Erster Diakonie-Tarifvertrag in Sicht
Von Herbert Wulff
Die christlichen Kirchen betrachten sich auch im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends immer noch als rechtsfreien Raum. Für ihre etwa 1,3 Millionen Beschäftigten sollen weder die Tarifautonomie noch das Streikrecht gelten. Ver.di will das ändern. Seit geraumer Zeit versucht die Gewerkschaft, in Einrichtungen von Diakonie und Caritas Fuß zu fassen und als Verhandlungspartner anerkannt zu werden. Dabei hat sie nun einen wichtigen Etappensieg erreicht: Der Diakonische Dienstgeberverband Niedersachsens hat – außerhalb des sogenannten Dritten Weges kircheninterner Lohnfindung – einen Vertrag mit ver.di und der Ärzteorganisation Marburger Bund unterzeichnet. Darin sind zum einen Lohnerhöhungen von insgesamt 5,5 Prozent in drei Stufen sowie eine Einmalzahlung von 350 Euro festgeschrieben. Zum anderen wollen beide Seiten bis April nächsten Jahres die Voraussetzungen für einen regulären Flächentarifvertrag schaffen. Dieser würde für rund 30000 Beschäftigte in den diakonischen Einrichtungen Niedersachsens gelten und wäre der bundesweit erste seiner Art.
Aus Gewerkschaftssicht ist das ein Durchbruch. Denn bislang haben sich die kirchlichen Arbeitgeber unter Berufung auf ihr grundgesetzlich verbrieftes Selbstordnungsrecht stets kategorisch geweigert, mit ver.di über Tarifverträge zu verhandeln. Allenfalls durfte die Dienstleistungsgewerkschaft am Katzentisch der »Arbeitsrechtlichen Kommissionen« im Rahmen des »Dritten Wegs« Platz nehmen. Verhandlungen auf Augenhöhe waren das nie. Konsequenterweise hat sich ver.di daher aus den Kommissionen zurückgezogen und eine Kampagne für reguläre Tarife bei Diakonie und Caritas begonnen.
Medial ist diese schon länger ein Erfolg. Für weite Teile der Öffentlichkeit ist es vollends unverständlich, warum Grundlagen der bundesrepublikanischen Demokratie für die Kirchen nicht gelten sollten. Zumal sich die Einrichtungen der Caritas und insbesondere der Diakonie längst so verhalten wie ihre Konkurrenten. Outsourcing, Lohndumping und Personalabbau sind auch hier an der Tagesordnung.
Mit der niedersächsischen Vereinbarung haben die Gewerkschaften nun auch den ersten größeren praktischen Erfolg erzielt. Bitter ist allerdings, daß die Lohnsteigerungen in der Altenpflege mit insgesamt 2,5 Prozent deutlich geringer ausfallen als in den Kliniken. Das hat zum einen mit den miserablen Refinanzierungsbedingungen der Pflegeeinrichtungen zu tun. Zum anderen zeigt es: Gute Tarifabschlüsse fallen nicht vom Himmel, sie werden erkämpft und haben gewerkschaftliche Organisationsmacht zur Voraussetzung. Um diese ist es in der Altenpflege – nicht nur in der Diakonie – nicht sonderlich gut bestellt.
Die vielen Aktionen und Streiks der vergangenen Monate haben Niedersachsens Diakonie-Leitungen an den Verhandlungstisch gezwungen. Wenn ver.di es schafft, das auch in anderen Bundesländern auf die Beine zu stellen, könnten Diakonie-Tarifverträge in nicht allzu ferner Zukunft zur Normalität werden.
Dieser Artikel erschien zuerst am 25. Mai in der Tageszeitung „junge Welt“.