NSU aussagen sollte, wurde er in der vom Verfassungsschutz für ihn angemieteten Wohnung tot aufgefunden. Todesursache: Unerkannte Diabetes. Das man im Schutzprogramm des Verfassungsschutzes an einer unerkannten Diabetes verstirbt ist – aufgrund ärztlicher Kontrollen – schon vergleichsweise unwahrscheinlich. Besonders anrüchig ist jedoch der Termin des Ablebens – kurz vor einer anstehenden Befragung.
Inzwischen räumte der Diabetes-Experte Werner Scherbaum vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen ein, dass es sich bei dem Tod des V-Manns unter Umständen auch um Mord gehandelt haben könnte. Die Umstände des Todes ließen auch die Vergiftung mit Vacor, einem speziellen Rattengift, möglich erscheinen.
Undurchsichtiger Dschungel
Wurde Thomas Richter, der V-Mann Corelli, ermordet? Was hat er gewusst? Hätte er Aufklärung liefern können über den mit weitem Abstand komischsten Mord des NSU, dem an Michele Kiesewetter?
Antworten auf all diese und ganz andere Fragen gibt es immer nur bruchstückhaft. Aber was will man von Behörden erwarten, die rechten Terror über Jahre massiv finanziell unterstützten? Die, wenn überhaupt immer nur nach langem Tauziehen Auskunft geben. Erst vor ein paar Wochen gab der Verfassungsschutz zu, nun doch noch ein Handy des V-Manns Corelli und 5 SIM-Karten gefunden zu haben. Sie hatten im Panzerschrank des uneigennützigen V-Mann-Führers, der seinen Spitzel in einer gemeinsamen WG beschützen wollte, Jahre überdauert.
Der ganze Komplex wird so mehr und mehr zu einem undurchsichtigen Dschungel. Und man kommt an der Vermutung nicht vorbei, dass genau dieser Effekt auch erzielt werden soll.
Aufklärung wird es nur dann geben, wenn unabhängige Gremien, bestehend aus GewerkschafterInnen, MigrantInnengruppen, AntifaschistInnen und linken Gruppen und Parteien die Ermittlungen selbst übernehmen. Denn im Kampf gegen Nazis und Rassisten ist dieser Staat keine Hilfe.
Nach vorn blicken!
Doch es ist bei Weitem nicht nur die gestrige Gewalt von rechts, die einen erschaudern lässt. Der sprunghafte Anstieg rechter und rassistischer Übergriffe, gepaart mit einem steigenden Gewaltpotential auf der Rechten lassen einen erschaudern. Es gibt im Kampf gegen diese Gefahr, gegen PEGIDA, NPD, AfD und rechte Splittergruppen, nur eine Alternative: Den Zusammenschluss all derer, die unter Sozialabbau, Rassismus, Entlassungen und Umweltzerstörung leiden. Und das ist die weit überwiegende Mehrheit jener, die hier geboren sind, die freiwillig hier her kommen und die hier her fliehen müssen. Sie im Kampf gegen all diesen Irrsinn zu vereinen ist die Hauptaufgabe, die die breite Linke leisten muss. Denn nur, wenn ihr dieser Schritt gelingt hält sie den Schlüssel für einen erfolgreichen Kampf gegen die rechte Gefahr in der Hand.