Der revolutionär-sozialistische Wandel ist nötig!
Dieser Artikel erschien zuerst am 13. Dezember auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net
von David Johnson, „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England & Wales)
Die Großdemonstrationen brachten den Widerstand gegen die Versuche des ägyptischen Staatspräsidenten Mursis zum Ausdruck, der seine Machtbefugnisse ausweiten und einer islamistischen Verfassung den Weg bereiten will. Dabei skandierten die DemonstrantInnen: „Das Volk will den Sturz des Regimes“.
Es gab auch Demonstrationen, um Mursi zu unterstützen. Die Tatsache, dass Schlägertrupps, die Mursi unterstützen, friedliche DemonstrantInnen angriffen und dabei von Sicherheitskräften protegiert wurden, erinnert auf brutale Art und Weise an die Methoden des ehemaligen Präsidenten Mubarak.
Nach einer 15-stündigen Sitzung ist der Verfassungsentwurf durch die Verfassunggebende Versammlung gepeitscht worden. Im November waren liberale, weibliche und christliche Mitglieder dieser Versammlung an die Öffentlichkeit getreten, um gegen dieses Vorgehen zu protestieren.
Mursi kündigte dann ein Referendum für den 15. Dezember an, um die neue Verfassung absegnen zu lassen. Er legte deshalb diese Eile an den Tag, weil er auf den massiven Widerstand gegen seine Versuche der Machtausweitung reagieren musste. Mittlerweile ist er zwar von seinem Vorhaben abgerückt, jeden juristischen Einwand gegen seine Person als illegal erklären zu lassen. Das gilt aber nur bis zu dem Zeitpunkt, bis eine neue Verfassung in Kraft ist.
Nachdem der „Richter-Club“ angekündigt hatte, das Referendum nicht zu überwachen, sagte die Oberste Wahlbehörde, dass das Referendum nun in zwei Etappen durchgeführt werden wird: am 15. Dezember und am 22. Dezember.
Der Verfassungsentwurf beinhaltet mehrere Klauseln, mit denen die Opposition zukünftig bedroht werden kann. So wird darin festgestellt: „Das Individuum darf nicht beleidigt werden“. Mubarak benutzte ganz ähnliche Methoden, um Kritiker seiner Herrschaft mundtot zu machen. Und seit dem Amtsantritt von Mursi haben die Verfahren aufgrund von „Präsidentenbeleidigung“ stark zugenommen. JournalistInnen könnten auf dieser Grundlage verhaftet werden.
Der Verfassungsentwurf sieht außerdem vor, dass auch ZivilistInnen „wegen Delikten, die die bewaffneten Kräfte betreffen“ vor ein Militärgericht gestellt werden können. Die wirtschaftlichen Interessen des Militärapparats bleiben hingegen unberührt, und die Armee kann weiterhin eigenmächtig über einen eigenen Haushalt verfügen. Eine demokratische Kontrolle ist nicht vorgesehen. Wenn ArbeiterInnen in armeeeigenen Betrieben zum Mittel des Streiks oder der Besetzung greifen, können auch sie der Militär-Rechtsprechung unterworfen werden. Und auch dies war unter schon Mubarak fast genauso der Fall. Am 9. Dezember räumte Mursi den Militäroffizieren das Recht ein, Zivilpersonen verhaften zu können, womit die begrenzten Rechte, die seit dem Aufstand vom 25. Januar 2011 errungen worden sind, weiter zurückgefahren werden.
Was die Frauenrechte angeht, so bleibt das Papier auffällig vage und lässt reichlich Interpretationsspielraum. Es ist auch schon dazu gekommen, dass Frauen und Mädchen angegriffen worden sind und man ihnen mit Gewalt den Kopf kahl rasiert hat, weil sie in der Öffentlichkeit keinen Schleier tragen wollten.
Die Polizei hat Machtbefugnisse bekommen, die es ihr erlauben, „die öffentliche Moral zu schützen“. Das hat die Möglichkeit geschaffen, Bürgerrechte wie z.B. das Gebot der Versammlungsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Ausdruck der eigenen Persönlichkeit einzuschränken. Vergleichbar ist dies mit der Situation im Iran oder in Saudi Arabien. Die acht Millionen Menschen christlicher Religionszugehörigkeit in Ägypten fühlen sich von derlei Möglichkeiten der Machtausübung besonders bedroht.
Angriffe gegen ArbeiterInnen und Arme
Der Streit um die Verfassung lenkt die Aufmerksamkeit von anderen Angriffen gegen ArbeiterInnen und die Armen ab. Die Regierung hat schon Verhandlungen mit dem „Internationalen Währungsfonds“ (IWF) aufgenommen. Es geht um einen Kredit im Umfang von mehr als 4,8 Milliarden US-Dollar. Subventionen auf Butangas und Strom sind als Bestandteil der damit verbundenen Kürzungsprogramme verringert worden.
Mursi hat Steuerhöhungen bei vielen Verbrauchsgütern und Dienstleistungen angekündigt – nur, um diese Pläne wenige Stunden später wieder zurückzunehmen und auf einen Zeitpunkt nach einem sogenannten „sozialen Dialog“ zu verschieben. Derartige Unentschlossenheit deutet auf heftige Unstimmigkeiten innerhalb des Regierungslagers und bei der „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ (FJP), dem politischen Ableger der „Muslimbruderschaft“, hin. Die FJP hat die Steuerpläne des Präsidenten scharf angegriffen und gefordert, dass diese auf Eis gelegt werden. Sie fürchten, dass eine solche Maßnahme dazu führen könnte, dass das Referendum zur Verfassung nicht in ihrem Sinne ausgeht. Als Anzeichen einer sich zuspitzenden politischen Krise sagte Finanzminister Mumtaz al-Said am 11. Dezember, dass sich der IWF-Kredit bis Januar 2013 verzögern würde.
Premierminister Hisham Qandeel hatte gesagt, dass die Regierung darum bemüht sei, „für ein wirtschaftsfreundliches Klima zu sorgen […], um Ägypten zum Ziel für direkte ausländische Investitionen“ zu machen. Die reiche Elite in der Führung der „Bruderschaft“ strebt danach, aus der Privatisierung weiter Teile der noch im Staatsbesitz befindlichen Industrien ihren Profit zu ziehen.
Versuch, die unabhängigen Gewerkschaften zu strangulieren
Mit dem Dekret Nr. 97 sollen die wachsenden unabhängigen Gewerkschaften stranguliert werden. Demnach darf je Betrieb nur eine Gewerkschaft erlaubt sein, womit man verhindern will, dass neue unabhängige Gewerkschaften den staatlich kontrollierten „Ägyptischen Gewerkschaftsbund“ (ETUF) herausfordern können.
Alle Mitglieder des ETUF-Vorstands über 60 Jahren (was auf die meisten von ihnen zutrifft) werden ausgetauscht. Der Arbeitsminister, welcher der „Muslimbruderschaft“ angehört, wird die neuen Mitglieder ernennen. Vor der Revolution vom 25. Januar 2011 waren 22 der insgesamt 24 Mitglieder im ETUF-Vorstand Mitglieder der „Nationaldemokratischen Partei“ von Mubarak. Die Bruderschaft zielt darauf ab, die von Mubarak ernannten Mitglieder durch ihre eigenen zu ersetzen.
Mehrere Oppositionparteien haben die „Nationale Heilsfront“ (NSF) ins Leben gerufen. Angeführt wird diese vom ehemaligen Chef der Atomenergiebehörde der UNO, Mohamed El-Baradei, dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Amr Moussa, einem Minister unter Mubarak, und Hamdeen Sabbahi, einem linken Nasserist.
Wenn sie neben den Mitgliedern und SympathisantInnen der NSF gegen die Machtausweitung von Mursi und den undemokratischen Verfassungsentwurf kämpfen, müssen SozialistInnen ihre eigene Einheit wahren. Das Programm und die bisherige Bilanz von El-Baradei, Moussa und ähnlichen kapitalistischen Politikern kann nicht als Motivation für jene dienen, die dafür sind, dass rechtsgerichtete politisch-islamistische Parteien abgedrängt werden. Eine Spaltung entlang der Klassen-Grenzen in der Gesellschaft und zur Unterstützung des politischen Islamismus liegt durchaus im Bereich des Möglichen.
SozialistInnen müssen sich politisch eindeutig von den Liberalen und Nationalisten der bürgerlichen Opposition abgrenzen. Mursi spielt mit den Ängsten und Sorgen der MB-SympathisantInnen, wonach die Opposition versuchen würde, die alten Mubarak-treuen Kräfte wieder an die Macht zu bringen. Außerdem muss die Linke auf die Behauptungen des Mursi-Regimes reagieren, die revolutionären Jugendgruppen seien Teil der Felool (arab. Für „Reste des Regimes“) oder es handele sich bei ihnen um Überbleibsel des Mubrak-Regimes, wozu das Personal aus dem Militär, von den Sicherheitsdiensten und aus dem Justizapparat von Mubaraks aufgelöster „Nationaldemokratischen Partei“ genauso zählt wie Geschäftsleute, die unter Mubarak sehr reich geworden sind.
Die ArbeiterInnen brauchen ihre eigene Partei, die sich auf unabhängige Gewerkschaften bezieht. Ein sozialistisches Programm für revolutionären Wandel kann unter den ArbeiterInnen, Armen und jungen Leute Gehör finden.
Eine sozialistische Verfassung würde echte demokratische Rechte für alle ebenso umfassen wie das Recht, nicht in Armut, Obdachlosigkeit und Analphabetismus leben zu müssen. Kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung, Renten für alle alten und behinderten Menschen, ein angemessener Mindestlohn – das sind die fundamentalen Rechte, die von den kapitalistischen Politikern nicht gewährleistet werden. Und dabei ist es egal, ob sie aus dem rechten Lager der Islamisten kommen oder ob es sich bei ihnen um Mitglieder einer liberal-säkularen Partei handelt.