Koalitionsvertrag und Gewerkschaften
Der Druck für einen gesetzlichen Mindestlohn und Änderungen bei der Rentenregelung war groß, nicht zuletzt auch wegen der großangelegten Kampagne der LINKEN und der offensiven Forderung nach 10 Euro Mindestlohn als ersten Schritt zu 12 Euro. Seit zehn Jahren führten die DGB-Gewerkschaften ihre Kampagne für die Einführung eines Mindestlohns von erst 7,50 Euro und dann für 8,50 Euro pro Stunde. Die Unternehmer haben kein Interesse daran, die Lage der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern. Es liegt ihnen jedoch daran, die Gewerkschaften ins Boot zu holen, um größeren Unmut zu besänftigen und breite gewerkschaftliche Gegenwehr zu verhindern.
von Alexandra Arnsburg, Mitglied im verdi-Landesbezirksvorstand Berlin-Brandenburg*
*Funktion dient lediglich zur Kenntlichmachung der Person
Um den Mindestlohn noch hinauszuzögern, wesentliche Verbesserungen bei der Rente zu verhindern und Gewerkschafter an die Kette zu legen, sind sie gerne bereit, den Gewerkschaftsvorständen ein paar Zuckerstückchen hinzuwerfen wie die Absicht, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Tarifverträge zu erleichtern. Statt der SPD die Gefolgschaft zu kündigen, investiert der DGB massiv jedes Jahr vor der Wahl in eine Kampagne für die SPD. Es soll vermittelt werden, die SPD sei immer noch sozialer als CDU oder FDP und würde Arbeitnehmerinteressen vertreten. Nötig ist dagegen, sich darauf vorzubereiten, dass selbst Zugeständnisse aus dem Koalitionsvertrag nicht umgesetzt oder Verschlechterungen eingebaut werden. Mobilisierungen gegen diese Regierung können schnell notwendig werden, insbesondere wenn die Folgen einer weiteren Krise auf die Beschäftigten abgewälzt werden sollen.
Was wurde im Koalitionsvertrag „erreicht“?
In der Stellungnahme des DGB zum Koalitionsvertrag heißt es u.a.: „Gute Stimmung müsste auch unter den heute Noch-Arbeitslosen und sozial Ausgegrenzten Einzug halten. Sie sollten die Zuversicht gewinnen, wieder dazu zu gehören. Es gibt sie, die Reformen, die nicht nur so heißen, sondern tatsächlich das Arbeiten und Leben der Menschen verbessern.“ Wenig später verweist das Papier auf die Lockerung des Kündigungsschutzes, wo die Probezeit auf zwei Jahre ausgeweitet werden kann. Gute Stimmung? Hier kann nur von guter Miene zu bösem Spiel die Rede sein.
Mindestlohn
Nun zum großen „Erfolg der Gewerkschaften“ (DGB-Chef Sommer) im Einzelnen. Zunächst bedeutet ein Mindestlohn von 8,50 Euro ab 2015 eine reale Lohnsteigerung für eine beträchtliche Anzahl von Beschäftigten. Eine Schonfrist von zwei Jahren für Tariflöhne führte jedoch zu einem rasanten Anstieg von Tarifabschlüssen unter 8,50 Euro im letzten Jahr wie beispielsweise in der Fleischindustrie. Hier wird der Mindestlohn erst ab 2017 wirksam.
Steile Preisanstiege bei Grundnahrungsmitteln, Strom und Mieten sind vor allem für Geringverdienende schmerzhaft. Verschiedene Berechnungen zeigen, dass 8,50 Euro pro Stunde schon heute nicht mehr reichen. Wenn ver.di-Chef Bsirkse nun eine schnelle Erhöhung auf 10 Euro fordert, ist das ein erster Schritt in die richtige Richtung. In allen Gewerkschaften muss diskutiert werden, welche Höhe des Mindestlohns angemessen ist, um allen ein würdiges Leben zu ermöglichen. DIE LINKE hatte im Wahlprogramm die Forderung nach einem Mindestlohn von 10 Euro als ersten Schritt zu 12 Euro. Angesichts der Preisanstiege sollte DIE LINKE nun offensiv die 12 Euro in die Debatte bringen, um den Druck für eine Erhöhung des Mindestlohns zu verstärken. Auch die in der Koalition diskutierten Ausnahmen wie StudentInnen, RenterInnen und MinijobberInnen dürfen nicht hingenommen werden. Die Gewerkschaften müssten sich jetzt offensiv für einen höheren Mindestlohn ohne Ausnahmen ab sofort einsetzen – dafür wird es nicht reichen, sich ins „Gesetzgebungsverfahren einzubringen“, sondern es muss mit gewerkschaftlichen Mobilisierungen und Kampfmaßnahmen Druck gemacht werden. Die Einführung des Mindestlohn durch die Große Koalition, wenn auch ab 2015, ist ein Zeichen dafür, dass die Herrschenden wissen, dass es unter der Oberfläche brodelt und der Unmut groß ist. Was wäre erst möglich, wenn die Gewerkschaften, mit Unterstützung der LINKEN und sozialen Bewegungen eine Kampagne starten würde, die auch die Mobilisierung aus Betrieben und auf der Straße einschließt!
„Rente ab 63“?
ver.di-Chef Frank Bsirske lobte in einem Interview, dass die Möglichkeit, mit 63 Jahren bei 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in Rente gehen zu können, für viele Arbeitnehmer praktisch den Verzicht auf die Rente mit 67 bedeute. Doch wer schafft es schon, 45 abschlagsfreie Jahre zu sammeln, wonach mehrere Jahre für die Ausbildungssuche und Zeiten in ALG II draufgehen? Jahre in Arbeitslosigkeit (ALG I) sollen nicht voll angerechnet werden. Wer länger zur Schule gegangen ist, praktische Jahre, Zivildienst oder ähnliches hatte, kann es auch nicht schaffen. Wer sind die vielen Arbeitnehmer, von denen Bsirske spricht? Mit 63 dürfen lediglich die Jahrgänge 1950-52 in Rente gehen. Das sind alle Arbeitnehmer im Alter von 61 bis 63 Jahren, also etwas über 3 Prozent. Alle jüngeren müssen mehrere Monate draufzahlen. Für alle ab Jahrgang 1964 wird die Regelrente mit 67 Jahren festgeschrieben (bzw. Möglichkeit der abschlagsfreien Rente bei 45 Beitragsjahren ab 65). Auch der teilweise Ausgleich für Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, mit monatlich 28,14 Euro brutto im Westen und 25,74 Euro brutto im Osten pro Kind bei beitragsfreier Erziehungszeit, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Zur Zeit erreichen nur 0,5 Prozent der Frauen die notwendigen 45 Beitragsjahre. Die Änderungen werden die Altersarmut besonders von Frauen nicht beheben. Skandalös ist insgesamt die weitere Ungleichbehandlung zwischen Ost und West.
Bei der drastisch zunehmenden Arbeitshetze und dem massiven Anstieg beruflich bedingter Erkrankungen – besonders psychischer – könnte man die Rente auch früher ermöglichen und nur wenige würden sie erreichen. In vielen größeren Betrieben gehen jährlich Tausende bereits mit anderen Regelungen ab 55 Jahre in den Ruhestand und nehmen dafür große finanzielle Einbußen in Kauf. Das Durchschnittsrentenalter lag 2012 bei 61 Jahren. Arbeitgeberverbände wettern gegen die jetzigen Vorhaben der Regierung. Die CDU diskutiert bereits Änderungen an der Gesetzesvorlage. Statt die jetzigen Pläne der Großen Koalition zu begrüßen, sollte der DGB eine reale Kampagne für die wirkliche Rücknahme der Rente ab 67, eine weitergehende Absenkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre und ein menschenwürdiges Auskommen im Alter führen.
Leiharbeit
Die Begrenzung von Leiharbeit auf 18 Monate ist kein großer Schritt. Leiharbeit gehört abgeschafft. Bis zu 9 Monaten dürfen Unternehmen LeiharbeiterInnen weniger zahlen als den übrigen. Schon jetzt ist die durchschnittliche Beschäftigungszeit von LeiharbeitnehmerInnen 3 Monate. In der Praxis wird es kaum zu einer gleichen Bezahlung führen, sondern dazu, dass auch bei den übrigen die Beschäftigungszeiten verringert werden. Auch, wenn der DGB die Leiharbeit generell kritisiert, werden die Maßnahmen begrüßt und sie als positive Pläne der Großen Koalition dargestellt. Dabei ist schon jetzt klar, dass es kein wirksames Vorgehen gegen Werkverträge und Leiharbeit durch diese Regierung geben wird. Stattdessen wird diese Form der Beschäftigung weiter als Instrument eingesetzt werden, Belegschaften zu spalten, Löhne zu drücken und um Beschäftigte leichter heuern und feuern zu können.
Ausbildung
Mit dem Koalitionsvertrag steht eine Neuauflage des Bündnisses für Ausbildung (auch Ausbildungskonsens von 1998), nun Allianz genannt, im Raum. Ergebnis des letzten Versuchs war hauptsächlich, Jugendliche in schlechte Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse zu zwingen und so die Arbeitslosenstatistik zu bereinigen. Sollen Auszubildene noch geringere Löhne, längere Arbeitszeiten, Absenkung der Ausbildungsqualität in Kauf nehmen, um irgendeinen Ausbildungsplatz zu ergattern oder werden die Kosten für Ausbildung noch mehr auf den Staat abgewälzt, wohingegen die erarbeiteten Profite bei den Unternehmen bleiben?
Tarifeinheit
Die Koalition will die „Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip“ gesetzlich festschreiben. Das bedeutet, dass nur noch die Gewerkschaft, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat, Arbeitskämpfe führen kann. Wenn sie einen Tarifvertrag unterschreibt, gilt auch für andere Gewerkschaften Friedenspflicht. Nicht umsonst klatscht Arbeitgeberpräsident Kramer Beifall und fordert die rasche Umsetzung. Skandalös ist dabei die Haltung von DGB-Chef Sommer, der das Vorhaben der Koalition mitträgt. Daniel Behruzi warnt in der „jungen Welt“: „Diese Einschränkung des Streikrechts würde letztlich alle Gewerkschaften treffen – auch die DGB-Organisationen. Und das nicht nur, weil sich beispielsweise ver.di in so manchem Verlag oder Krankenhaus in der Minderheitenrolle wiederfinden könnte. Mit einem solchen Gesetz würde ein Tabu gebrochen. Die Begrenzung von Streiks im Verkehrs- und Transportwesen oder in anderen für die Kapitalvermehrung sensiblen Bereichen würde bald folgen. Die DGB-Gewerkschaften sollten daher gemeinsam mit GDL, Marburger Bund und Co. alles daran setzen, diese Koalitionsvereinbarung zu kippen. In ihrem eigenen Interesse“ (http://www.jungewelt.de/2013/11-19/033.php).
In der Stellungnahme des „Netzwerks für eine kämpferische und demokratische verdi“ heißt es: „Der Kampf um die Einheit der Beschäftigten muss politisch geführt werden. Es darf nicht sein, dass die Gewerkschaften sich selbst noch dafür einsetzen, dass der Gesetzgeber von oben eine solche „Einheit“ verordnet. Es ist nicht im Interesse der Beschäftigten, wenn durch gesetzliche Regelungen die Wahlfreiheit, in welcher gewerkschaftlichen Organisation man sich für Arbeitnehmerinteressen einsetzen will, beschnitten wird“ (http://www.netzwerk-verdi.de).
Fazit
Anstatt die Große Koalition zu begrüßen, sollten die Gewerkschaften den Koalitionsvertrag kritisch bilanzieren und sich auf kommende Auseinandersetzungen vorbereiten. Der Koalitionsvertrag ist eine Absichtserklärung. Die wenigen Verbesserungen, die aus dem Koalitionsvertrag entstehen könnten, sind noch lange nicht umgesetzt. Einige Vorhaben bedeuten eine Festschreibung der bisherigen Politik, andere sogar einschneidende Verschlechterungen. Wir sollten uns innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften dafür einsetzen, dass endlich mit der SPD gebrochen wird und Kämpfe für unsere Interessen initiiert werden – zum Beispiel eine Kampagne für einen wirklichen Mindestlohn, von dem man leben kann, eine echte Verringerung des Renteneintrittsalters und die Verteidigung des Streikrechts. Die Gewerkschaften sollten dafür eintreten, dass eine neue massenhafte politische Interessenvertretung für Lohnabhängige, Erwerbslose und Jugendliche aufgebaut wird, wofür die LINKE ein erster wichtiger Ansatz ist. Echte Verbesserungen werden uns nicht geschenkt. Wir müssen sie erkämpfen.