Ukraine: Lage spitzt sich weiter zu

Foto: http://www.flickr.com/photos/77370451@N02/ CC BY-NC-SA 2.0
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Nach Wochen voller gewalttätiger Auseinandersetzungen intervenieren mächtige Oligarchen

In Kiew geht das brutale Patt zwischen den Protestierenden und der Polizei weiter und die Unruhe dehnt sich auf mehr als ein Dutzend regionale Zentren in anderen Teilen der Ukraine aus. Während der letzten Woche haben die Massen Verwaltungsgebäude in Lemberg, Luzk und anderen Teilen im Westen des Landes gestürmt und besetzt. Die Proteste haben sich sogar auf den Osten und Süden ausgedehnt, beides sind traditionell russisch-sprachige Hochburgen von Präsident Viktor Janukowitschs „Partei der Regionen“.

von Niall Mulholland, Mitglied des Internationalen Sekretariats des „Komitees für eine Arbeiterinternationale“ (CWI)

Durch diese Entwicklungen alarmiert war Janukowitsch am 28. Januar zu neuen Konzessionen an Anführer der politischen Opposition gezwungen. Er entließ seinen als Hardliner bekannten Premierminister Mykola Asarow sowie die Regierung. Der Präsident versprach außerdem die Rücknahme der drakonischen Gesetze, die Proteste kriminalisieren und die Redefreiheit beschneiden.

Vor dem Hintergrund, dass sich Janukowitschs Regime auf den Abgrund zu bewegt und dass Pro-Regierungsdemonstrationen in Donezk, der Krim und anderen Teilen des Westens und Südens des Landes stattfinden, was die Gefahr einer Entwicklung in Richtung Bürgerkrieg weiter erhöht, haben einflussreiche Oligarchen letztes Wochenende öffentlich als „Vermittler“ interveniert.

Der reichste Mann der Ukraine, Rinat Achmetow, hat am 27. Januar eine Stellungnahme veröffentlicht, in der er zum „Ende des Einsatzes von Gewalt“ und für „friedliche Aktionen“ aufruft, um die Krise zu beenden. Das Schicksal von Achmetow und Janukowtisch ist eng mit einander verbunden, da Achmetow seine Milliarden gemacht hat, als Janukowitsch an die Macht kam. Aber wie die Zeitung „Guardian“ berichtet, die einen politischen Analysten der Ukraine zitiert: „Die Oligarchen sichern sich gute Beziehungen zur Opposition als Versicherung – es ist wie eine Investition in die Zukunft.“ Pflichtbewusst hat der Oppositionspolitiker Klitschko Achmetows Stellungnahme begrüßt.

Es ist noch offen, ob Janukowitsch genug Konzessionen machen kann, um die Oppositionsführer, die Protestierenden und die Oligarchen zufrieden zu stellen, oder ob Janukowitsch versucht, Vertreter der Opposition in eine neue Regierung einzubeziehen.

Der ehemalige Schwergewichtsboxer und heutige Oppositionsführer Vitali Klitschko sowie ein anderer Oppositionspolitiker, Arsenij Jazenjuk, der in Verbindung steht mit der „Allukrainischen Vaterlandspartei“ der ehemaligen Premierministerin Julija Timoschenko (zur Zeit im Gefängnis) haben sich beide gestern geweigert, dem Kabinett beizutreten. Sie erklärten, sie würden die Proteste nicht beenden, bevor nicht mehr Forderungen erfüllt wären.

Die Hauptforderungen der Protestierenden am Unabhängigkeitsplatz, im Zentrum Kiews, sind der Rücktritt Janukowitschs und sofortige Neuwahlen. Dagegen wird sich Janukowitsch wahrscheinlich wehren, auch aus Angst, dass das neue Regime seine Gefangennahme anordnen würde, so wie es ihm im Fall Timoschenko vorgeworfen wird.

Gleichzeitig werden Janukowitschs Zugeständnisse innerhalb der eigenen Partei scharf kritisiert. „Das wird zu eine zusätzlichen Destabilisierung im Land führen“, warnte Oleg Tsariov, ein Führer der herrschenden Partei der Regionen.

Bemüht, ihren Vorteil zu nutzen, verlangen oppositionelle Politiker, mit Unterstützung des Westens, Neuwahlen und eine neue Verfassung. Ihre Ziele sind nicht im Interesse der arbeitenden Menschen in der Ukraine. Sie wollen die Entstehung eines neuen pro-westlichen Regimes, das die Interessen der Superreichen schützt, zum Beispiel indem der Masse der UkrainerInnen Sparprogramme aufgezwungen werden.

Der Deal mit der EU scheitert

Die Proteste begannen im November letzten Jahres, nachdem Janukowitsch ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU abwies, welches als Schwenk der Ukraine zu einer eventuellen EU-Mitgliedschaft gesehen wurde. Die Ukraine, die 15 Milliarden Dollar Schulden hat, sah sich mit dem Staatsbankrott konfrontiert. Jedoch hätte ein Abkommen mit der Europäischen Union, mit Unterstützung des IWF, eine tiefgreifende Kürzungswelle mit sich gebracht. Da die Ukraine bereits das ärmste Land Europas war, befürchtete Janukowitsch, dass neue Sparmaßnahmen, inklusive Kürzungen bei Energiesubventionen und im Sozialbereich, zu einer Explosion von Protesten von ArbeiterInnen geführt hätte. Stattdessen schmiedete Janukowitsch ein neues Abkommen mit dem Putin-Regime in Russland. Präsident Putin bot Kredite im Umfang von 15 Milliarden Dollar und reduzierte Energiepreise an.

Genauso wie die westlichen Mächte agiert das Putin-Regime nicht im Interesse arbeitenden Menschen in der Ukraine. Während er die EU beim gestrigen Treffen mit führenden EU-Vertretern davor warnte, sich in ukrainische Angelegenheiten einzumischen, verlautbarte der russische Präsident, dass er von der Ukraine erwartet, „strukturelle Veränderungen“ (das heißt Einsparungen) zu sehen, um sicherzugehen, dass die 15 Milliarden Kredite an Moskau zurückgezahlt werden.

Der Deal zwischen Janukowitsch und Putin bedeutete einen Schlag ins Gesicht für die USA und EU, die anstreben, ihren Einfluss in der Ukraine, auf Russlands Kosten, zu erweitern. Das verstärkte den internationalen Machtkampf um den Einfluss in der Ukraine, die ein wichtiges geostrategisches Territorium ist. Zwei bedeutende Erdgasleitungen verlaufen aus Russland durch die Ukraine nach Europa; zusätzlich befinden sich in dem Land russische Marinebasen. Putin macht deswegen Druck: Die Ukraine soll der Zollunion, die Russland bereits mit Weißrussland und Kasachstan gebildet hat und die als ein Vorläufer für eine „Eurasische Union“ dienen soll, beitreten. Der Kreml sieht das als einen wichtigen Schritt, um seine regionale Macht zu sichern und den imperialistischen Einflüssen des Westens entgegenzuwirken.

In den zwei Monaten der Proteste, als viele auf die Straße gingen, waren die Hauptforderungen das Ende von Janukowitschs autoritärer Regierung und der Wirtschaftskrise. Da keine unabhängige Arbeiterpartei existiert, sehen viele, vor allem im Westen der Ukraine, eine EU-Mitgliedschaft als einen Ausweg an. Dabei wird die wirtschaftliche und soziale Misere, die die Gesetze der EU und des IWF nach Griechenland, Portugal, Spanien und anderen Länder gebracht haben, oft außer Acht gelassen. Die Brutalität der „Berkut“ (Bereitschaftspolizei), die allein letzte Woche für den Tod von fünf Protestierenden verantwortlich ist, und die Videoaufnahmen von Folter und Erniedrigungen von bei den Protesten verhafteten, aber auch die geplanten Anti-Protest-Gesetze des Regimes brachten immer neue Teile der Bevölkerung dazu, sich dem Protest anzuschließen.

Reaktionäre pro-kapitalistische Oppositionsführung

Ohne organisierte Alternative der Arbeiterklasse waren die Proteste auf der Straße von Anfang an dominiert von reaktionären pro-kapitalistischen Oppositionsfiguren wie Klitschko, die vom Westen unterstützt werden. Die Proteste wurden auch stark von der extremen Rechten, inklusive neofaschistischer Gruppen, beeinflusst. Die antisemitische Svoboda-Partei und der „Rechte Sektor“ haben bei den Unruhen auf der Straße und den Besetzungen von Regierungsgebäuden in Kiew und anderswo die Fäden gezogen.

Seit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion 1991 und dem Entstehen einer unabhängigen Ukraine hat die Arbeiterklasse hart für das Fehlen von eigenständigen Arbeiterorganisationen bezahlen müssen. Die Wiedereinführung des Kapitalismus hat den Lebensstandard der Arbeiterklasse massiv gesenkt, während eine kleine Minderheit sich des Staatsbesitzes bemächtigt hat und extrem reich geworden ist. Heute besitzen eine Handvoll Oligarchen den Großteil der ukrainischen Wirtschaft.

Die Orange Revolution von 2004 hat eine Entladung der Wut der Massen gegen die autoritäre Herrschaft von Janukowitsch und gegen die wirtschaftliche Stagnation gesehen. Diese Bewegung war allerdings von Politikern wie Timoschenko oder Juschtschenko sicher auf pro-westlich kapitalistischer Linie gehalten worden. Janukowitsch war damals zum Rücktritt gezwungen worden, aber es gab keine wirkliche Verbesserung der Lebensstandards oder bei den demokratischen Rechten der Massen unter der Herrschaft seiner Nachfolger Juschtschenko und Timoschenko. Aufgrund der Desillusionierung der Massen konnte Janukowitsch in der Folge als Präsident wiederkehren.

Die Politiker sind diskreditiert

Alle diese Politiker sind in den Augen der meisten ArbeiterInnen und Jugendlichen diskreditiert. Dasselbe wird mit Klitschko und den anderen reaktionären Oppositionsführern passieren. Was auch immer die Differenzen zu den Pro-EU-Politikern und dem Janukowitsch-Regime sein mögen, sie sind feindlich gegenüber den Interessen der Arbeiterklasse und werden sicherstellen, dass ArbeiterInnen einmal mehr für die tiefe Krise der ukrainischen Wirtschaft zahlen müssen.

Die wichtigste Lehrer für ArbeiterInnen von diesen Ereignissen ist, dass – egal welchen ethnischen Hintergrund sie haben – sie ihre eigene politische Stimme finden müssen. Eine Schlüsselaufgabe ist der Aufbau von unabhängigen Gewerkschaften und einer geeinten Massenarbeiterpartei, die sich gegen Janukowitschs Regime, die reaktionäre Oppositionsführung und ihre internationalen kapitalistischen Verbündeten stellt.

Das bedeutet einen Kampf für demokratische Rechte, aber vor allem für eine grundlegende soziale und wirtschaftliche Veränderung. Es bedeutet, sich im Kampf für Jobs, höhere Löhne, leistbare Wohnungen und Sozialleistungen, ein funktionierendes Gesundheits- und Bildungssystem an die Spitze zu stellen. Es bedeutet, dass die organisierte Arbeiterbewegung die Vorhut des Kampfes für demokratische Rechte und soziale Veränderung bildet und die Methoden des Klassenkampfs anwendet, inklusive Massenmobilisierungen, Streiks und Generalstreiks, demokratisch organisiert durch Arbeiterkomitees. Eine mächtige Arbeiterbewegung könnte die extreme Rechte und die Faschisten von den Straßen verdrängen und eine sozialistische Alternative nach vorne stellen. Diese könnte jene Menschen ansprechen, die von den giftigen Ideen der extremen Rechten angezogen werden. Solch eine Bewegung könnte auch einen Appell auf Klassenbasis an die Basis der Polizei machen, um die Kräfte des Staatsapparats zu neutralisieren.

Anstatt der Rada (das ukrainische Parlament), die voll reaktionärer, korrupter Politiker ist, die von den Oligarchen kontrolliert werden, würde die organisierte Arbeiterbewegung die Bildung einer wirklich repräsentativen konstituierenden Versammlung fordern und für eine Arbeiterregierung der Mehrheit der Bevölkerung kämpfen. Mit sozialistischen Maßnahmen würde eine Arbeiterregierung die enorm reichen und parasitären Oligarchen enteignen und die Hauptsektoren der Wirtschaft in öffentliches Eigentum übernehmen und diese demokratisch von und für die Arbeiterklasse planen.