Zunehmende Sorge und wachsende Widersprüche
Von Per-Åke Westerlund, aus: “Offensiv”, der Zeitung der “Rättvisepartiet Socialisterna” (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Schweden)
Der schwerwiegende Abschwung der Jahre 2008-09 hat dazu geführt, dass die Weltwirtschaft zu einem breiten Experimentierfeld geworden ist. Doch weder die extremen Kürzungen noch die Billionen, die den Banken zur Verfügung gestellt worden sind, haben zu einer nachhaltigen Erholung der Lage geführt. Nun wächst unter den PolitikerInnen und ÖkonomInnen die Sorge.
Im Mittelpunkt steht dabei die Entwicklung der Krise in Europa. Anfang 2012 standen sowohl Italien als auch Spanien kurz vor dem Staatsbankrott, womit das gesamte Projekt namens Euro vor dem Zusammenbruch gestanden hätte. Die Angst trieb die führenden EU-PolitikerInnen und -Institutionen dazu, extreme Maßnahmen zu ergreifen.
Die Europäische Zentralbank (EZB) versprach sowohl Staaten als auch Banken „unbegrenzten Zugang” zu Kapitalmitteln. Seitdem hat die EZB den spanischen Banken 360 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und den italienischen noch einmal 260 Milliarden. Ein großer Teil davon wurde eingesetzt, um eigene Staatsanleihen zu kaufen. Die Kluft zwischen den einzelnen Zinsraten (wie viel mehr es für Spanien oder Italien im Gegensatz zu Deutschland kostet, sich Geld zu leihen) ist von sechs bis sieben Prozent auf zwei bis drei Prozent zurückgegangen.
Die Spendierlaune der EZB findet sich auch bei anderen Zentralbanken. Die US-Notenbank „Federal Reserve” hat gerade die vierte Runde ihrer „Quantitativen Lockerung” eingeläutet, was bedeutet, dass die „Fed” jeden Monat US-Staatsanleihen im Wert von 85 Milliarden US-Dollar aufkauft.
Japans neue konservative Regierung hat jetzt eine „quantitative und qualitative” Geldpolitik eingeschlagen, mit einem im Vergleich zur „Fed” doppelten Tempo. In zwei Jahren wird die japanische Zentralbank (Bank of Japan, BoJ), für den Aufkauf von Staatsanleihen, Wertpapieren und Immobilien eine Summe einsetzen, die einem Viertel des Bruttoinlandsproduktes (BIP) des Landes entspricht. Dabei ist Japan immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.
Die Zentralbanken
Doch nun herrscht zunehmend die Sorge, dass das Eingreifen der Zentralbanken keine Lösung ist, sondern die Krise noch weiter zuspitzt. „Einige der führenden Figuren in den Zentralbanken räumen ein, dass sie sich im Blindflug befanden, als sie ihre Volkswirtschaften steuern wollten”, berichtete die „Financial Times” am 18. April vom Frühjahrstreffen des „Internationalen Währungsfonds” (IWF).
Lorenzo Samgh vom Vorstand der EZB sagte: „Wir verstehen nicht in vollem Umfang, was in den entwickelten Volkswirtschaften vor sich geht”. Der Chef der „Bank of England”, Mervyn King, meinte, niemand könne sicher sein, dass die expansive Geldpolitik das richtige Mittel sei. Er frage sich demnach, ob man „Gefahr läuft, die Probleme aufs Neue zu entfachen, die überhaupt erst zur Finanzkrise geführt haben?”.
Für die verwundbarsten Banken und Staaten hat das Eingreifen der Zentralbanken die unmittelbarste Krise durchaus gelindert. Einen Neustart für die einzelnen Volkswirtschaften hat das jedoch nicht bewirkt. In den entwickelten kapitalistischen Ländern liegt die Investitionsrate weiterhin auf einem Rekordtief.
Wozu diese neue Politik allerdings geführt hat, ist die Verschärfung von Konflikten zwischen den Nationalstaaten. Die japanische Währung, der Yen, ist seit letztem Jahr um 25 Prozent im Wert gesunken. Das hat der japanischen Export-Industrie natürlich geholfen – auf Kosten zum Beispiel der deutschen und der südkoreanischen Industrie.
Die Halbjahresberichte des IWF vom April („Global Financial Stability Report“ und „World Economic Outlook”) stellt fest, dass die Vorgehensweisen der Zentralbanken zu „einer breiten Börsen-Rally” (starke Beschleunigung der Marktbewegung; Anm. d. Übers.) geführt aber auch neue Risiken hervorgebracht haben. Das Kapital fließt nun von den reicheren Ländern zurück in die Entwicklungsländer und führt dort zu möglichen Instabilitäten. Ben Bernanke, Chef der US-Notenbank „Fed”, warnte jüngst davor, dass die Spekulationsgeschäfte der Banken noch zunehmen könnten.
IWF
Der IWF ist vor allem darüber in Sorge, was geschehen wird, wenn die Zeit der Lockerung zu Ende geht. In der Geschichte gibt es dafür kein vergleichbares Ereignis, aus dem man Lehren ziehen könnte. „Weitere Verbesserungen machen weitere Reparaturmaßnahmen bei den Geschäftsbilanzen im Finanzsektor und eine gleichmäßige Abwicklung der Schuldenüberhänge sowohl im öffentlichen wie auch im privaten Sektor notwendig. Wenn die Erfüllung dieser mittelfristigen Herausforderungen ins Stocken gerät, dann könnten die Risiken zurückkehren. Die weltweite Finanzkrise könnte sich in eine chronischere Phase verwandeln, die gekennzeichnet ist durch eine Verschlechterung der Finanz-Bedingungen und periodische Anfälle von Finanzinstabilität”, schreibt der IWF. Die Bedingungen, die hier angesprochen werden (Reparaturmaßnahmen bei den Geschäftsbilanzen und Abwicklung der Schuldenüberhänge), haben bisher keine Wirkung gehabt. Das deutet auf eine chronischere Krise hin.
Das zweite Standbein der Krisenbewältigungspolitik, die extremen Kürzungen, hatten schlimmere unmittelbare Folgen. Derzeit sind in der Eurozone 19,2 Millionen Menschen erwerbslos. Sechs Millionen von ihnen leben allein in Spanien. In Griechenland liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 59,1 Prozent. Die „New York Times” berichtete in einem Artikel über griechische Schulkinder, die vor Hunger in Ohnmacht fallen und in den Mülltonnen nach Essbarem suchen.
Der portugiesische Premierminister Pedro Passos Caolho, ein starker Befürworter der berüchtigten Kürzungen der Troika (IWF, EU und EZB), versprach 2011, dass auf „zwei schreckliche Jahre” wieder eine Belebung folgen würde. Doch als Folge der extremen Kürzungspolitik „steht [Portugal 2013] eine noch tiefere und längere Rezession bevor, als die Regierung oder internationale Gläubiger vorausgesehen haben” („Financial Times”).
Im April ging der IWF davon aus, dass die Risiken einer Rezession (das Schrumpfen der Wirtschaft) in der Eurozone bei 50 Prozent liegen. Seitdem warnt EZB-Präsident Draghi davor, dass selbst Frankreich noch tiefer in die Krise gezogen wird. Die EU hat Spanien und Frankreich zwei zusätzliche Jahre zugestanden, um den Vorgaben gerecht zu werden, nach denen die Haushaltsdefizite nicht über drei Prozent des jeweiligen BIP liegen dürfen. Neuen Vorgaben zufolge müssten sie andernfalls Strafzahlungen leisten.
In einer breit angelegten Umfrage unter Kapitalisten und Finanzinvestoren in Europa, die die Ratingagentur „Fitch” durchgeführt hat, gab eine große Mehrheit an, sie glaube, dass die Ruhe in diesem Jahr in Europa nur vorübergehend ist. „Fitch warnt in einer Erklärung davor, dass dieses Jahr [2013] erneut zu einem Sommer werden kann, der – wie schon 2011 und 2012 – von der Eurokrise geprägt ist, weil es einen starken Widerspruch zwischen der momentanen Börsen-Rally, der Rezession in der Eurozone und der steigenden Arbeitslosigkeit gibt” (aus der schwedischen Tageszeitung „Dagens Industri”).
Keine Lösung im Rahmen des Kapitalismus
Keine der kapitalistischen Institutionen hat eine Lösung anzubieten. Viele warnen zwar davor, dass es mit den Kürzungen zu weit gegangen sei, betonen aber weiterhin, dass ausgeglichene Haushalte „mittelfristig” das Ziel bleiben müssen.
Wie schnell sich die zyprische Krise auszubreiten drohte, zeigte, dass die EU-Länder eine große Bankenunion nötig haben, so der IWF-Bericht weiter. Und bevor die „unbegrenzten” Kapitalflüsse der EZB die Krise abmilderten, vertraten führende EU-PolitikerInnen wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel oder der Präsident der Europäischen Kommission, Barrosso, dass die EU eine viel festere Haushaltspolitik und Harmonisierung brauche.
Nationale Interessen und Konflikte lassen aber vor allem deutsche PolitikerInnen zaudern. In ihren Augen besteht das Risiko darin, dass Deutschland dann definitiv zum Bürgen für die Banken Europas werden wird.
Parallel zu den wachsenden Widersprüchen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten ist es auch zu starkem Misstrauen gegenüber der EU selbst gekommen. In Spanien stehen heute 72 Prozent der Befragten der EU kritisch gegenüber. Vor Einsetzen der Krise waren es noch 23 Prozent. In Deutschland verschob sich diese Zahl von 36 auf 59 Prozent.
Die Krise ist als Vorwand genutzt worden, um etliche Reformen wieder rückgängig zu machen. Davon hatten die Kapitalisten immer geträumt. In Italien wurden die Renten abgesenkt, in Spanien ist es nun leichter, ArbeiterInnen zu entlassen, in Griechenland wurden die Löhne um 50 Prozent gekürzt usw. Aktuell verstärken die Kapitalisten den Druck auf den französischen Präsidenten Hollande, damit dieser ähnliche Maßnahmen ergreift. Die Kapitalertragssteuer hat er bereits wieder abgeschafft und versprochen, die Kosten der Arbeitslosenversicherung, Renten und Kommunen senken zu wollen.
Gleichzeitig nimmt der politische Druck von unten zu. In einer Meinungsumfrage in Frankreich gaben 70 Prozent an, sie glaubten, dass in den nächsten Monaten „soziale Unruhen” möglich seien.
Im April korrigierte der IWF seine Aussichten für das Weltwirtschaftswachstum auf 3,3 Prozent nach unten. Im Oktober war man noch von 3,5 Prozent ausgegangen. Für den Welthandel geht man nur noch von einem Wachstum von 3,6 Prozent aus. Im letzten Jahr steig dieser nur um 2,5 Prozent.
Der Stimmungsindex für die Einkaufsleiter der großen Konzerne liegt sowohl in der EU als auch in Japan immer noch unterhalb der 50 Punkte-Marke, was anzeigt, dass die Wirtschaft nicht zulegt. Doch selbst der Index für China liegt nur knapp über 50.
China
Chinas Volkswirtschaft – die zweitgrößte Wirtschaft der Welt, bei der man davon ausging, dass sie die US-amerikanische Wirtschaft noch vor dem Jahr 2020 überholen würde – verlangsamt sich gerade deutlich. Das umfassende Konjunkturpaket aus dem Jahr 2009, das das Wachstum mittels massiver Investitionen aufrecht erhielt, schlägt nun mit voller Kraft zurück. Die Schulden der Kommunen und Provinzen liegen schätzungsweise zwischen 20 und 40 Prozent des chinesischen BIP. Im ersten Quartal dieses Jahres wuchsen diese Schulden doppelt so schnell an wie im selben Zeitraum 2012.
Der IWF und westliche PolitikerInnen reden darüber, wie der Konsum in China gesteigert werden muss und dass die Investitionen heruntergefahren werden müssen. Doch eine Senkung des Investitionsanteils am BIP von den derzeitigen 50 Prozent auf 30 Prozent in einer Phase, in der das Wirtschaftswachstum bei sechs statt den früheren zehn Prozent liegt, „würde an sich schon zu einer Depression führen”, so die Schlussfolgerung des Wirtschaftsjournalisten Martin Wolf von der „Financial Times”. Die Nachfrage würde einbrechen, was beträchtliche Folgen für die Weltwirtschaft haben wird.
Regierungen und die kapitalistischen Klassen in den einzelnen Ländern üben nun größeren Druck auf andere Staaten aus. Die USA wollen eine größere Nachfrage in Deutschland und Europa, während die Politiker in Europa verlangen, dass das Defizit in den USA und Japan verringert wird. Das Haushaltsdefizit in Japan liegt zum fünften Mal in Folge in diesem Jahr bei fast zehn Prozent des BIP. Für 2018 geht man davon aus, dass die Verschuldung der öffentlichen Haushalte bei 255 Prozent des BIP liegen wird.
Das US-Defizit liegt bei fünf Prozent des BIP und die Schulden machen 110 Prozent davon aus. Für dieses Jahr wird davon ausgegangen, dass das Wachstum in den USA mit 1,2 Prozent das höchste unter allen entwickelten kapitalistischen Ländern sein wird. Die Vorhersage ist allerdings unsicher, weil die automatisch greifenden Kürzungen, die als Deckelung bezeichnet werden, in der zweiten Jahreshälfte noch ihre Folgen zeitigen werden.
Aufgrund des Scheiterns der „unorthodoxen Methoden” werden immer mehr Menschen verstehen, dass es innerhalb des Rahmens, den das kapitalistische System vorgibt, keine Lösung gibt. Der Widerstand der ArbeiterInnen und verarmten Leute wird zunehmen, wie beispielsweise der Generalstreik in Portugal Anfang März gezeigt hat, bei dem es sich um den größten seit der Revolution von 1974 gehandelt hat. Für SozialistInnen besteht die Aufgabe darin, neue Arbeiterparteien aufzubauen, die klare sozialistische Antworten auf die Krise haben.
Homepage der “Rättvisepartiet Socialisterna” (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Schweden): www.socialisterna.org