Kontroverse um Abschiebungen
Der Osnabrücker Landesparteitag der LINKEN war geprägt von leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen der Antikapitalistischen Linken sowie der Linksjugend und der von den Bundestags-Abgeordneten Dehm und Behrens geführten Mehrheit des Landesvorstands in der Flüchtlings- und Kommunalpolitik.
Von Meike Brunken, Yannic Dyck und Heino Berg (LINKE Kreisverband Göttingen)
Die „Neue Osnabrücker Zeitung“ vom 14.2. kommentiert: „In der Frage der aktuellen Flüchtlingsbewegung plädiert die beschlossene Wahlkampfempfehlung für die Aufnahme von Menschen als humanitäres Gebot. Besonders der internen Parteiströmung der Antikapitalistischen Linken, ging diese Forderung auf dem Landesparteitag nicht weit genug. In zahlreichen von 66 Änderungsanträgen zum Rahmenprogramm versuchte sie immer wieder Formulierungen, wie „Bleiberecht für alle“, zu verankern. Dem widersprach etwa der Bundestagsabgeordnete Diether Dehm aus Hannover. Er warnte davor, dass man mit unbeschränktem Aufenthalt auch Folterern Schutz gewähre. Die Landesvorsitzende Anja Stoeck kündigte an, dass sich die Partei auf einer Konferenz noch eingehender mit den Fragen von Flucht und ihren Ursachen beschäftigen werde. Angenommen wurde eine erweiterte Formulierung aus dem Kreisverband Göttingen. Demnach ist jedem Menschen Asyl zu gewähren, unabhängig davon, ob er vor Krieg, Umweltkatastrophen oder wirtschaftlicher Not fliehe. Man dürfe Menschen nicht sortieren, sonst gerate die Partei in die Nähe von Pegida und der AfD, betonten Delegierte.“
Abstimmungsmarathon über kommunalpolitische Empfehlungen
Den knapp 170 Delegierten lagen bei dem diesmal nur sechsstündigen Parteitag keine inhaltlichen Anträge des Landesvorstands vor, sondern lediglich der Arbeitsgruppenentwurf für ein „Kommunalwahlrahmenprogramm“, das unverbindliche Orientierungshilfen für die Kreisverbände bei den im September stattfinden Kommunalwahlen entwickeln sollte.
Der Vorschlag von LandessprecherInnen der Antikapitalistischen Linken und der Linksjugend, durch einen kurzen „Leitantrag“ vor dem Einstieg in die Details der Kommunalpolitik zunächst in einer allgemeinen Aussprache über die umstrittenen Flüchtlings-, Regierungs- und EU-Fragen zu beraten und dann Entscheidungen zu fällen, die für den Landesvorstand verbindlich sind, wurde abgelehnt.
Daher musste die politische Debatte entlang der 66 Änderungsanträge geführt werden, von denen fast die Hälfte durch die AKL eingereicht und begründet wurden. Dabei ging es um die Frage, ob sich linke Kommunalpolitik an den Sparvorgaben der neoliberalen Bundes- und Landesregierung orientieren oder bewusst über diese hinausweisen und sie durch eine systemkritische Oppositionshaltung herausfordern sollte. Im Rahmenwahlprogramm wird die rotgrüne Landesregierung weitgehend verschwiegen und geschont, um, wie es Michael Ohse aus Goslar im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik formulierte, „keine Optionen für Regierungsbündnisse zu verbauen“. Die AKL hatte in ihrem Änderungsantrag Ä26 die Beschlusslage des letzten Landesparteitags aufgegriffen: „Mit den in Bundes- und Landesparlamenten vertretenen Kürzungs-, Privatisierungs- und Abschiebeparteien kann es für Die LINKE keine Koalitionen oder dauerhaften Bündnisse geben, sondern nur eine Fall-zu-Fall-Unterstützung von Maßnahmen oder Verordnungen, welche die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern können.“ Im Abstimmungsgalopp der Parteitagsregie, die jeweils nur eine Für und Gegenrede zuließ und bei der viele Delegierte in erster Linie nach Strömungssympathien zu entscheiden schienen, wurden dieser und die meisten anderen AKL-Anträge mit jeweils Zwei-Drittel-Mehrheit abgelehnt und nicht in die Kommunalwahlempfehlungen aufgenommen.
Debatte über das „Bleiberecht für alle Geflüchteten“
Im Zentrum des Landesparteitags stand erwartungsgemäß die Kontroverse über die Flüchtlingspolitik. AKL und Linksjugend hatten bereits im November in einem Ratschlag des linken Parteiflügels gemeinsam mit VertreterInnen der Sozialistischen Linken, der Kommunistischen Plattform und des Geraer Dialogs auf der Basis von Anträgen des Kreisverbands Göttingen vorgeschlagen, im Kampf gegen die Verschärfung des Asylrechts sämtliche Abschiebungen zurückzuweisen und ein Bleiberecht auch für die Geflüchteten zu verlangen, die aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen mussten. DIE LINKE dürfe vor der ausländerfeindlichen Hetze durch rechte Rattenfänger und bürgerliche Parteien, die regelmäßig neue, menschenverachtende Asylrechtsverschärfungen auf den Weg bringen und Geflüchtete zu Sündenböcken für soziale Probleme stilisieren, keinen Zentimeter zurückweichen.
Nach den Äußerungen von Wagenknecht und Lafontaine und nach den Abschiebungen durch Ramelow in Thüringen wurden diese Forderungen von den anderen Strömungen des linken Parteiflügels zunächst unauffällig und nach einer Kreismitgliederversammlung in Hannover demonstrativ fallen gelassen. Die Mehrheit des Landesvorstands und die niedersächsischen Bundestagsabgeordneten wandten sich nun gegen ein Bleiberecht für alle Geflüchteten, und wollten es auf politisch Verfolgte beschränken, obwohl der letzte Landesparteitag im Antrag A3 noch das Gegenteil beschlossen hatte. Die Parteiströmungen FdS und EmaLi fielen vor und während des Landesparteitags weder durch eigene Anträge, noch durch Diskussionsbeiträge auf und unterstützten die Anträge der Landesvorstandsmehrheit gegen die Initiativen von AKL und Linksjugend, die deshalb nur in Einzelfragen eine Mehrheit der Delegierten überzeugen konnten.
In Osnabrück polemisierte vor allem Diether Dehm gegen ein Nein zu allen Abschiebungen, weil die LINKE damit Kriminelle und Folterknechte schützen würden. Mit dem absurden Argument, dass man ja auch Pinochet nicht aufnehmen würde, versuchte er die Beschlusslage unserer Partei in die Tonne zu treten. Dabei liegt es doch auch auf der Hand, dass „Folterer“ aus ihrer Machtposition heraus niemals fliehen würden – und wenn doch, dann würde man sie durch Abschiebungen ja weiter foltern lassen und Folter-Regime stützen. Moralische Bewertungen von Einzelfällen haben in der grundlegenden Debatte um Bleiberecht absolut nichts verloren.
Mitglieder des solid-Landessprecherrates hielten den Parolen von Dehm und Anhängerschaft entgegen, dass Grundrechte für alle Menschen gelten müssten und das Ausländerrecht nicht mit dem Strafrecht verwechselt werden dürfe. Auch die Europaabgeordnete Sabine Lösing verteidigte ebenso wie die Göttinger Delegierte Julia Niekamp engagiert die Beschlüsse des Kreisverbandes Göttingen.
Nach diversen Einzelabstimmungen zu diesem Thema beschloss der Landesparteitag dann zwar den Änderungsantrag ÄA 48a:“Die Abschiebung von hilfesuchenden Menschen lehnen wir grundsätzlich ab“. Nach weiteren Interventionen von Diether Dehm und den beiden Landesvorsitzenden lehnten dieselben Delegierten jedoch wenige Minuten später die Forderung nach einem „sofortigen Abschiebestopp und ein Bleiberecht für alle Geflüchteten“ (ÄA 48b) mit knapper Mehrheit ab. Damit bleibt der Kurs des Landesverbandes in dieser Frage, die sicher nicht nur die aktuellen Diskussionen auf der Straße und am Arbeitsplatz, sondern auch die Kommunal- und Landeswahlen bestimmen wird, ebenso unklar wie die Haltung der Gesamtpartei vor dem Magdeburger Bundesparteitag. Mit der angenommenen Formulierung besteht nun die Möglichkeit, interpretativ festzulegen, wem man zugesteht hilfsbedürftig zu sein und wem man dies abspricht. Damit hat dieser Parteitag der Unterscheidung in „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge und in der Konsequenz auch der Abschiebung von „unerwünschten“ Geflüchteten Tür und Tor geöffnet und somit in diesem Punkt auch wesentliche Hindernisse für künftige Regierungsbündnisse mit Abschiebeparteien wie der SPD beiseitegeschoben.
Andere Anträge
Der Abstimmungsmarathon zum Kommunalwahlprogramm, über das die Kreisverbände ohnehin autonom entscheiden werden, ließ bei einer sechsstündigen Tagung erwartungsgemäß kaum noch Zeit für die Behandlung der anderen, fristgerecht eingereichten Anträge. Zu den Opfern dieser Parteitagsregie gehörte zum Beispiel ein Antrag von AKL, Linksjugend und LAG Nahost, der sich gegen die Diffamierung jeder Kritik an der israelischen Regierung als „antisemitisch“ wendet und der trotz Auftrag des Landesparteitags vom Landesvorstand ein volles Jahr lang nicht behandelt wurde.
Stattdessen wurde jedoch ein Antrag von Victor Perli und anderen aufgerufen, der sich für eine „solidarische Streitkultur in der LINKEN“ ausspricht und diesen wohlfeilen Appell mit Seitenhieben gegen Kontroversen auf den Mailverteilern des Landesverbandes verbindet.
Wahlantritt in Göttingen
Auch ein Dringlichkeitsantrag des Kreisverbands Göttingen zum Wahlantritt der linken Wählergemeinschaft in der Universitätsstadt wurde trotz ausreichender Delegiertenunterschriften nicht aufgerufen.
Die Göttinger Parteigremien fordern darin eine öffentliche Unterstützung des Landesverbandes für die „Göttinger Linke“, nachdem die frühere Ratsfraktion um Patrick Humke im Widerspruch zu den Beschlüssen des Kreisverbandes eine Konkurrenzkandidatur für die Kommunalwahlen angekündigt hatte. Die beiden Landesvorsitzenden hatten im Dezember in einem Brief an alle Parteimitglieder diese Abspaltung als nachvollziehbar bezeichnet und auf Forderungen des betroffenen Kreisverbandes zu einer öffentlichen Richtigstellung nicht reagiert. Die Zersplitterung von Wahllisten der LINKEN ist das Letzte, was unsere Partei in der Vorbereitung der Kommunalwahlen gebrauchen kann. Die Weigerung der beiden Landesvorsitzenden, wegen persönlicher Rücksichten hier für Klarheit zu sorgen und Konkurrenzkandidaturen öffentlich zu missbilligen, ist eine schwere und politisch vollkommen unnötige Belastung für den zweitgrößten Kreisverband in Niedersachsen bei der Vorbereitung des Urnengangs im September, die jetzt so schnell wie möglich durch den Landesvorstand bzw. den Landesausschuss geklärt werden muss.