Die US-Spionageaffäre fällt mit Bestrebungen des deutschen Imperialismus zusammen, in den Weltbeziehungen wieder eine dominantere Rolle zu spielen
„Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht.“ Sprach die Kanzlerin, als sich der Verdacht erhärtete, dass ihr Mobiltelefon von US-Geheimdiensten angezapft wird. Überhaupt brachte der ehemalige CIA-Mitarbeiter Edward Snowden damals ans Licht, wie weit die US-Überwachungsbemühungen in der Bundesrepublik reichen. Das war im Herbst 2013. Jetzt, ein knappes Jahr später – kaum, dass sich die Spannungen zwischen Berlin und Washington wieder etwas gelegt haben –, wurde bekannt, dass ein BND-Mitarbeiter sowie mindestens ein Referent im deutschen Verteidigungsministerium auf den Gehaltslisten der US-Nachrichtendienste stehen sollen und neben Angela Merkel die Mitglieder des NSA-Untersuchungsauschusses ebenfalls abgehört werden.
von Aron Amm, Berlin
Nachdem die jüngsten US-Spionageaktivitäten bekannt wurden, legte die Bundesregierung dem höchsten Vertreter der amerikanischen Geheimdienstbehörden in Deutschland nahe, die BRD zu verlassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier verschob eine Reise in die Vereinigten Staaten. Merkel und Barack Obama sollen sich in einem Telefonat „richtig die Meinung gesagt“ haben, nur „gedämpft durch die zwischengeschalteten Dolmetscher. (…) Womöglich hätten sie sich angeschrien, hätten sie unter „vier Augen“ miteinander geredet“ (FAZ vom 18. Juli).
Eine Reihe einflussreicher Blätter in der Bundesrepublik forderten einen schärferen Kurs gegenüber „dem großen Bruder“. So schrieb die Süddeutsche Zeitung am 10. Juli: „Gerhard Schröders Nein zum Irak-Krieg vor zwölf Jahren war ein erster Schritt, Eigenständigkeit gegenüber dem großen Verbündeten zu signalisieren.“ Die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung begrüßte die Ausweisung des obersten CIA-Statthalters in Berlin. Es handle sich um eine „Zäsur in der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen“.
Eine „Zäsur“?
Schnüffeltätigkeiten, Lauschangriffe, Doppelagenten … Das gehört, auch unter partnerschaftlich verbundenen kapitalistischen Staaten, zum Alltag. Ist business as usual. Neu sind bloß die modernen Kommunikationstechniken, die den Nachrichtendiensten sicherlich andere Möglichkeiten als zuvor eröffnen.
Bei allem Geschrei im Bundestag und bei allem Geraschel im deutschen Blätterwald darf auch nicht verkannt werden, wie sehr die Überwachungsorgane hierzulande – zum Nachteil von Otto Normalbürger – vom Informationsaustausch mit den US-Behörden profitieren, wie eng die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Geheimdiensten im In- und Ausland ist und wie weit man sogar bei der Zielauswahl von Drohnen mitredet.
Trotzdem bedeutet der aktuelle Spionageskandal für die herrschende Klasse Deutschlands mehr als nur einen unangenehmen Betriebsunfall, der zwar ärgerlich, aber auch bald wieder vergessen sein wird. Das hat weniger mit der Reaktion aus dem Weißen Haus zu tun als mit den gegenwärtigen Debatten innerhalb des deutschen Kapitals über eine mögliche Neuausrichtung des deutschen Imperialismus.
Deutsche Expansionsversuche
In der Ära des Kapitalismus waren wir bislang dreimal Zeuge einer aggressiven Expansionspolitik Deutschlands auf dem Weltmarkt. Der erste Vorstoß fand unter Otto von Bismarck Mitte des 19. Jahrhunderts statt und führte zum deutsch-französischen Krieg 1870/71. Der zweite Anlauf begann bereits in den Folgejahren und mündete in den I. Weltkrieg. Das dritte Mal, dass die Kriegsmaschine angeworfen wurde und Expansionspläne in die Tat umgesetzt werden sollten, war 1933. Das Ergebnis war der Zweite Weltkrieg.
Und heute? Heute ist manches anders. Jahrzehntelang ist die Bundesrepublik ökonomischer Riese, aber militärischer Zwerg gewesen. Doch genau das soll jetzt anders werden. Seit der „Wiedervereinigung“ verfolgen die Herrschenden offen das Ziel (angefangen mit den Einsätzen auf dem Balkan 1999 und in Afghanistan 2001 – beides unter Rot-Grün), das Tabu von Auslandseinsätzen zu durchbrechen, EU und Euro-Zone unter eigener Führung gegen die Konkurrenz aus Übersee in Stellung zu bringen und generell eine eigenständigere Rolle auf der Weltbühne zu spielen.
Kein Wunder, dass „es nach dem Fall der Mauer 1989 und dem anschließenden Kollaps der Sowjetunion mit den besonderen Beziehungen, die die deutschen und US-Geheimdienste zusammenhielten, vorbei war. Die Aussicht auf den Aufstieg eines wiedervereinten Deutschlands als unabhängige ökonomische Macht brachte Washington dazu, die Überwachung seines Verbündeten dramatisch zu verstärken“ (Sunday Times vom 13. Juli 2013).
„Trio Infernale“
Zwei Drittel der Bevölkerung lehnen bis heute ein größeres militärisches Engagement Deutschlands ab. Wie schwer es den Bürgerlichen fällt, das Volk hinter den nationalistischen Karren zu spannen, zeigte sich ein Stück weit auch in den Tagen der Männerfußball-Weltmeisterschaft. Trotz weit verbreiteter Begeisterung für das Team von Jogi Löw war die WM für die meisten nicht viel mehr als Fußballspaß und Feieranlass. Die BILD-Redaktion und andere hätten sich hingegen gern noch mehr Nationalfahnen auf den Straßen, noch mehr vom Sport losgelöste Deutschland-Euphorie und einen waschechten Chauvinismus gewünscht.
Vor diesem Hintergrund sehen sich die Regierenden gezwungen, vermehrt Anstrengungen zu unternehmen, einen Stimmungswandel herbeizuführen. In diesem Kontext ist auch zu sehen, was DER SPIEGEL 27/2014 in seinem Leitartikel „Mehr Verantwortung in der Welt“ beklatscht: „Gleich dreimal ist seit Anfang des Jahres eine neue deutsche Außenpolitik ausgerufen worden: vom sozialdemokratischen Außenminister, von der christdemokratischen Verteidigungsministerin und vom Bundespräsidenten, den die Grünen für sein Amt vorgeschlagen hatten.“
Das „Trio Infernale“ Frank-Walter Steinmeier, Ursula von der Leyen und Joachim Gauck plädierte im Gleichschritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar für mehr aggressive Auslandseinsätze und vor allem für mehr Einsätze, die vorrangig deutschen Interessen dienen. Die Verteidigungsministerin legte ein paar Monate später nochmal nach und warb – als Mittel zum Zweck – für eine Umwandlung der Bundeswehr in „einen familienfreundlichen Konzern“: mit Kitas und Flachbildschirmen in den Kasernen, Teilzeitjobs für Soldaten und weiteren Maßnahmen, die der Normalisierung des Soldatenberufs dienen sollen.
Auch der Bundespräsident erhob im Sommer – unmittelbar vor den gegenwärtigen Spionage-Turbulenzen – erneut das Wort und sprach sich im Deutschlandradio Kultur offen dafür aus, „im Kampf für Menschenrechte auch zu den Waffen zu greifen“.
Neue Welt(un)ordnung
Die vierte deutsche Weltmarktexpansion begann bereits in den sechziger Jahren. Betrieben vom BRD-Kapitalismus. Dass nunmehr allerdings die Ambitionen offensiv artikuliert und Auslandseinsätze forciert werden, kann nicht isoliert von den Umbrüchen auf dem Planeten seit 1989 betrachtet werden. Hatte der Ost-West-Gegensatz die zwischenimperialistischen Konflikte jahrzehntelang im Zaum gehalten, so brachen diese nach dem Zusammenbruch des Stalinismus – und angesichts eines weltweit herrschenden Systems, das in einer tiefen Krise steckt (was spätestens mit der 2007 einsetzenden Talfahrt auf den Finanzmärkten und der Weltwirtschaft evident wurde) – seit Anfang der neunziger Jahre offen zu Tage.
Zunächst wähnten sich die Neokonservativen in den USA unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion ihrem „Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert“, einer von Richard Perle mitbegründeten und dem Bush-Clan nahestehenden Denkfabrik, einen bedeutenden Schritt näher. Doch mit der verheerenden Rezession, dem Abbau von Industriekapazitäten in großem Stil, dem Einbruch an der Wall Street und – wie wir dieser Tage erleben – dem Debakel im Nahen Osten zeigt sich in aller Schärfe, dass die USA vor 20 Jahren zwar als einzige Supermacht übrig blieben, es sich jedoch um eine Supermacht handelt, die sich im Niedergang befindet.
Auch wenn viel vom asiatischen Jahrhundert die Rede ist, so zeigt sich China trotzdem noch weit davon entfernt, den Platz der USA als alleinige Supermacht einzunehmen (der Anteil Chinas an den globalen Rüstungsausgaben beläuft sich auf zehn Prozent, die USA haben mit 36 Prozent weiter die Nase vorn; auch ökonomisch ist das „Reich der Mitte“ noch weit davon entfernt, die USA abzulösen – bezeichnenderweise werden immer noch über 60 Prozent der Weltdevisenbestände in US-Dollar angelegt).
Von daher trifft es Erich Follath recht gut, der im SPIEGEL 14/2014 die Ära des „Kalten Kriegs“ als „bipolare Welt“ bezeichnete, die „zwischenzeitlich zu einer unipolaren Welt geworden“ ist und sich heute „zu einer zersplitterten, multipolaren Welt, ohne Führungsnation“ wandelt.
Wohin geht Deutschland?
In dieser neuen „multipolaren Welt“ wollen die deutschen Kapitalisten nicht länger zurückstecken. Auf europäischer Ebene sind sie unter Angela Merkel einen großen Schritt weitergekommen, wie die Financial Times ihnen (in der Ausgabe vom 15. Juli) attestiert: „In den letzten fünf Jahren konnte sich Deutschland zur führenden politischen Macht in Europa aufschwingen.“ Im gleichen Artikel wird übrigens darauf hingewiesen, dass die Menschen in Portugal, Spanien und Griechenland laut Umfragen wünschten, dass Deutschland mit am schlechtesten bei der WM abschneidet (was einen Hinweis darauf gibt, wie verhasst Merkel und Co. dort angesichts ihrer Kürzungsdiktate sind).
Jahrzehntelang war die Bundesrepublik der Juniorpartner Nordamerikas. In den neunziger Jahren witterte die Bourgeoisie ihre Chance, die seit den sechziger Jahren begonnene ökonomische Expansion auf dem Weltmarkt durch eine militärische Ausdehnung zu ergänzen. Allerdings schwankt das bürgerliche Lager seitdem zwischen einem neuen Alleingang (an der Spitze eines unter ihrer Führung stehenden Europas) und einer Weiterführung des „transatlantischen Bündnisses“.
Zwischenzeitlich kam es auch zu einer Art „Seitensprung“ mit Russland – unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders (SPD). Das ist zwar vorbei. Dennoch gibt es in der herrschenden Klasse weiter einige schwergewichtige „Putin-Versteher“ wie zum Beispiel Siemens-Chef Joe Kaeser, der auf dem Höhepunkt des Ukraine-Konflikts Moskau demonstrativ einen Besuch abstattete.
Erst machte Merkel mit ihrer Weigerung, Edward Snowden in Deutschland Asyl zu gewähren, deutlich, dass sie sich gegenüber dem US-Präsidenten keinen Affront erlauben will. Dann war man bemüht, in den Auseinandersetzungen um die Ukraine mit Washington an einem Strang zu ziehen.
Allerdings zeigte sich gerade im Umgang mit der Ukraine, dass ein einheitliches Vorgehen um so schwieriger ist, wenn man es mit unterschiedlich gelagerten ökonomischen Interessen zu tun hat. So warnte das Handelsblatt zum Beispiel im Hinblick auf die Russland-Politik am 7. März: „Sanktionen helfen nicht – ein Embargo würde vor allem die deutsche Wirtschaft treffen“. Zumal 6.200 deutsche Unternehmen in Russland 22 Milliarden Dollar investiert haben und ein Drittel der Gasversorgung in Deutschland und Europa von Russland abgedeckt wird.
Ähnliches offenbarte Merkels Besuch in Peking: Der konfrontative Kurs der USA gegenüber China im Streit um den Pazifischen Raum steht im Widerspruch zu den Plänen deutscher Industrieller, 40 Milliarden Euro in China zu investieren und verstärkt auf den dortigen Markt zu bauen.
Keine Frage, dass die Kapitaleigner und ihre politischen Repräsentanten Deutschlands dabei sind, einen eigenständigeren Kurs international einzuschlagen. Gegenwärtig ist aber noch nicht ausgemacht, was das mittelfristig für das „transatlantische Verhältnis“ bedeutet. Unmittelbar haben sich Merkel und Obama einen „erstklassigen Streit“ (FAZ vom 18. Juli) eingehandelt, der nicht über Nacht ausgeräumt sein wird und Vorhaben wie das ohnehin komplizierte Freihandelsabkommen weiter belastet.
Offen bleibt, wie sich die generelle Lagerbildung auf Weltebene gestaltet. Erinnert sei an die zwei Jahrzehnte, die dem Ersten Weltkrieg vorausgingen. Auch damals existierten keine festen Blöcke. Vielmehr war dieser historische Zeitabschnitt geprägt von Stellvertreterkriegen, regionalen Konflikten und wechselnden Bündnispartnern.
DIE LINKE ist gefordert
Als Sigmar Gabriel seine Parteimitglieder auf die Bildung der Großen Koalition einschwören wollte, stellte er den Delegierten des SPD-Parteitags im Spätherbst vergangenen Jahres einen künftigen Pakt mit Grünen und LINKEN in Aussicht. Allerdings machte der Leitantrag „eine verantwortungsvolle Europa- und Außenpolitik im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen“ zur Bedingung.
Um so wichtiger, dass die Linkspartei weiterhin Auslandseinsätze klar ablehnt (und außerdem, auch nicht irrelevant für vermeintliche „internationale Verpflichtungen“, die Auflösung aller Geheimdienste postuliert). Während Stefan Liebich, Mitglied der reaktionären „Atlantik-Brücke“, als Angehöriger des „Forums demokratischer Sozialismus“ (FdS) zusammen mit anderen Parteirechten die Opposition der Partei zu Auslandseinsätzen kassieren will, wird es für die Linken in der LINKEN in der kommenden Phase zentral sein, genau diese Beschlusslage zu verteidigen. Gerade im Hinblick auf die Bestrebungen des deutschen Imperialismus in Krisenzeiten gilt es, andere Kräfte in der Partei davon zu überzeugen, am Nein zu Auslandseinsätzen und Krieg (worauf jede pro-kapitalistische Politik früher oder später hinausläuft) festzuhalten.
Aron Amm ist Mitglied der SAV-Bundesleitung