Zeitgleich zu den Kämpfen um Kobane verzeichnen die IS-Kräfte im Irak große Erfolge
Obama und seine westlichen Verbündeten (wie Cameron in Großbritannien) meinen, dass eine Politik der Luftschläge allein ausreichen würde, um die vorrückenden Kräfte des „Islamischen Staates“ im Irak und in Syrien zurückzudrängen. Jetzt, da die kurdischen Kräfte im Kampf gegen den IS die Kontrolle über die Stadt Kobane zu verlieren drohen, scheint dieser Politikansatz plötzlich null und nichtig. IS-Kräfte sind in die Stadt vorgedrungen und scheinen zum Zeitpunkt, da dieser Artikel verfasst wurde, einen weiteren Sieg erringen zu können. Angesichts der Fülle an Berichten über schreckliche Szenen, die sich dort abspielen, und von einem brutalen Gemetzel, das die wild gewordenen Kräfte des reaktionären IS in der Stadt anrichten, sind die Luftschläge der USA reichlich ineffektiv und haben nicht dazu geführt, dass das Vorrücken gestoppt wurde. Die kurdische Bevölkerung in Kobane führt einen mutigen und verzweifelten Kampf, um den IS zurückzuschlagen, um einem ansonsten sicheren Gemetzel zu entgehen
Von Tony Saunois,
Zur gleichen Zeit scheitert die Politik der Luftschläge von Präsident Obama und Premierminister David Cameron nicht nur in Syrien und Kobane. Die Entwicklungen im Irak – vor allem in der Provinz Anbar im Westen des Landes –, haben zu umfassenden Landgewinnen für die Kräfte des IS geführt. Die Provinz Anbar, die beinahe ein Viertel des gesamten Irak ausmacht, ist mit all ihren Großstädten und bedeutenden Ortschaften an den IS gefallen. Eine Ausnahme bilden lediglich Haditha und zwei Militärbasen in der Nähe von Hit und Fallujah. Wieder einmal befand sich die irakische Armee in einem Zustand der Unordnung und Auflösung und konnte nur wenig an effektivem Widerstand aufbieten. Damit ist schon wieder eine humanitäre Katastrophe hinzugekommen, in deren Zuge schätzungsweise 750.000 Menschen aus ihrer Heimatprovinz geflohen sind.
Anbar
Jetzt ist es möglich, dass die IS-Kräfte so weit gehen, eine weitere Offensive zu starten, um den sunnitisch geprägten Westteil der Hauptstadt Bagdad einzunehmen. Die Provinz Anbar war das Zentrum der sunnitischen Aufstände gegen die Besatzung durch die USA im Jahre 2003. Der Schlüssel für weitere Erfolge der IS-Kräfte liegt nicht nur darin, dass sie auf ein umfassendes Waffenarsenal zurückgreifen können, das sie von der in Auflösung befindlichen irakischen Armee übernehmen konnte. Die schnellen Erfolge des IS, die sie in weiten Teilen des Irak und Syriens erzielen konnten, gehen auch auf den Umstand zurück, dass der Aufstand des IS zu einer allgemeinen Revolte der SunnitInnen geworden ist.
In ihrer brutalen Reaktion, bei der sie nördlich und nordöstlich von Bagdad einige Erfolge verzeichnen konnten, unterschieden die schiitischen Milizen nicht, ob ihre Opfer Kämpfer des IS oder „einfache“ Angehörige der sunnitischen Glaubensrichtung waren. Das hat dazu geführt, mehr Menschen aus dem sunnitischen Bevölkerungsteil in die Arme des IS zu treiben. Sie sehen keine andere Kraft, die sie „verteidigen“ könnte. Schiitische Milizen in Bagdad sprechen offen davon, die SunnitInnen aus den gemischt bewohnten Gebieten (wie z.B. Diyala) herauswerfen zu wollen. Die IS-Kräfte sind in der Lage gewesen, dort anzusetzen, wo die sunnitische Bevölkerung unter der Unterdrückung durch die irakische Regierung unter Maliki (installiert von den westlichen Mächten) zu leiden hatte. Dies geschah direkt nach der Besatzungszeit unter US-Führung, die 2003 endete.
Nach dem möglichen Fall Kobanes, der Übernahme durch die IS-Kräfte und den o.g. Entwicklungen im Irak wird sich die Krise wahrscheinlich noch ausweiten. Das Regime in der Türkei unter Präsident Erdogan hat bewusst nicht gegen die IS-Kräfte eingegriffen, die vor Kobane Erfolge erzielten, weil es Angst vor den Auswirkungen eines möglichen Sieges der kurdischen Kräfte in Kobane auf die 15 Millionen Menschen starke kurdische Bevölkerung in der Türkei hat. Die meisten Kämpfe in Kobane werden von den „Volksverteidigunseinheiten“ (YPG) geführt. Das Erdogan-Regime wäre glücklicher mit einem Sieg des IS über die PYD [Schwesterpartei der PKK in den kurdischen gebieten Syriens, A.d.Ü.] als umgekehrt. Das bestätigt ein vor kurzem getroffenen Abkommen, das zur Befreiung von türkischen Geiseln durch den IS geführt hat.
Kein Vertrauen in Lokalfürsten oder den Imperialismus
Weder den lokalen und regionalen Fürsten noch dem westlichen Imperialismus darf man Vertrauen schenken. Sämtliche genannten Kräfte sind außerstande, die Krise im Interesse aller betroffener Völker dieser Region zu lösen. Die Intervention des wesentlichen Imperialismus führt nur dazu, dass sich die Katastrophe weiter zuspitzt. Ein Gutteil der Gründe, weshalb es zum derzeit stattfindenden Gemetzel kommt, geht auf das Eingreifen des westlichen Imperialismus in früherer Zeit zurück. Auch den sunnitischen oder schiitischen Eliten bzw. Herrschern der Länder in der Region darf kein Vertrauen entgegengebracht werden, die in den Konflikt hineingezogen sind und dabei ihre ganz eigenen Interessen verfolgen. Die Türkei versucht ihre Expansion in Syrien auszuweiten und eine Miniatur des Osmanischen Reiches zu etablieren.
Obama hat davon gesprochen, eine Koalition sunnitischer Mächte zusammenbringen zu wollen. Dazu sollen Saudi Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate gehören, die Widerstand gegen den IS leisten soll. Allerdings hegen all diese Länder ihre eigenen regionalen Interessen und haben eine andere Agenda als Obama. Einige dieser korrupten, unterdrückerischen Dynastien in diesen Staaten heißen das Vorgehen des IS nicht gut, andere haben den IS aktiv unterstützt. Ein Schlag gegen den IS steht für sie jedenfalls nicht an erster Stelle. Außerdem können sie ihre eigenen Interessen kurzfristig dadurch verteidigen, dass der IS für die schiitischen Regime der Region weitere Probleme schaffen kann.
Nötig ist eine vereinte Bewegung der Massen
Um dem Schrecken des IS zu begegnen und auch allen anderen reaktionären und sektiererischen Kräften in der Region entgegenzuwirken, ist es nötig, eine gemeinsame Bewegung der sunnitischen und schiitischen arabischen Massen zusammen mit den KurdInnen, TürkInnen und allen anderen Völkern zu gründen. Will man die reaktionäre Bedrohung durch das Gemetzel des IS in Kobane und andernorts in Syrien und dem Irak bekämpfen, so sind demokratische Komitees nötig, über die dann Milizen der Bevölkerung gegründet werden müssen. Ein Kampf zur Aufhebung des Waffenembargos der Türkei muss geführt werden, um diese Milizen bewaffnen zu können. In der Türkei selbst braucht es Komitees, die aus türkischen und kurdischen ArbeiterInnen zusammengesetzt sind und eine Einheit herstellen können. Der Weg voran besteht im Aufbau von überkonfessionellen Komitees, die die sunnitischen und die schiitischen Massen im Irak repräsentieren, wie auch die kurdische Bevölkerung in diesem Land. Sie müssen in Opposition zu den religiös-motivierten Kräften auf allen Seiten auftreten. Derartige Komitees könnten die Grundlage für eine Regierung der ArbeiterInnen, Bäuerinnen und Bauern sowie all jener bilden, die vom Kapitalismus und Imperialismus ausgebeutet werden. Eine freiwillige und auf Gleichberechtigung basierende sozialistische Staaten-Föderation würde die demokratischen, nationalen und ethnischen Rechte aller Völker der Region garantieren.
Tony Saunois ist Mitglied im Internationalen Sekretariat des Komitees für eine Arbeiterinternationale. Dieser Artikel erschien am 13. Oktober 2014 auf socialistworld.net.