Gespräch mit Dorit Wallenburger, die von Hartz IV Betroffene bei Anträgen und Widersprüchen unterstützt
Als die Proteste gegen Hartz IV vor zehn Jahren begannen, fürchteten die Demonstranten eine dramatische Verschlechterung der Lage von Arbeitslosen. Waren ihre Befürchtungen begründet?
Ja, eindeutig.
Was genau ist eigentlich schlechter geworden?
Es wurden pauschale Regelsätze eingeführt, die pro Person und Monat zum Leben reichen müssen, ohne Anspruch auf zusätzliche Leistungen. Die Leistungen für Unterkunft wurden auf „angemessene Wohnkosten“ beschränkt, entsprechende Wohnungen sind in Großstädten kaum noch zu finden. Die Beantragung der Leistungen ist sehr aufwendig, man muss sich durch eine Menge Papier kämpfen und jede Menge private Unterlagen beibringen. Das Einkommen von Partnern und Kindern im Haushalt wird angerechnet.
Jobangebote werden kaum gemacht. Wenn doch, sind sie viel zu oft miserabel bezahlt. Wenn man diese jedoch ablehnt, drohen Sanktionen, bis hin zum Wegfall der gesamten Leistungen. 2011 stieg die Zahl der ausgesprochenen Sanktionen bundesweit auf über eine Million.
Angeblich hatte die Reform auch die Aufgabe, die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen zu verbessern. Ist das nicht angesichts von millionenfacher Arbeitslosigkeit sinnvoll?
In der Praxis finden wirkliche „Vermittlungsgespräche“ fast gar nicht statt. Was ich erlebe, sind Menschen, die vor jedem Termin im Jobcenter eine Heidenangst haben, weil sie vor allem Druck zu spüren bekommen. Die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit hat sich auch nach offiziellen Statistiken vor und nach Hartz IV nicht signifikant verkürzt. Nur das Armutsrisiko ist auf über 50 Prozent massiv angestiegen.
De facto wurde durch Hartz IV die Billiglohnarbeit und ein System der Zwangsarbeit gefördert. Die ALG-II-Empfänger sind durch die Androhung von Sanktionen gezwungen, jede schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen. Und Arbeitgeber brauchen nicht mal ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie miserable Löhne zahlen, weil sie ja wissen, dass die Menschen ergänzende Leistungen vom Jobcenter beziehen.
Thilo Sarrazin hat in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ behauptet, man könne von dem ausgezahlten Regelsatz sehr gut leben. Würdest du diese Aussage unterstützen?
Thilo Sarrazin würde wohl kaum einen Monat mit dem Regelsatz auskommen. Sicher sind 391 Euro zu viel zum Verhungern, aber für eine gesunde Ernährung sind 4,60 Euro pro Tag für einen Erwachsenen und 3,40 Euro für 14- bis 17-jährige Jugendliche einfach zu wenig. Es sind so viele Lebenskosten nicht im Regelsatz enthalten, die für eine gleichberechtigte Teilhabe nötig sind. Bei Familien erlebe ich, dass es den Eltern vor allem wichtig ist, dass ihre Kinder sich nicht ausgeschlossen fühlen. Natürlich wird das wenige Geld dann eben dafür ausgegeben. Zum Sparen für eine neue Waschmaschine oder für Biogemüse bleibt da nichts mehr. In den Urlaub sind die meisten schon jahrelang nicht mehr gefahren. Übrigens sind im Regelsatz gerade mal 1,50 Euro pro Monat für Bildung vorgesehen. Die würde Herr Sarrazin vielleicht für eine BILD-Zeitung ausgeben. Was dann auch seine ignorante Haltung etwas erklären könnte.
Viele Hartz-IV-Empfänger klagen über Repressionen durch die Ämter. Kannst du das bestätigen?
Ja. Zu mir kamen schon Leute, die Strafanzeigen von der Staatsanwaltschaft erhalten haben, weil sie sieben Euro Zinsen nicht angegeben hatten oder die Betriebskostenabrechnung verspätet eingereicht haben. Das Prinzip lautet nicht fördern und fordern, sondern sparen und einschüchtern.
Besonders schwierig finde ich es, die Betroffenen zum Kampf um ihre bescheidenen Rechte zu ermutigen. Erstens kennen viele ihre Ansprüche nicht. Und wenn doch, will kaum jemand Ärger mit dem Jobcenter. Viele verzichten auf Widersprüche und Klagen, weil sie sich vor dem nervlichen Stress scheuen und weitere Repressalien fürchten.
Was sollte deiner Meinung nach in Bezug auf Hartz IV geschehen?
Hartz IV ist Armut per Gesetz und sollte abgeschafft werden. Arbeitslosigkeit wird nicht bekämpft, indem die Arbeitslosen bekämpft werden, sondern indem die Arbeit gerecht verteilt wird. Unsere Gesellschaft ist so reich und die Produktivität ist so hoch, dass es ohne Probleme möglich wäre, die wöchentliche Arbeitszeit auf 30 Stunden zu reduzieren und alle Löhne auf ein lebenswertes Niveau anzuheben. Das würde Arbeit, Geld und Freizeit für alle bedeuten. Einrichtungen wie Jobcenter wären endlich so gut wie überflüssig. n
Dorit Wallenburger ist Vorsitzende der ver.di-Betriebsgruppe im Krankenhaus Dresden-Neustadt. Diese Angabe zur Funktion dient nur zur Kenntlichmachung der Person