Erdoğan als neuer Präsident der Türkei vereidigt

Recep Tayyip Erdogan Foto: http://www.flickr.com/photos/worldeconomicforum/ CC BY-SA 2.0
Recep Tayyip Erdogan Foto: http://www.flickr.com/photos/worldeconomicforum/ CC BY-SA 2.0

Bedeutende Stimmenzuwächse für das Linksbündnis HDP

Recep Tayyip Erdoğan, der bisherige Premierminister der Türkei und Vorsitzende der AKP („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“), ist gestern als erster direkt gewählter Präsident des Landes vereidigt worden, nachdem er beim Wahlgang am 10. August 51 Prozent der Stimmen erhalten hatte.

von Coşku Mıhcı, „Sosyalist Alternatif“ (CWI in der Türkei)

Der Kandidat der AKP schaffte es, eine derart hohe Prozentzahl auf sich zu vereinen, obwohl es im vergangenen Jahr zu den Protesten um den Gezi Park gekommen war, der engere Kreis um Erdoğan von schweren Korruptionsskandalen gebeutelt ist, es im Mai zum Grubenunglück in Soma kam und trotz der Regierungspolitik für die Regionen, die zu zunehmender innenpolitischer Destabilisierung geführt hat.

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen haben die meisten Menschen aus der türkischen Arbeiterklasse trotz verlangsamten Wirtschaftswachstums in den letzten zwei Jahren noch keinen wesentlichen Rückgang hinsichtlich ihrer Lebensstandards feststellen müssen. Zum anderen gibt es immer noch keine klare politische Alternative zur Herrschaft der AKP. Die Haltung der pro-kapitalistischen Oppositionsparteien im Parlament besteht lediglich darin, sich einer AKP-feindlichen Rhetorik zu bedienen. Eine grundlegend andere Politik wird hingegen nicht vertreten.

Weitere Faktoren sind der Charakter des Erdogan-Regimes, das sich mehr und mehr durch autoritäres Gehabe und Repression auszeichnet, sowie die straffe Kontrolle über die Medien, die bisweilen als Organe der regierenden Partei bezeichnet werden können. Für den Wahlkampf anlässlich der Präsidentschaftswahl hat die AKP enorme Summen ausgegeben. Außerdem hat Erdoğan, als der Gaza-Konflikt in vollem Gange war, das Thema Palästina für sich auszunutzen versucht. Und abschließend sei noch angemerkt, dass die Wahlbeteiligung, die diesen August bei nur 74 Prozent lag, gegenüber den letzten Wahlen vom März (machten 89 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Stimmrecht Gebrauch) merklich zurückgegangen ist.

Parallel dazu muss festgestellt werden, dass die politische Linke in der Türkei allgemein als klein und fragmentiert zu bezeichnen ist. Vor diesem Hintergrund ist der Stimmenzuwachs der HDP („Demokratische Volkspartei), bei der es sich um eine Dachorganisation handelt, die vor allem aus der kurdischen Bewegung entstanden ist, an der sich aber auch andere linke Gruppen beteiligen, eines der bemerkenswertesten Ergebnisse dieser Wahlen. Ihr Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş, kam auf 9,8 Prozent der Stimmen. Das steht für einen positiven Durchbruch für linke Ansätze bei Wahlgängen und ist teilweise auch eine Widerspiegelung der politischen Radikalisierung, zu der es aufgrund der beispiellosen sozialen und Arbeiterbewegungen im vergangenen Jahr gekommen ist.

Wohin steuert die AKP?

Erdoğans Masterplan für die Zeit nach den Präsidentschaftswahlen besteht darin, die Macht zu zentralisieren und seinen persönlichen Herrschaftsbereich auszubauen. In erster Linie ist er darauf aus, dieses Ziel zu erreichen, indem er das politische System der Türkei vom Parlamentarismus hin zu einem Präsidialsystem wie in den USA verändern will. Dabei soll die Exekutiv-Macht des Präsidenten gestärkt und die Rolle des Premierministers geschwächt werden. Dieser Plan geht allerdings nur auf, wenn die AKP bei den Parlamentswahlen 2015 ein sehr gutes Ergebnis einfahren kann, um die Verfassung entsprechend zu ändern.

Das ist nicht das einzige Problem. Erdoğan musste sein Amt als Premierminister aufgeben und seine Mitgliedschaft in der AKP ruhen lassen, weil die Gesetzeslage vorsieht, dass der Präsident – einmal im Amt – „neutral“ zu sein hat. Deshalb hat Erdoğan sich für einen neuen Premierminister mit schwachem Profil stark gemacht, der ihm im Amt folgen soll. Auch wünscht er ein Kabinett, das ihm gegenüber zutiefst loyal eingestellt ist. Erdoğan wählte ein und dieselbe Person als seinen Nachfolger sowohl für das Amt des Premierministers als auch als AKP-Vorsitzender aus: Ahmet Davutoğlu, den ehemaligen Außenminister in Erdoğans letztem Kabinett.

Bei Davutoğlu handelt es sich um ein vergleichsweise neues Mitglied der AKP. Außerdem ist er Erdoğan gegenüber loyal, der seinerseits versucht, seine Macht in der Regierung und der Partei zu konsolidieren, indem er sämtliche angesehenen Gründungsmitglieder der AKP unterdrückt. Innerhalb seiner Partei muss Erdoğan interne Machtkämpfe fürchten, die seine Vormachtstellung in Frage stellen könnten.

Im Zuge eines sehr formal gehaltenen Parteitags ist Davutoğlu „designiert“ worden. Als der wesentliche Architekt der türkischen Außenpolitik ist er verantwortlich für eine Reihe von verheerenden Entscheidungen hinsichtlich des Nahen Ostens.

Ein Kommentator stellte es wie folgt dar: Davutoğlus Mantra, wonach es „keine Probleme mit den Nachbarn gäbe“, hat sich dahingehend verändert, dass nun die Rede davon ist, dass man „keine Nachbarn mit Problemen“ wolle. Die Politik der Regierung gegenüber dem Nahen Osten wird von der Wählerschaft der AKP deshalb nicht gutgeheißen, weil sie viele Widersprüchlichkeiten birgt und der türkischen Regierung eine Menge an Problemen bereitet.

Der Höhepunkt dessen bestand darin, dass die AKP den Grenzübertritt von djihadistischen Kämpfern von der Türkei nach Syrien unterstützte. Sie wurden als informelle Stellvertreter der Türkei genutzt, um das Assad-Regime zu unterwandern und um den kurdischen Ambitionen in Nord-Syrien einen Riegel vorschieben zu versuchen. Doch nun drohen die Djihadisten in zunehmendem Maße zur drohenden Destabilisierung diesseits der türkischen Grenzen beizutragen und den Konflikt zurück ins Land zu holen. Dadurch ist die türkische Regierung gezwungen, sich mit kurdischen Kräften zu arrangieren, um der Gefahr durch den „Islamistischen Staat“ (IS) Einhalt zu gebieten, der jetzt weite Teile des Territoriums im Irak und Syriens kontrolliert.

All dies sind Gründe dafür, weshalb man nicht einfach erwarten kann, dass eine Regierung unter Davutoğlu stabil und in der Lage sein wird, die Wahlen 2015 einfach so für sich zu entscheiden.

Die Krise der Opposition

Seit den Kommunalwahlen vom März 2014 bilden die pro-kapitalistischen Oppositionsparteien im türkischen Parlament ein Bündnis gegen die AKP. Die CHP, die alte Partei des türkischen Staates, die den Kemalismus (die türkische Staatsdoktrin; Anm. d. Übers.) mit sozialdemokratisch klingender Rhetorik verbindet, und die MHP, eine rechtsextreme Partei, die faschistische Elemente aufweist, haben bei den Präsidentschaftswahlen denselben Kandidaten, Ekmeleddin İhsanoglu, unterstützt.

Er kam auf 38 Prozent der abgegebenen Stimmen, was jedoch fünf Prozent weniger sind als die Stimmen, auf die die CHP und die MHP bei den Kommunalwahlen zusammengenommen kamen. Die CHP und die MHP haben sich entschieden, einen islamistischen Kandidaten aufzustellen, weil sie damit versuchen wollten, Stimmen von den konservativsten Schichten aus der Wählerschaft der AKP abzuziehen. Das hat allerdings nicht funktioniert. Die WählerInnen der AKP haben sich nicht für ihn entschieden, und viele KemalistInnen sowie eher säkulare WählerInnen der CHP, die zu den Themen Religionsfreiheit und Frauenrechte tief besorgt sind, haben ihn nicht gewählt, weil sie lieber für den Kandidaten der HDP, Demirtaş, stimmen wollten.

Diese Situation führt zu zunehmenden internen Spannungen innerhalb der CHP. KemalistInnen und „sozialdemokratischere“ VertreterInnen innerhalb der Partei machen die CHP-Führung für die Wahlniederlage verantwortlich. Unter diesem Druck hat der Vorstand der CHP einen außerordentlichen Parteitag für Anfang September einberufen, zu dem der kemalistische Parteiflügel einen neuen Kandidaten für den Parteivorsitz aufstellen wird.

Durchbruch der HDP

Wie erwähnt, kam der dritte Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen von der HDP. Selahattin Demirtaş ist auch der stellvertretende Vorsitzende der Partei. In gewissem Sinne ist er der einzige echte Gewinner bei diesen Präsidentschaftswahlen. Schließlich hat er seinen Stimmenanteil steigern können. Während die HDP bei den Kommunalwahlen im März noch auf 6,5 Prozent kam, erreichte Demirtaş bei den Präsidentschaftswahlen jetzt 9,8 Prozent, was in absoluten Zahlen nahezu vier Millionen WählerInnen entspricht. Damit hat die Partei ihren Stimmenanteil fast verdoppeln können. Zwar entstammt die HDP in erster Linie der Bewegung für eine kurdische Nation. Sie hat es aber in zunehmendem Maße vermocht, eine Schicht türkischer ArbeiterInnen und junger Leute anzusprechen. Außerdem hatte sie Erfolg damit, unter türkischen WählerInnen in der West-Türkei den Durchbruch zu schaffen.

Die HDP ist erst vor ein paar Monaten gegründet worden. Sie ist ein Parteienbündnis aus linken Parteien, die aus der Tradition des Stalinismus, des Reformismus und des Trotzkismus kommen. Auch Umweltgruppen und Strukturen, die sich für die Rechte von Homosexuellen und LGBT einsetzen, sowie die kurdische Partei BDP gehören dazu. Die BDP ist die größte Mitgliedspartei innerhalb der HDP und dominiert das Bündnis. Sie hat wesentlich größeren Einfluss als alle anderen Mitgliedsorganisationen oder Parteien in diesem Zusammenschluss.

Die BDP, die historisch betrachtet auf die kurdische politische Bewegung zurückgeht, bekam bei Wahlen regelmäßig mindestens 50 Prozent der kurdischen Stimmen (die kurdische Bevölkerung macht zwischen 15 Prozent und 20 Prozent der türkischen Gesamtbevölkerung aus). Bei den Präsidentschaftswahlen gewann Demirtaş nicht nur die Unterstützung in den kurdischen Gebieten. Er erhielt auch viele Stimmen aus der türkischen Bevölkerung, was zuvor nicht erwartet worden war.

Dieses Abschneiden ist vor allem auf die politischen Forderungen zurückzuführen, die die HDP in Demirtaş’ Wahlkampf aufgestellt hat. Er sprach von gemeinsamen Rechten der Beschäftigten, LGBT-Rechten und Frauenrechten, davon, dass die türkischen Institutionen „demokratisiert“ werden müssen und übte – trotz des „Friedensprozesses“, der zwischen den kurdischen Milizen, der PKK und der AKP-Regierung stattfindet – offen Kritik an letzterer.

Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen haben gezeigt, dass ein linkes politisches Programm sowohl die Stimmen vom kurdischen als auch dem türkischen Teil der Arbeiterklasse bekommt. Die HDP hat nun das Potential, in der türkischen politischen Landschaft wieder einen linken Pol auszubauen, der die Menschen anspricht. Den Beginn machen die WählerInnen aus der Arbeiterklasse.

Allerdings sind, was die HDP angeht, auch viele Hindernisse und Hürden zu verzeichnen, die es abzubauen gilt. Zuallererst ist dabei der Fehler zu nennen, dass die HDP – trotz der Tatsache, dass sie eine arbeitnehmerfreundliche Politik vertritt – zur Zeit noch kein sozialistisches Programm hat.

Außerdem hat die HDP strukturelle Mängel. Ein echtes, demokratisches Bündnis aus Parteien, Gruppierungen und Einzelpersonen mit einem sozialistischen Programm wäre ein wichtiger Schritt nach vorn. Doch das HDP-„Bündnis“ ist momentan noch sehr restriktiv und hat seine Grenzen. Tatsächlich gibt es noch nicht einmal eintausend Mitglieder in der HDP. Die meisten Entscheidungen in der Partei werden hinter verschlossenen Türen getroffen von hochrangigen Kadern verschiedener Parteien. Im Innern der Partei herrscht kein dynamisches und demokratisches Diskussionsklima mit dem Bewusstsein, die Debatten auf die gesamte Mitgliedschaft der Partei ausweiten und somit eine aktiv unterstützende Mitgliederstruktur aufbauen zu wollen. Was das angeht, ist es natürlich schwer, neue „unabhängige“ Mitglieder zu gewinnen (gemeint sind Mitglieder, die keiner der bisherigen Mitgliedsparteien der HDP angehören).

Trotz dieser Schwächen handelt es sich bei der HDP um die linke Initiative, die am meisten ermutigt und sich in den letzten Jahren in der Türkei überhaupt herausgebildet hat. Wie sich diese Kraft weiterentwickelt und wie die Arbeiterklasse allgemein sich ihr gegenüber verhalten wird – das sind entscheidende Fragen, die für die Entwicklung einer wirklichen politischen Alternative für ArbeiterInnen und jungen Menschen wichtig sind. Trotz der Kritik, die wir aufgrund ihrer politischen und organisatorischen Defizite an der HDP haben, haben wir von „Sosyalist Alternatif“ (SympathisantInnen des CWI in der Türkei) Demirtaş als einzigen Kandidaten unterstützt, der den Kapitalismus attackiert und bei diesen Wahlen ein arbeitnehmerfreundliches Programm vertreten hat. Der Wahlkampf von Demirtaş bot die beste Plattform, von der aus die Arbeiterklasse anzusprechen war, weil die Belange der Beschäftigten zum Thema gemacht wurden. Auf dieser Grundlage konnten Diskussionen über die Frage der Notwendigkeit geführt werden, eine neue Massenpartei der ArbeiterInnen in der Türkei zu gründen.

Mit einer mutigen sozialistischen Politik kann eine solche Arbeiterpartei rasch die Unterstützung breiter Teile der Arbeiterklasse bekommen und in die Lage kommen, um die Macht zu kämpfen. Dazu gehört dann aber auch, dass man den Mindestlohn fordert, angemessenen Wohnraum, eine vernünftige Gesundheitsversorgung und Bildung. Gegen den neoliberalen Plan einer wirtschaftlichen wie politischen Integration in die EU muss Widerstand geleistet, die militärischen Verbindungen zur NATO müssen abgebrochen und die NATO-Stützpunkte im Land müssen geschlossen werden. Es geht um die Durchsetzung voller demokratischer Rechte für alle Minderheiten und die unterdrückten KurdInnen. Außerdem muss die Forderung aufgestellt werden, die Schlüsselindustrien unter demokratischer Kontrolle der Öffentlichkeit zu verstaatlichen und in Gemeineigentum zu überführen, damit die Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung befriedigt werden können.