Die Juli-Krise und der Beginn des Ersten Weltkriegs
Das Buch hier im Online-Shop der SAV kaufen.
Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn dem Königreich Serbien den Krieg. Damit begann der Erste Weltkrieg. Steve Kühne setzt sich in seinem Buch: 1914 – Krise, Krieg und Widerstand mit den Ereignissen im Juli 1914 auseinander. Wir veröffentlichen hier die Einleitung des Buchs. Wer Interesse am Weiterlesen hat, kann den Text bei der SAV bestellen.
„In diesem Augenblick gehen in ganz Europa die Lichter aus, wir alle werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen“, sagte am frühen Morgen des 3. August 1914 der britische Außenminister Sir Edward Grey zu einem seiner Mitarbeiter, während sie gemeinsam einem Angestellten der Stadt beim Löschen der Gaslaternen auf der Straße zusahen. Die Welt marschierte in einen Krieg, dessen gewaltige Ausmaße kaum vorstellbar waren. Über 70 Millionen Soldaten unzähliger Nationalitäten gingen aufeinander los.
Grey wusste genau, wie sehr dieser Krieg die Welt verändern würde. Und er war beileibe nicht der Einzige. Als der russische General Dobrorolski wenige Tage zuvor, noch im Juli, die Unterschriften für die Mobilmachung der russischen Armee bei den dafür zuständigen hohen Würdenträgern zusammenholte, fand er viele von ihnen betend, in gedrückter Stimmung vor.
Gewiss, was vor ihnen lag, war ein Gemetzel ohne gleichen. Aber sie fürchteten nicht die Schlächterei, sondern, wie sich einer der Männer, die Dobrorolski aufsuchten, auszudrücken beliebte, die unweigerliche Folge desselben, die sozialistische Revolution.
Wenn aber die Kosten des Gemetzels so hoch waren, warum zogen die europäischen Staaten in den Krieg, oder besser, warum wurden Millionen Unschuldiger in den großen Kampf um die Verteilung der Welt geschickt? Schlitterten sie hinein? War es ein dummes Versehen? So, als ob beim Abwaschen ein Teller zu Bruch geht?
Die Antwort auf diese Fragen erhält man, wenn man eine andere Frage stellt: Was ist ein Staat? Ein Verwaltungsorgan würde der bürgerliche Politikwissenschaftler antworten. Ein Mittel zur Durchsetzung des Willens der Kapitalisten, auch gegen Widerstreben, würden die MarxistInnen sagen und sich dabei einer Anleihe bei dem bürgerlichen Soziologen Max Weber bedienen, der auf diese Weise den Begriff „Macht“ zu definieren pflegte.
„In Wirklichkeit […] ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie […]“, schreibt Friedrich Engels. Der Staat als Mittel zur Durchsetzung des Willens der Kapitalisten, egal, ob dieser Staat bürgerlich-demokratisch, monarchisch, oder diktatorisch funktioniert. Die Kapitalisten herrschen durch ihn. Nach Lenin sind es Polizei und Militär, die die Herrschaft der Kapitalisten absichern.
Das tun sie übrigens nicht nur nach innen, spätestens dann, wenn die Investitionsmöglichkeiten der Kapitalisten im Inland sinken, schielen sie nach draußen. Doch da der Kapitalismus ein System der Konkurrenz ist, konkurrieren Kapitalisten auch um Märkte und Rohstoffe, die noch nicht einmal auf dem Gebiet ihrer Länder liegen. Und dafür benötigen sie wiederum ein Werkzeug. Ihr Werkzeug ist der Staat, seine Polizei und – nach außen – sein Militär. Der beschleunigte Griff der europäischen Mächte nach Kolonien, nach Erzen, Kohle und Absatzmärkten, das war es, was die Welt nach 1900 ausmachte. Der Globus war weitgehend aufgeteilt, wer nicht das Nachsehen haben wollte, musste sich etwas einfallen lassen. Der Einfall war wenig kreativ, in jedem Land gleich, dafür aber letzten Endes konsequent und wirkungsvoll.
Die Kapitalisten setzten auf Rüstung und Einschüchterung. Die Staaten taten ihren Dienst im Interesse derjenigen, die auf die Steigerung ihrer Gewinne hofften. Europa war das Zentrum der Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts. Und so ist es wenig überraschend, dass gerade die europäischen Mächte in Gegensätze gerieten. Mehr als ein dutzendmal, schreibt Rosa Luxemburg in ihrer Junius-Broschüre 1915, wäre der Krieg vor dem August 1914 schon beinahe ausgebrochen: Während der russischen Revolution 1905 hoffte der deutsche Generalstab auf den Befreiungsschlag gegen den Verbündeten des geschwächten St. Petersburg, gegen Frankreich; 1908 in der bosnischen Annexionskrise, als Österreich-Ungarn, das schon lange von ihm besetzte Bosnien-Herzegowina seinem Reich angliederte, in der ersten und zweiten Marokko-Krise, während der Balkankriege, im Winter 1913 und 1914… Die Gelegenheiten häuften sich. Der Krieg deutete sich drohend an, die Krisen wurden zu „Krieg-in-Sicht-Krisen“.
Die höchsten Ausschüsse der Staaten stellten sich auf den kommenden Krieg ein, den sie im Interesse der Kapitalisten ihrer Länder zu führen sich anschickten. Währenddessen lieferten deutsche Rüstungsindustrielle Granaten auch an England. Die imperialistische Welt begann sich zu sortieren: Die Interessen welcher nationaler Kapitalistenklassen passten mit welchen Interessen anderer Kapitalistenklassen zusammen? Frankreich und Russland schlossen ein Bündnis gegen den übermächtig wirkenden Gegner Deutschland. England stimmte seine kolonialen Begehrlichkeiten mit Frankreich und dem Zarenreich ab. Es wurde über das Leben von Millionen von Menschen entschieden, als wären sie nur Beiwerk.
Doch dies bedeutete auch, dass ab 1907 sich zwei Staatenblöcke gegenüberstanden: die „Entente“ mit Frankreich, England und Russland und die „Mittelmächte“ aus dem deutsche Kaiserreich, Italien und Österreich-Ungarn. Diese Blöcke waren nicht unumstößlich aufeinander eingespielt. Gerade England war in keinem wirklich formalen Bündnis und fürchtete das Anwachsen der Macht St. Petersburgs. Dessen Besitzerwerbungen drückten auf Englands koloniale Besitztümer in Asien, und das hieß, Profite waren in Gefahr. Italien erhob Gebietsansprüche gegen Wien.
Die Welt glich einem Tollhaus, in dem sich die Herren in den Chefetagen der Banken und Konzerne beinahe nach Belieben auszutoben pflegten! Doch dabei prallten sie eben aufeinander. Nervös schielten sie nach ihren Machtinstrumenten, ihren Staaten. Die Mittelmächte, besonders Deutschland, waren hoch gerüstet. Aber Frankreich und besonders Russland, nach der niedergeschlagenen Revolution von 1905 geschwächt, holten mit atemberaubender Geschwindigkeit auf.
Für die deutschen Kapitalisten wurde es Zeit. Sie wollten, sie brauchten Krieg. Ihrer Meinung nach eingekreist zwischen feindlichen Mächten, tickte die Uhr. Schon 1916/17 wäre man unterlegen, ein Krieg nicht mehr zu gewinnen. Also wollte man was dann kam. Man wollte es und fürchtete es zugleich, denn die Welt hatte sich verändert. Längst war eine andere Macht aufgetaucht, die es zu überwinden galt, wenn man in den Krieg ziehen wollte.
Die Jahrhunderte hindurch hatten die Herrschenden die Kriegstrommeln gerührt und die Menschen kamen. Da und dort noch ein paar Schauergeschichten über den angeblich bestialischen Feind, und das Gemurre über den Bauern, der Familie und Scholle zurücklassen musste, galt es zu überhören… Und nun? Auf einmal waren die, die in den Krieg ziehen sollten, für die, die an demselben verdienten, mit ihrem Gemurre nicht mehr allein! Weltweit hatte sich eine Organisation der Unterdrückten formiert, die einem Spartacus, einem Thomas Müntzer die Sprache verschlagen hätte. Millionen Menschen hatten sich organisiert. Deren Widerstand galt es zu überwinden, wenn man diesen Krieg wollte.
Nur wie sollte das gehen? Bot diese Organisation, die II. Internationale, ihren Mitgliedern und Anhängern doch auf einmal eine ganz andere Idee des Zusammenlebens an. Eine Welt, in der nicht die Profite, sondern die Menschen zählten, in der es keine Kriege geben würde. Als 1904 Japan und Russland aufeinander losgingen, lagen sich auf dem „Sozialistenkongress“ in Amsterdam der Vertreter der russischen und der japanischen Delegation, Martow und Katayama, unter dem Applaus der Anwesenden in den Armen und schworen, gemeinsam gegen den Krieg zu kämpfen. „Weder Zar noch japanischer Kaiser“ war die Losung der II. Internationale. Nur ein Jahr später zerstörte ein Streik der deutschen Gewerkschaften im Ruhrgebiet alle Ideen des deutschen Generalstabs zum Angriff auf Frankreich. Denn, was wenn die SPD diesen Streik im Kriegsfall zum Generalstreik ausweiten würde?
Die Macht der Arbeiterbewegung schien unaufhaltsam zu wachsen. Und so war der Krieg nicht nur ein Kampf um die globale Verteilung von Rohstoffen und Märkten, sondern auch ein Kampf gegen die Arbeiterbewegung. Würde man Nationalismus, Patriotismus und Rassismus streuen, könnte man die Arbeiterbewegung entlang der Ländergrenzen spalten und so ihre größte Stärke zerstören.
Nur wie sollte man das erreichen? Die SPD und die Gewerkschaften verbieten? Gerade die deutsche Sozialdemokratie schien sich von jedem dieser Schläge wie die Gestalt eines antiken Dramas zu erholen. Genauer gesagt, erholte sie sich nicht nur, sondern ging gestärkt aus ihr hervor.
Als 1878 Bismarck die deutsche Sozialdemokratie mit dem „Sozialistengesetz“ verbot und nur noch ihre Kandidaten zu Reichstagswahlen antreten durften, wuchs die Partei immer weiter an. Es wäre kaum übertrieben, würde man sagen, es formierte sich eine Untergrundarmee. Als 1890 der Reichstag das „Sozialistengesetz“ gegen Bismarcks Willen nicht nochmals verlängerte, war dies eine dramatische Niederlage für den „eisernen Kanzler“. Sein größter Feind war größer geworden an Mitgliedern und Wählerstimmen und konnte nun sogar wieder ganz offiziell auftreten.
Doch was Bismarck seinerzeit als seine vielleicht bedeutendste Niederlage wahrnahm, war in Wirklichkeit sein vielleicht größter und anhaltendster Erfolg.
Ohne es zu begreifen, hatte er die SPD mit einem tödlichen Virus infiziert. Die Eigenart des deutschen Wahlgesetzes, welches nicht Parteien-, sondern Personenwahl vorsah, ließ weiterhin, trotz Verbot, Sozialdemokraten in den Reichstag einziehen und sie wurden mehr. Unter diesem Eindruck schuf Bismarck Sozialversicherungssysteme – einmalig auf der Welt. Das Schwergewicht der Parteipolitik der SPD verschob sich auf die Reichstagsfraktion. Und hatte man nicht Erfolge? Mehr Wähler, endlich Reformen. War das nicht ein kleines Stück Sozialismus? Musste man nicht mit jedem neuen Sitz im Reichstag ein kleines Stückchen Sozialismus hinzugewinnen? Brauchte man denn noch die Revolution? Reichte nicht die Mitarbeit, das Gesetzeswerk? Trat der Sozialismus ja vielleicht von ganz allein ein, wenn man bei Wahlen 50 Prozent plus x erobern würde?
Die Gestalt der SPD veränderte sich. Zu den Parteitagen fuhren kleine Schankwirte, in deren Lokalen sich die ArbeiterInnen trafen. Sie bekamen keinen Urlaub für Parteitage und so schickten sie Kleinbürger. Reformistische Ideen gewannen an Bedeutung und machten selbst vor dem angeblich marxistischen Zentrum der Partei nicht halt.
Als der internationale Sozialistenkongress 1907 durch die Intervention von Lenin, Martow und Rosa Luxemburg einen Beschluss fasste, wonach die Mitgliedsparteien der II. Internationale alle nur erdenklichen Mittel ins Feld zu führen hätten, wenn es zu einem Krieg kommen würde und sogar die Aufgabe hätten, die politische Krise zu nutzen, um ihrerseits in die Offensive für die sozialistische Revolution zu kommen, interpretierte August Bebel, der ehrwürdige Vorsitzende der SPD, diesen Beschluss schnell um. Es ginge jawohl darum, was in dem jeweiligen Lande zu erreichen sei und welches Mittel dafür angebracht wäre. Der Generalstreik sei es in Deutschland sicherlich nicht. Im Reichstag sprach Bebel von der Revolution nur als dem „großen Kladderadatsch“ – nicht gerade eine Liebesbekundung!
Rosa Luxemburgs Kampf für die Aufnahme des Massenstreiks in das Waffenarsenal der SPD blieb erfolglos. Sie hatte während der Revolution in Russland, deren Zeugin sie war, gesehen, wie dieses Mittel als Eröffnung eines revolutionären Kampfes griff. Aber jene, die sie auf den Parteitagen zu überzeugen suchte, hatten, anders als Rosa Luxemburg, kein Interesse mehr am „großen Kladderadatsch“. Und so hatten sie kein Interesse am Generalstreik, am Massenstreik. Doch damit waren sie eben auch nicht bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Nur standen sie einem Feind gegenüber, der genau das beinahe jederzeit zu tun bereit war. Die Kapitalisten wollten den Krieg. Die SPD-Führung aber wollte nicht mehr jedes Mittel zu dessen Verhinderung anwenden.
Die Unbekannten waren ihr einfach zu groß. Was war bei einem Misserfolg? Würde man da nicht Ansehen, Parlamentssitze, Einkommen und Freiheit einbüßen? Und was war bei einem Erfolg? Was brachte denn der große Kladderadatsch? Was brachte er den Honoratioren der SPD? Nein, nein, nein! Diese Mittel waren zu gefährlich für Menschen, deren materielles Interesse der Erhalt des Status quo war. Und die SPD-Führung, nicht deren Mitgliedschaft, gehörte nun einmal dazu.
Den Streik auszurufen, Barrikaden zu bauen und gar die Waffe in die Hand zu nehmen, all das war für sie ein reichlich albernes, und dort wo es ihre ureigensten Pfründe gefährdete, sogar ein gefährliches Bild. Nein, zu diesen Schritten war die Führung der SPD und der II. Internationale wirklich nicht bereit. Ihre Gegner in den Chefsesseln der Konzerne und an der Spitze des Staates waren das schon eher. Und so erwies sich die SPD im Sommer 1914, nach 45 Jahren Geschichte und Kampf, als unfähig das zu tun, wozu sie einst geschaffen worden war.
Zu Beginn der „Juli-Krise“ 1914 war das den Herrschenden so noch längst nicht klar. Zu sehr hatten sie, ebenso wie die ArbeiterInnen das Bild der alten SPD vor Augen. Nur wenige auf beiden Seiten ahnten, was bevorstand: Bethmann-Hollweg, der deutsche Kanzler, war der eine. Menschen wie Luxemburg, Liebknecht, Lenin und Trotzki waren die anderen. Bethmann-Hollweg rang diese Voraussicht ein Lächeln ab. Er war über das Innenleben der SPD bestens informiert. Besser selbst, als es die meisten Reformisten für gut befunden hätten. Den RevolutionärInnen hingegen machte das Wissen um die innere Schwäche ihrer Organisation Angst.