Chinas rasanter Aufstieg und seine Bedeutung für die Welt
Acht von 17 Euro-Staaten befinden sich in der Rezession, die USA erleben ein „blutleeres“ Wachstum. Beide wirtschaftlichen Großräume schauen mit bangen Blicken nach China. Wächst das Riesenreich weiter mit der selben Dynamik der Vorjahre? Oder kommt das „Wunder“ an sein Ende? Bange Blicke der westlichen Kapitalisten aber auch deshalb, weil damit gleichzeitig eine ungeheure Konkurrenzmacht herangewachsen ist, die beim Kampf um Einfluss, Ressourcen und Absatzmärkte eine immer größere Rolle spielt.
von Torsten Sting, Rostock
Die international agierenden Konzerne steigerten, insbesondere in den vergangenen zehn Jahren, massiv ihre Investitionen in China. Anfangs wurden Fabriken gebaut, um damit den Westen mit billigen Waren zu versorgen. Der größte Einzelhandelskonzern der Welt, Walmart, lässt den Großteil seiner Billigwaren bis heute in China herstellen. CD-Player, Computer und natürlich die Trendsetter aus dem Hause Apple sind überwiegend „Made in China“. Somit wurde das Land zur „Weltfabrik“.
Basis ist eine Superausbeutung: Viele Betriebe sind Arbeitsplatz, Lager und Schlafstätte in einem. Oftmals haben die abhängig Beschäftigten eine 100-Stunden-Woche. Zudem werden Streiks brutal niedergeschlagen.
Aber auch die einheimische Industrie entwickelte sich in gigantischem Maße. Immer mehr Menschen gaben ihr Leben auf dem Lande auf und zogen in die Stadt. Mittlerweile gehören 51 Prozent und damit erstmals die Mehrheit der 1,4 Milliarden Menschen Chinas zur Stadtbevölkerung.
Seit nunmehr 30 Jahren wächst das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Durchschnitt um 9,8 Prozent, dies führte alle sieben Jahre zu einer Verdopplung der Wirtschaftskraft! China ist inzwischen die zweitgrößte Ökonomie der Erde und hat Deutschland den Rang des Exportweltmeisters abgejagt.
Allerdings gibt es eine gewaltige Kluft zwischen dem hochentwickelten Süden und Osten des Landes auf der einen sowie dem rückständigen Westen und Norden auf der anderen Seite. Berechnet man das BIP pro Kopf, so befindet sich China auf einer Stufe mit der Dominikanischen Republik.
Folgen für den Weltkapitalismus
China ist nicht nur die Exportnation Nr. 1, sondern zum Beispiel bei Computern oder Smartphones der größte Absatzmarkt des Planeten. Bei den Pkw-Neuzulassungen leistet es sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den USA und Europa. Die Welt wird immer abhängiger vom Geschehen in China. Diese Entwicklung hat sich durch die Wirtschaftskrise noch einmal beschleunigt. VW beispielsweise setzt mittlerweile jeden dritten Pkw dort ab und plant, wie Daimler und andere, den Bau weiterer Produktionsstätten.
Chinas Wirtschaft steht aber zunehmend auf eigenen Füßen. Fast jede zweite Tonne Stahl, die global produziert wird, kommt aus dem Reich der Mitte. Im Solarsektor oder bei der Windkraft sind chinesische Firmen bereits Weltmarktführer. Überhaupt mischen immer mehr chinesische Konzerne beim Wettstreit der Firmenriesen mit. So sind unter den sieben umsatzstärksten Unternehmen auf dem Erdball zwei chinesische.
Kampf um Öl
China hat infolge seines Wachstums einen großen Energiebedarf. Da die industrielle Entwicklung rapide zugenommen hat, Großstädte expandieren und der Autoverkehr drastisch ansteigt, muss das Land 50 Prozent seines Öls importieren. Die Sicherstellung der Energieversorgung ist daher eine zentrale Frage bei der Ausrichtung der Außenpolitik des Riesenreiches.
Auf dem afrikanischen Kontinent ist es zu einer wahren Schlacht zwischen den alten Mächten und dem neuen Herausforderer gekommen. Allein in Nigeria wurden in den vergangenen Jahren Lizenzen durch chinesische Konzerne erworben, die umgerechnet auf 30 bis 50 Milliarden Euro geschätzt werden. Besonders pikant ist, dass der zentralafrikanische Staat bislang ein bevorzugtes Objekt US-amerikanischer Begierde war. Die darbende Supermacht bezieht ein Viertel ihrer Ölimporte von dort und plant diese auf 40 Prozent im Jahre 2015 zu steigern (isw-report Nr. 83/84, 2010).
Ähnlich sieht es im Irak aus. Ein entscheidendes Motiv der „Bush-Krieger“ für das Vorgehen gegen Saddam Hussein im Jahr 2003 bestand darin, die Kontrolle über die nach Schätzungen zweitgrößten Ölvorkommen der Welt zu erlangen. Besonders bitter ist es daher, dass der Großteil der Aufträge für die Exploration des „schwarzen Goldes“ nicht an ExxonMobil und Co., sondern an die chinesische Konkurrenz ging.
Dass die USA ihre Militär- und Handelspolitik stärker auf den Pazifik ausrichten, geht auch maßgeblich auf die gestiegenen Ambitionen Chinas in der Region zurück. Im Südchinesischen Meer haben die Spannungen zwischen China auf der einen und Staaten wie Vietnam und den Philippinen (mit den USA im Schlepptau) auf der anderen Seite stark zugenommen. Hier wird nicht nur ein erheblicher Teil des Welthandels abgewickelt, hier gibt es zudem Öl, Gas und große Fischbestände.
China benötigt derzeit etwa zehn Prozent des weltweiten Öls und liegt damit noch hinter den USA. Sollte China einen Pro-Kopf-Verbrauch wie Südkorea erlangen, würden 70 Prozent des globalen Ölverbrauchs von China bestritten werden! Und das vor dem Hintergrund von „Peak Oil“ – dem Zeitpunkt, an dem das globale Ölfördermaximum erreicht ist. Große Konflikte sind da unausweichlich.
Schwächung der USA
Mit dem wachsenden ökonomischen Gewicht Chinas verschieben sich auch die Koordinaten in der globalen Politik. Nach dem Zusammenbuch der stalinistischen Staaten Osteuropas begann eine Phase, wo die USA als verbliebene Weltmacht die Spielregeln scheinbar diktieren konnten. Die Kriege von George Bush junior waren der Höhe-, aber auch Endpunkt dieser Entwicklung. Mit den blutigen Abenteuern in Afghanistan und im Irak haben die USA sich kräftig verhoben. Parallel zum industriellen Niedergang in den USA selber, hat das dazu beigetragen, dass das Land heute mit fast 100 Prozent des BIP verschuldet ist.
Zudem waren die USA das Epizentrum der internationalen Wirtschaftskrise, die bis heute die Welt in Atem hält. Niemals zuvor seit den dreißiger Jahren gab es so viele Langzeitarbeitslose und arme Menschen in den USA. Dass der hochverschuldete Laden nicht zusammenbricht, hat viel mit Peking zu tun. Kein Land der Welt verfügt über einen annähernd großen Vorrat an Devisenreserven, insbesondere an Dollar, wie das „Reich der Mitte“. Wobei das nicht so viel mit Großzügigkeit, sondern sehr viel mehr mit gegenseitiger Abhängigkeit zu tun hat. Schließlich will China mit dieser Politik einen seiner größten Abnehmer stützen, der zugleich ein erbitterter Widersacher ist. (Ein Widerspruch? Und ob!).
Global Player
Chinas Bedeutung für die Weltwirtschaft hat deutlich zugenommen: als „Werkbank“, Absatzmarkt, Investor und Gegenpart zu den bisher dominanten imperialistischen Mächten, allen voran den USA.
Oft erkaufen sich die Politbüro-Strategen Verträge für chinesische Firmen zum Beispiel zur Erschließung eines Ölfeldes mit Versprechen, Infrastrukturprojekte auf den Weg zu bringen. Ruandas Präsident Paul Kagame äußerte sich dazu folgendermaßen: „Die Chinesen bringen mit, was Afrika braucht: Investitionen und Geld für Regierungen und Unternehmen. China investiert in Infrastruktur und Straßen. (…) Der neue Wettbewerb [zwischen den westlichen Großmächten und China – Anmerkung des Verfassers] ist für Afrika sehr gesund, er hilft uns“ („Handelsblatt“ vom 12. Oktober 2009).
Auch wenn China ebenfalls vom globalen Wirtschaftsabschwung erfasst wurde, fand die dortige Ökonomie nach einem recht kurzen Einbruch Anfang 2009 ziemlich schnell wieder aus der Krise.
Modell China?
Dass China besser als seine Kontrahenten aus der Krise kam und den Verlust von über 20 Millionen Jobs kompensieren konnte, liegt an dem speziellen Charakter von Wirtschaft und Gesellschaft. Bei einem internationalen Treffen des CWI (dem die SAV angehört) im Januar 2012 wurde China deshalb als „besondere Form von Staatskapitalismus“ bezeichnet. Zwar wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten viele Betriebe privatisiert beziehungsweise in Joint Ventures umgewandelt und neue private Unternehmen gegründet. Was nach verschiedenen Untersuchungen dazu führte, dass die verbliebenen Staatsbetriebe inzwischen weniger als die Hälfte zum BIP beitragen. Dennoch sind wichtige Bereiche der „Kommandohöhen“ der Wirtschaft, zum Beispiel in der Ölindustrie, bei der Stromerzeugung oder in der Telekommunikation, noch in staatlicher Hand. Die chinesischen Banken, die heute zu den größten der Welt gehören, befinden sich weiterhin in Staatseigentum.
Diese in der Welt sonst nirgends anzutreffende Kombination von kapitalistischer Produktion bei gleichzeitig ungewöhnlich einflussreicher zentraler Staatsmacht führt zu einem besonderen Konstrukt, das dazu in der Lage war, besonders schnell und effektiv auf die Krise 2009 zu reagieren. Das Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas brauchte keine langen Parlamentsdebatten abzuwarten, um ein gigantisches Konjunkturprogramm anzuschieben – das mit 490 Milliarden Euro gemessen an der Wirtschaftskraft fast dreimal so groß wie das der USA gewesen war. Die KP-Führung um Präsident Hu Jintao und Premier Wen Jiabao entschied nicht nur rasch, sondern konnte sich eben auf staatliche Banken, Industriekonzerne und Verwaltungen bei der Umsetzung stützen. Die Banken pumpten Milliarden in die Wirtschaft und die staatlichen Betriebe bekamen Aufträge, die sehr schnell in die Tat umgesetzt wurden. Verzahnt wurde dieses Vorgehen mit Anreizen für den privaten Konsum, zum Beispiel für den Kauf eines Autos. So gelang die Stabilisierung der chinesischen Konjunktur und damit eine wichtige Voraussetzung, dass die Weltwirtschaft nicht total abstürzte.
Letzte Ausfahrt Binnenkonjunktur?
Die Achillesverse Chinas bleibt die Exportabhängigkeit der Industrie. Europa ist der wichtigste Absatzmarkt für deren Produkte. Angesichts der Euro-Turbulenzen und der massiven Kürzungsprogramme ist es wahrscheinlich, dass dieser Zustand sich eher noch verschlimmern wird. Zudem steht die US-Konjunktur immer noch auf wackeligen Beinen. Selbst wenn es zu keinem tiefen Einbruch kommen sollte, können die Vereinigten Staaten nicht mehr die Rolle als „Staubsauger“ für chinesische Produkte wie vor Krisenbeginn spielen. Zu groß ist die Verschuldung der öffentlichen und privaten Haushalte. Schon auf dem Volkskongress im März wurde prognostiziert, dass der Außenhandel 2012 nur noch um zehn Prozent wächst, was eine Halbierung gegenüber dem Vorjahr wäre (laut FAZ vom 6. März).
Gerade in den letzten Monaten ist dieses generelle Problem spürbarer geworden. Wuchs Chinas Wirtschaft 2010 noch mit zehn Prozent, so waren es 2011 9,2 Prozent und werden es für 2012 wohl nur noch 7,5 Prozent sein. (Dabei werden acht Prozent Wachstum benötigt, um der Bevölkerungsentwicklung gerecht zu werden, die Landflucht zu kompensieren und den Schul- und UniabgängerInnen eine Jobperspektive geben zu können.)
Wenn die Bedingungen für die Ausfuhren schlechter werden, wie kann man dann ein so großes Wachstum generieren, dass die von der KP Chinas angestrebte „harmonische Gesellschaft“ gewährleistet werden kann? Hauptansatz ist die Stärkung der Binnenkaufkraft. Zwar ist in den letzten Jahrzehnten eine kaufkräftige Mittelschicht herangewachsen. Dennoch lebt die Masse der ArbeiterInnen und der auf dem Land beschäftigten Menschen immer noch in mehr als bescheidenen Verhältnissen – kein Wunder, basiert der Boom doch vor allem auf der Superausbeutung. Nachdem der Kraftfahrzeugmarkt 2010 noch um 32 Prozent wuchs, stieg er 2011 nur noch um 2,5 Prozent – im ersten Quartal 2012 schrumpfte der Autoabsatz in China sogar zum ersten Mal seit vielen Jahren. Eine Wirtschaft, die völlig einseitig auf den Export ausgerichtet ist, lässt sich auch nicht über Nacht umstrukturieren (schließlich liegt der Konsum gerade mal bei 35 Prozent des BIP, in den USA sind es über 65 Prozent). Zur Konsumschwäche kommt ein scheinbar paradoxes Problem: Die ChinesInnen sparen strukturell zu viel. Dies liegt darin begründet, dass China bis heute nur über eine sehr schwache soziale Absicherung verfügt. So müssen chinesische ArbeiterInnen für die schulische und universitäre Ausbildung ihrer Kinder zahlen. Die Behandlung in den Krankenhäusern ist kostenpflichtig. Es gibt keine Arbeitslosenversicherung und keine gesetzliche Absicherung für das Alter. Mit dem Wegfall der im Stalinismus existierenden staatlichen Grundversorgung ist die Masse der Bevölkerung gezwungen, für diese Lebenslagen zu sparen. Die Regierung hat in den letzten Jahren zwar damit begonnen, einen Fonds anzulegen, aus dem ein Sozialversicherungssystem aufgebaut werden soll. Eine schnelle Änderung ist jedoch nicht in Sicht.
Ökonomische Risiken in China
Neben den tickenden Zeitbomben der Weltwirtschaft haben auch in China selber wirtschaftliche Gefahren zugenommen.
Ein wichtiger Bestandteil des Konjunkturpaketes waren massive Investitionen in Infrastrukturprojekte und ein weiterer Ausbau von industriellen Produktionskapazitäten. Dies hat (abgesehen von Vetternwirtschaft und Schlampereien bei vielen Projekten) dazu geführt, dass die bereits vorhandenen Überkapazitäten – die allein in der Autobranche von der Unternehmensberatung KPMG auf 30 Prozent geschätzt werden – nochmals ausgeweitet wurden. Im Falle eines konjunkturellen Absturzes wird dies zur Konsequenz haben, dass wahrscheinlich viele Millionen Beschäftigte ihren Job verlieren werden.
Zu alledem hat die großzügige Kreditvergabe durch die staatlichen Banken den Immobilienboom angeheizt. In den letzten drei Jahren sind Eigentumswohnungen um 50 Prozent teurer geworden, „die Immobilienbranche steuerte ein Sechstel zum Bruttoinlandsprodukt bei“ (FAZ vom 2. Mai). Die Regierung versucht dem nun zu begegnen, in dem sie gesonderte Steuern einführt und Gesetze verschärft. Die Frage ist jedoch, ob das reicht, um ein Platzen der Blase zu verhindern. Die Folge wäre, dass Banken auf ihren Krediten sitzen blieben und dies die Wirtschaft, wie im Japan der neunziger Jahre, nach unten reißen würde. Im Gegensatz zu damals würde dies jedoch vor dem Hintergrund einer weltweiten Krise geschehen.
Noch brisanter werden die Probleme mit der Spekulation dadurch, dass neben den Staatsbanken ein unkontrolliertes Finanzsystem entstanden ist. Da die Zentralregierung das Kreditvolumen begrenzt, wuchert mittlerweile ein gewaltiger Graumarkt – Schattenbanken, die außerhalb jeglicher staatlicher Kontrolle agieren.
Dazu kommt das Problem der hohen Inflation, die den Menschen vom Lohn vieles wieder wegnimmt und soziale Konflikte anheizt.
Wenig bekannt ist außerdem, dass China auch ein Problem mit öffentlicher Verschuldung hat. Zwar liegt die Staatsverschuldung bloß bei 17 Prozent. Berücksichtigt man jedoch die Verbindlichkeiten der Lokalregierungen, kommt man auf 75 Prozent. Das schmälert auch die Möglichkeiten für neue Konjunkturprogramme. China kann auch nicht unbegrenzt an der Zinsschraube drehen und die Geldpolitik ständig weiter lockern.
Das soziale Fieber steigt
ZVon 2006 bis 2010 verdoppelte sich die Zahl jährlicher Großproteste auf 180.000. Dazu zählen Aktivitäten gegen Umweltzerstörung, für die Rechte der ethischen Minderheiten oder Arbeitskämpfe. Zu Streiks kam es häufig genug mit der Folge, dass im Süden des Landes (wo es in den letzten Jahren Arbeitskräftemangel gab) hohe Lohnerhöhungen durchgesetzt werden konnten. Allerdings werden höhere Löhne auch oft mit Rationalisierungen beantwortet: So will der Elektrokonzern Foxconn nach einer Protestwelle mehr als die Hälfte seiner eine Million Beschäftigten bis 2014 durch Roboter ersetzen.
Wie jedes Jahr gingen auch am 4. Juni 2012 Zehntausende in Hongkong auf die Straße, um an die Niederschlagung des Aufstands 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu erinnern – dieses Jahr waren es mit 180.000 mehr als je zuvor. Während das Regime damals noch größeren Rückhalt auf dem Land hatte, nimmt gerade auch dort der Widerstand zu. Konflikte gibt es insbesondere um Landraub durch korrupte lokale Funktionäre (offiziell sollen 43 Prozent aller Dörfer Opfer dieser Politik geworden sein). Dies hat Ende 2011 in der Kleinstadt Wukan in der Provinz Guangdong zu einer regelrechten Revolte gegen die örtliche Partei und Staatsrepräsentanten geführt. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten verloren die Herrschenden die vollständige Kontrolle über eine Stadt. Es wurden sogar unabhängige Komitees von unten geschaffen. Infolge dessen konnten die Aufständischen gar die direkte Wahl ihrer lokalen Gremien erzwingen (wobei die bestehenden Clanstrukturen leider verhinderten, dass von wirklich freien Wahlen die Rede sein konnte). Aber ein Zugeständnis, das zu erheblicher Diskussion bei der Zentralmacht geführt haben dürfte, da sich nun andere ermutigt sehen, für ihre sozialen und demokratischen Rechte zu kämpfen.
Ein kräftiges Gewitter bahnt sich in absehbarer Zeit in China an. Der drohende wirtschaftliche Abschwung im „Reich der Mitte“ wird die Weltwirtschaft nach unten ziehen. In der Folge wird es wahrscheinlich zu gewaltigen sozialen Spannungen, Streiks und größeren Bewegungen kommen. Je nach Ausmaß der Krise kann es um die Existenz des Regimes gehen. Entscheidend bei dieser Entwicklung wird der Aufbau von unabhängigen Gewerkschaften und einer starken Arbeiterpartei mit sozialistischem Programm sein. Es gilt, die verschiedenen Kämpfe zu verbinden, für eine echte Alternative zu Stalinismus und Kapitalismus zu werben und auf die Überwindung des Systems hinzuarbeiten. Die Mitglieder und UnterstützerInnen des CWI in China, Hongkong und Taiwan wollen dazu einen Beitrag leisten.
Machtkampf in Peking
Chongqing im Frühjahr 2012: ein undurchsichtiger Skandal um einen örtlichen Polizeichef, ein dubioser Mord an einen britischen Geschäftsmann, die Ehefrau des dortigen Parteisekretärs unter Mordverdacht …
Was sich nach einer billigen Räuberpistole anhört, löste den folgenschwersten Machtkampf innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas seit 1989 aus! Der Rauswurf des Parteichefs Bo Xilai (siehe Foto) stellt den Auftakt dar für einen bitteren Konflikt unter den Herrschenden ausgerechnet in dem Jahr, in dem über die Führungsfiguren von Partei und Staat neu bestimmt werden soll.
Im Kern prallen hier liberale „Reformer“, die für die neuen privaten Fabrikbesitzer das Wort führen, und Repräsentanten des staatlichen Machtapparates aufeinander. Bo Xilai, der für Letztere steht, setzte stärker auf staatliche Lenkung. Er bemühte sich, Nationalismus mit Populismus zu verquicken. Während Ministerpräsident Wen Jiabao die Galionsfigur der Liberalen ist, versucht Staatschef Hu Jintao stärker zwischen den Lagern zu vermitteln. Brisanterweise vollziehen sich derzeit ähnliche Risse in Armee und Medien.
Nicht nur in Chongqing sondern in ganz China gibt es aktuell Anzeichen, die Marktreformen nach Bo Xilais Absetzung zu beschleunigen. So soll der Finanzsektor schrittweise geöffnet werden. Zudem erklärte Peking sich bereit, ausländischen Investoren nicht nur 33, sondern von nun an sogar 49 Prozent Anteile an chinesischen Börsenunternehmen zuzugestehen. Damit wird der Machtkampf jedoch nicht entschieden, sondern nur weiter verschärft werden.
China unter Mao Tse-Tung
Bis zum Zweiten Weltkrieg war China eines der rückständigsten Länder der Erde. Die halbfeudalen und kapitalistischen Verhältnisse erwiesen sich als enormes Hemmnis beim Aufbau der Industrie. So war die mit den Großgrundbesitzern verflochtene nationale Kapitalistenklasse unfähig, eine Landreform durchzuführen, sich vom Würgegriff der Imperialisten zu befreien und generell die Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu lösen. Erst auf Basis von Staatseigentum und Planwirtschaft konnte die Bevölkerung aus der schlimmsten Armut befreit und eine gewaltige Entwicklung der Produktivkräfte erreicht werden.
Während jedoch in Russland unter den Bolschewiki nach der Revolution 1917 versucht wurde, eine Arbeiterdemokratie aufzubauen (die erst Mitte der zwanziger Jahre im Zuge einer politischen Konterrevolution unter Josef Stalin zunichte gemacht wurde), herrschte unter Mao Tse-Tung von Anfang an eine bürokratische Clique. Im Gegensatz zu Mao, der eine Bauernarmee schuf und sich auf die Bauernschaft stützte, war in Russland die Arbeiterklasse der Träger der Revolution gewesen. Das machte einen entscheidenden Unterschied aus, weil die Lohnabhängigen, die Tag für Tag in Großbetrieben zusammen arbeiten, nach kollektiver Organisation streben, was sich in der Bildung einer Rätegesellschaft ausdrückte.
Wie im Ostblock gab es in China nach 1949 keine demokratische, sondern eine bürokratische Planwirtschaft. Kommandowirtschaft und politischer Zickzack-Kurs führten zu Fehlplanung und Verschwendung. 1978 leitete Deng Xiaoping marktwirtschaftliche Reformen ein. Diese Maßnahmen gingen weiter als in der Vergangenheit – vor allem nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Zwar schreitet die Wiedereinführung des Kapitalismus seitdem voran, doch wollen die Machthaber – den Kollaps in Russland in den Neunzigern vor Augen – einen von oben kontrollierten Prozess sicherstellen. Während sich eine neue Kapitalistenklasse herausbildet, bewahrt der chinesische Staat ein hohes Maß an Autonomie und Macht (Staatskräfte steuern die kapitalistische Entwicklung, zügeln sie teilweise aber auch).