Koalition, Tolerierung, Opposition?

Zur aktuellen Regierungsdebatte in der LINKEN

Der Wahlkampf hat begonnen. Seit ein paar Tagen sind viele Mitglieder der LINKEn unermüdlich im Einsatz, um ein möglichst starkes Ergebnis der LINKEN im Wahlkampf zu erreichen. Plakate mit deutlichen Aussagen wie „Genug gelabert! 10 Euro Mindestlohn jetzt!“ hängen neben den üblichen leeren Versprechen der SPD und Grünen. Auf einem Grünenplakat zum gleichen Thema darf man lesen „Faire Löhne – Mindestens“. Auf einem anderen Plakat fordert DIE LINKE klar: „1050 Euro Mindestrente – sofort!“ Wenn die SPD den Slogan „Das wir entscheidet“ plakatiert und vor Altersarmut warnt, fragt man sich doch, warum ihr das nicht in den zehn Jahren eingefallen ist, als sie an der Bundesregierung war. Stattdessen hat sie der Rente mit 67 zugestimmt.

Zeitgleich zum Start der heißen Wahlkampfphasen hat Gregor Gysi die Debatte über Rot-Rot-Grün neu befeuert. Gysi hofft im ZDF-Sommerinterview auf ein Koalitionsangebot von SPD und Grünen an die LINKE und ist dafür bereit, die Haltelinien des Erfurters Programms abzusenken. Doch wie kann die Partei ihre Ziele am besten umsetzen? Stärkt oder schwächt der Vorschlag von Gysi die Partei?

von Heidrun Dittrich, Mitglied des Bundestags für DIE LINKE, Heino Berg, Göttingen und Lucy Redler, Berlin

DIE LINKE ist die Partei der Alleinstellungsmerkmale: Sie ist die einzige Partei mit einem antikapitalistischen Programm und einem sozialistischen Anspruch. Dadurch unterscheidet sie sich von allen anderen Parteien, die das kapitalistische System unterstützen und deshalb auch bereit sind, brutale Sparpakete umzusetzen. Sie ist die einzige Partei, die alle Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnt. Nur sie sagt immer wieder Nein zur Knebelung und Auspressung der Menschen in Südeuropa durch sogenannte Rettungspakete.

Während viele Mitglieder der Partei an Infotischen versuchen, Menschen zu überzeugen, warum DIE LINKE im Gegensatz zu SPD und Grüne für Gerechtigkeit und gegen Sozialabbau steht, umwarb Spitzenkandidat Gregor Gysi im Sommer-Interview mit dem ZDF nun die SPD. Sie müsse wieder sozialdemokratisch werden. Wenn die SPD ein Angebot für Rot-Rot-Grün mache, „dann müssten wir sehr inhaltliche Gespräche führen, da müsste man sehen, was alles zusammen geht.“ (http://www.heute.de/Gysi-Sehen-was-alles-zusammen-geht-29028272.html)

Gysi setzt sich über Beschlüsse hinweg

Als zentralen Punkt, was nicht gehe, nennt er lediglich Kampfeinsätze der Bundeswehr. Bisherige rote Linien der LINKEN für Koalitionen (keine Privatisierung, kein Stellenabbau) werden von ihm fallen gelassen. Damit setzt er sich über Beschlüsse der Partei hinweg. Die Formulierung „Kampfeinsätze“ macht deutlich, dass Gysi der Meinung ist, dass man Auslandseinsätzen der Bundeswehr in einer rot-rot-grünen Koalition zustimmen könnte. Weitergehende Forderungen wie die Auflösung der NATO seien derzeit Gysi zufolge sowieso nicht umsetzbar: „Wir sind ja auch Realisten. Man muss ja auch ein bisschen träumen“.

In einem Interview mit dem Tagesspiegel am 13.08. sagt er sogar, dass DIE LINKE, wenn es darauf ankäme, in Bezug auf Regierungsbeteiligungen „diszplinierter“ wäre „als die SPD“. Das hört sich danach an, als solle DIE LINKE mal eben eine Reihe von Kröten schlucken, um an die Regierung zu kommen.

Bernd Riexinger rechnet nach der Wahl ebenfalls mit einer Mehrheit „links von der Mitte“ und meint, es liege allein an Rot-Grün, dass diese nicht umgesetzt werde. Bernd Riexinger sagte gegenüber dem Neuen Deutschland vom 29.07.: „Grüne und SPD müssen die Frage beantworten, wie sie ein linkes Wahlprogramm ohne die Linke umsetzen wollen. Das ist schlichtweg unmöglich.“

Im deutlichen Gegensatz zu Gysi bezieht sich Bernd Riexinger auf die im Wahlprogramm formulierten Bedingungen der LINKEN für eine Koalition. Trotzdem bleibt es unverständlich, warum er davon ausgeht, dass SPD und Grüne ein linkes Wahlprogramm umsetzen wollen, da doch beide Parteien für Agenda 2010, Hartz IV und Kriegseinsätze stehen. Ähnlich wie Bernd Riexinger hatte sich die hessische Spitzenkandidatin Janine Wissler zur Landtagswahl am 29.07. in der FAZ geäußert: „An uns wird es nicht scheitern. Wir wollen mitregieren, wenn die Bedingungen stimmen.“

Natürlich sollten auch LINKE-Mitglieder Verständnis dafür haben, dass einige Menschen noch hoffen, dass SPD und Grüne im Vergleich zur CDU das kleinere Übel sind. Aufgabe der LINKEN ist jedoch zu erklären, dass der Grund für die Kürzungspolitik von SPD und Grüne in der Vergangenheit und Gegenwart die Tatsache ist, dass sie Parteien sind, die den Kapitalismus beibehalten wollen und die Profitlogik nicht in Frage stellen.

Nicht überraschend hat die SPD daher die Offerten auf Bundesebene klar zurück gewiesen. Nichts an ihrer Politik im Bund oder in Hessen hinterlässt den Eindruck, sie würde eine 180-Grad-Wende vollziehen. Welchen Schluss sollte DIE LINKE daraus ziehen?

Für die Unterstützung jeder Verbesserung im Einzelfall

Um möglichst viele Menschen vom Programm der LINKEN zu überzeugen – sowohl NichtwählerInnen als auch AnhängerInnen von SPD und Grüne – sollte DIE LINKE einen eigenständigen, bewegungsorientierten und kämpferischen Wahlkampf führen und sich in Stadtteilen stärker verankern. Ihre KandidatInnen und Mitglieder sollten an Infotischen erklären, dass wirkliche Verbesserungen nur erkämpft werden können, wenn gesellschaftlicher Druck in Betrieben, Schulen, Unis und Stadtteilen entsteht. Durch Druck von unten kann verhindert werden, dass das Rentenalter weiter heraufgesetzt wird. Indem DIE LINKE darüber aufklärt, dass es gerade SPD und Grüne waren, die dazu beigetragen haben, dass es in Deutschland heute immer mehr Altersarmut und arbeitende Arme gibt. Die Äußerungen von Gysi sind ein Fehler, weil sie die Illusion schüren, dass SPD und Grüne sich ändern würden. Das Gegenteil ist der Fall. Vor jeder Wahl blinken diese Parteien links, um dann rechts abzubiegen. Daran sollte DIE LINKE erinnern.

Das bedeutet aber nicht, dass DIE LINKE sich gegen Verbesserungen stellt, sollten diese von anderen Parteien ins Parlament eingebracht werden. DIE LINKE sollte klar und deutlich sagen, dass sie jeder Verbesserung im Interesse der Lohnabhängigen, Erwerbslosen und RentnerInnen im Parlament zustimmen wird.

Die LINKE in Niedersachsen hat vor den Landtagswahlen im Januar 2013 in ihrem Wahlprogramm auf Antrag von Mitgliedern der AKL und SAV genau diese Einzelfallunterstützung als Alternative zu Koalitionen mit oder Tolerierungen von Rot-Grün beschlossen. Leider wurde dieses Wahlversprechen durch den Landesvorstand auf Druck der Bundesführung ohne Rücksprache mit der Parteibasis über den Haufen geworfen und durch eine Bewerbung als Juniorpartner in einer rot-grünen Regierung ersetzt. Diese Anpassung an SPD und Grüne hat die eigenen Mitglieder frustriert und sicher auch dazu geführt, dass viele sich dachten, dann könnten sie mit SPD oder Grünen auch das Original wählen anstatt der Kopie.

Diese Lehren sollten für den Bundestagswahlkampf ernst genommen werden: Als Koalitions- oder Tolerierungspartner für die rot-grünen Kriegs- und Kürzungsparteien hat die LINKE keine Chance. Sie kann und muss mithelfen, die Regierung Merkel zu stürzen, aber gleichzeitig als antikapitalistische Oppositionspartei ihre vollständige Unabhängigkeit gegenüber ALLEN Parteien der Banken und Konzerne verteidigen! Doch wie kann das aussehen?

Merkel stürzen

Der Sturz der Regierung Merkel, die mit ihrer Austeritätspolitik zur Rettung der Banken ganz Europa in den Ruin treibt, würde die Kräfteverhältnisse in Deutschland und auf dem Kontinent zweifellos zugunsten der Arbeiterklasse verschieben – und zwar unabhängig davon, ob ihre rot-grüne Nachfolgeregierung – ähnlich wie die von Hollande in Frankreich – die Angriffe des Kapitals nun ihrerseits fortzusetzen versucht. In jedem Fall könnten sich diejenigen, die bei den Bundestagswahlen Rot-Grün als vermeintliches „kleineres Übel“ gegenüber Schwarz-Gelb wählen, dann praktisch davon überzeugen, was von den rot-grünen Versprechungen in der Regierungspraxis übrig bleibt. Wenn die LINKE gegen diese Regierung auf Opposition und außerparlamentarische Mobilisierung (auch für die Durchsetzung dieser Versprechungen) setzt, könnte die dann unvermeidlich einsetzende Desillusionierung nicht nur die LINKE, sondern auch den Aufbau von gesellschaftlicher Gegenmacht massiv stärken.

Aus all diesen Gründen darf die LINKE im Bundestag einer Ablösung von Merkel durch einen SPD-Kanzlerkandidaten nicht im Wege stehen. Eine Abwahl einer schwarz-gelben Regierung ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der Unterstützung einer rot-grünen Regierung. Es darf keinen Blankoscheck für gar nichts geben und kein wie auch immer geartetes Tolerierungsabkommen. Das einzige Versprechen, was DIE LINKE an eine rot-grüne Minderheitsregierung machen könnte ist, jeder Verbesserung zuzustimmen und gleichzeitig alle Verschlechterungen schonungslos zu kritisieren und offenzulegen. Sie kann versprechen, in Betrieben, Schulen, Hochschulen und Nachbarschaften den Kampf für die eigene, unabhängige Politik fortzusetzen und eine rot-grüne Minderheitsregierung durch massenhafte Mobilisierung von abhängig Beschäftigten, Erwerbslosen und Jugendlichen unter größtmöglichen Druck zu setzen.

Wann soll DIE LINKE sich an der Regierung beteiligen?

Die LINKE hat den Anspruch, eine sozialistische Partei zu sein und kann deshalb nur mit PartnerInnen regieren, welche das kapitalistische System überwinden wollen und sich dabei auf Massenmobilisierungen der arbeitenden und erwerbslosen Menschen stützen. Das ist keine abstrakte Frage, sondern beispielsweise heute in Griechenland sehr aktuell, sollte SYRIZA die Mehrheit bei den nächsten Wahlen erreichen. Entweder wird sich SYRIZA auf Massenmobilisierungen stützen und den Bruch mit dem Kapitalismus eingehen müssen oder sich den kapitalistischen Parteien anpassen. Wenn Privatisierungen, Sozialkürzungen und Armut in Griechenland beendet werden sollen, müssen die Schlüsselindustrien und Banken in öffentliches Eigentum überführt und die kapitalistischen Spielregeln von Profit und Konkurrenz gebrochen werden.

Was bedeutet das in Deutschland? Wir sind für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft. Dazu ist eine starke sozialistische Massenpartei nötig. Wir sind dafür, dass eine solche Partei an die Regierung kommt und gestützt auf Massenbewegungen mit dem Kapitalismus bricht und für eine umfassende sozialistische Veränderung der Gesellschaft kämpft. DIE LINKE bietet einen ersten Ansatz, eine solche Partei aufzubauen. Doch sie befindet sich heute gesellschaftlich in der Minderheit.

Und bis dahin?

Heißt dass, dass DIE LINKE deshalb nichts verändern kann? Natürlich nicht. Durch die Unterstützung und Initiierung von Kämpfen können Verbesserungen erkämpft werden. Aber so lange wie der Kapitalismus existiert, gibt es auch die Möglichkeit, dass Errungenschaften durch die Herrschenden rückgängig gemacht werden. Das wird auch in Deutschland spürbar werden, wenn der ökonomische „Aufschwung“ an sein Ende gelangt.

Aber heißt das, dass DIE LINKE immer eine Statistenrolle einnehmen wird? Nein, denn während sie die Beteiligung an Regierungen mit prokapitalistischen Parteien zurückweisen muss, kann sie dafür streiten, die breitestmögliche antikapitalistische Front von Beschäftigten und Jugendlichen aufzubauen.

Was passiert, wenn sich DIE LINKE an einer prokapitalistischen Regierung beteiligt, wurde in zehn Jahren rot-roter Koalition in Berlin deutlich. Diese Koalition und der erfolgte Sozialabbau haben der Partei massiven Schaden zugefügt.

Stattdessen muss sich DIE LINKE auf die Erfahrungen von Lohnabhängigen und Erwerbslosen mit SPD und Grünen, mit dem kapitalistischen System und vor allem auf die Erfahrung ihrer Kämpfe und Auseinandersetzungen stützen. Wir sollten nicht vergessen, dass die WASG als ein Ergebnis der rot-grünen Kürzungspolitik gegründet wurde und ihr bestes Wahlergebnis bisher nach vier Jahren Großer Koalition erreichte! Die Gefahr besteht, dass Möglichkeiten für die Partei in der Zukunft für Ministerposten geopfert werden.

Vorstoß von Harald Wolf

Zu einem ähnlichen Vorschlag zur Abwahl von Merkel und zu einer Politik der wechselnden Mehrheiten und Einzelfallentscheidung kam überraschend der ehemalige Wirtschaftssenator von Berlin Harald Wolf. Er schrieb am 5. August in einem Beitrag im Magazin Cicero:

„Die Bereitschaft zur Duldung der Minderheitsregierung erfolgt allein aus einem einzigen Grund: Die Linke teilt die Intentionen der großen Mehrheit der rot-grünen WählerInnen nach einer Abwahl von Schwarz-Gelb und nach Reformen wie der Einführung z.B. eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns, einer gerechteren Steuerpolitik, einer solidarischen Bürgerversicherung usw. Die Linke erklärt deshalb ihre Bereitschaft, jeder Reform ihre Unterstützung zu geben, die die Lage der ArbeitnehmerInnen, der Erwerbslosen, der RentnerInnen etc. verbessert, so wie sie andererseits gegen Sozialabbau, Privatisierungen, Rüstungsexporte oder eine Fortsetzung der Troika-Politik im Interesse der Banken stimmen wird. Sprich: Wir schlagen eine Politik der wechselnden Mehrheiten im Parlament vor. Und das ist alles andere als „langweilig“, wie Gregor Gysi in seinem ZDF-Sommerinterview meinte. Denn eine Politik der wechselnde Mehrheiten heißt zum einen, dass die Linke ihre politische Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gegenüber Rot-Grün wahren kann, dass sie z.B. keinem Kompromiss- und Einigungszwang in punkto Eurorettung oder Auslandseinsätzen der Bundeswehr unterliegt. Will die SPD diese Politik fortsetzen, muss sie sich die Mehrheiten dafür bei Union und FDP suchen.“

Es ist zu begrüßen, dass Harald Wolf seine Position von nahezu bedingungsloser Offenheit für Koalitionen fallen lässt und sich auf Positionen der AKL und der SAV zu bewegt. Wenn die Position ernst gemeint ist, müsste Harald Wolf mit einer schonungslosen Bilanz der eigenen rot-roten Regierung von 2002 bis 2011 bereit sein.

Raus auf die Straße

Es ist wichtig, dass DIE LINKE eine eindeutige Position bezieht, die WahlkämpferInnen bei Aktionen und Infotischen vertreten können. Jetzt kommt es vor allem darauf an, den Wahlkampf zu nutzen, um ein gutes Ergebnis bei den Wahlen zu erzielen und Menschen davon zu überzeugen, selbst für ihre Belange aktiv zu werden. Viele Menschen müssen überhaupt für die Idee gewonnen werden, dass DIE LINKE sich von den anderen Parteien unterscheidet und dass wir sie brauchen, um eine kämpferische sozialistische Partei aufzubauen. Deshalb sollten sich ihre Aktionen auch von langweiligen Infotischen der anderen Parteien unterscheiden. Ein gutes Beispiel ist die unermüdliche Unterstützung der LINKEN für die Beschäftigten im Einzelhandel oder auch an der Charité für eine Personalbemessung im Krankenhaus.

Wir rufen dazu auf, DIE LINKE zu wählen, aber auch vor allem, selbst aktiv zu werden, um die Voraussetzung zu schaffen, grundlegende Veränderungen zu erkämpfen.

 

Zum Weiterlesen zur Haltung von Marxisten in Hessen 2008 zur Debatte über Tolerierung und zum Haushalt: