Das Potential für Anti-Kürzunspolitik bestätigt sich
Leitartikel des „Socialist“, Wochenzeitung der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England und Wales)
Eigentlich war es eine Woche, in der die britischen Sozialdemokraten von „New Labour“ ohne jegliches eigenes Zutun von den vielfachen Krisen der konservativ-liberalen Regierungskoalition profitieren konnten. Vor allem gab es den Haushalt vom Tory-Finanzminister Osborne, der im Sinne der Reichen daherkommt, den „Cash für Cameron“-Skandal, der den britischen Premier in Bedrängnis brachte, und die langen Schlangen vor den Tankstellen.
Doch dann kam das Erdbeben, das durch den überraschenden Sieg von George Galloway bei den Nachwahlen im Bezirk Bradford West ausgelöst wurde.
Nach dreiwöchigem Wahlkampf erhielt Galloway mehr Stimmen als alle Kandidaten der anderen Parteien auf dem Wahlzettel zusammen! Mit 18.341 Stimmen blieb eine Lücke von mehr als 10.000 Stimmen zum Kandidaten der sozialdemokratischen „Labour Party“.
„Labour“ geriet ins Taumeln und verharrt seitdem im Schockzustand als klar wurde, dass ihr Stimmenanteil im Vergleich zu 2010 um 20 Prozent einbrach. Vor zwei Jahren noch hatte man mit einer komfortablen Mehrheit von 5.000 Stimmen diesen Bezirk für sich entscheiden können, jetzt verlor man dort einen Sitz im Parlament.
Die Führungsriege von „Labour“, von der einige während des Wahlkampfs auch nach Bradford gekommen waren, ist dermaßen von gestern mit ihrer Sichtweise, dass sie einen Sieg ihres Kandidaten als sicher darstellte – sogar noch, als die Wahllokale bereits geschlossen hatten. Nun aber hat „Labour“ einen Wahlbezirk verloren, den man seit 38 Jahren inne hatte.
Das Ergebnis der konservativen „Tories“ viel ebenfalls dramatisch schlechter aus und ging um 10.000 Stimmen auf 23 Prozent zurück. Und die „Liberal-Demokraten“ schnitten so schlecht ab, dass sie sogar ihre staatliche Wahlkampfunterstützung verloren.
Dieses Ergebnis ist wie ein Blutsturz für die etablierten Parteien und eine stellt eine scharfe Ablehnung ihrer Politik der Sparpakete sowie der Kriegse gegen Irak und Afghanistan dar.
Nur vier von zehn Stimmen gingen an „Labour“, Konservative und „Liberal-Demokraten“. Diese Stimmung beschränkt sich nicht allein auf Bradford. Eine kürzlich durchgeführte landesweite Umfrage von „YouGov“ verrät sinkende Zustimmung für die führenden Köpfe aller drei Parteien. Das Resultat ist ein negativer Grad an Zustimmung, den der Psychologe Mike Smithson als „ziemlich außergewöhnlich“ beschreibt, und den er keiner anderen historischen Epoche in der neueren Geschichte zuordnen kann. Niemals zuvor hatten alle drei Parteichefs gleichzeitig eine derart niedrige Zustimmungsquote.
Galloway interpretierte seinen Erfolg als Ergebnis der „massiven Unzufriedenheit mit dem politischen System […] und den großen politischen Parteien“.
„Wenn ein Po drei Backen hätte, dann wären es immer noch drei Backen desselben Pos. Sie unterstützen dieselben Sachen, dieselben Kriege, dieselbe neoliberale Politik, um die Armen ärmer zu machen, im Sinne der kriminellen Machenschaften der reichen Leute“.
Er wies auch auf die Probleme in Bradford hin: „Eine faule Kombination aus Gleichgültigkeit, Inkompetenz und Opportunismus unter der Herrschaft einer Clique sind der Grund für den Niedergang Bradfords. […] Sogar in den 13 Jahren der „>New Labour-Regierung ging es bergab […] Jetzt besteht für die Stadt die Gefahr in den sado-monetaristischen Sparpaketen der Con-Dem-Koalition zu versinken.“ (Guardian, 31.3.12). („to condemn = verachten; Ein Wortspiel, mit dem die Haltung gegenüber der konservativ/liberal-demokratischen Regierungskoalition zum Ausdruck gebracht wird; Anm. d. Übers.)
Bradford hat ein heruntergekommenes Stadtzentrum und eine geschlossene Stadtbibliothek. Die Stadt rangiert bei der Arbeitslosigkeit im Vereinigten Königreich auf Platz zwölf. Die Jugendarbeitslosigkeit hat sich in den letzten drei Jahren verdreifacht und die städtischen Schulen stehen am Ende der landesweiten Rankings.
Eine Stimme für Galloway wurde als Weg gesehen, gegen diese Verluste protestieren zu können und seinen wichtigsten Wahlkampfforderungen zuzustimmen: gegen die „Zertrümmerung“ des NHS (das Gesundheitssystem Großbritanniens; Erg. d. Übers.), den Mangel an Zahnärzten, die dem NHS unterliegen, gegen Schulgebühren und für die Verschrottung des Europäischen Währungsabkommens, sowie für seine starke Antikriegshaltung.
Es war eine Reaktion auf die falschen Versprechungen der etablierten Parteien und ihr Mangel an Lösungsvorschlägen für die akuten Probleme, von denen ArbeiterInnen und junge Leute betroffen sind.
George Galloway wurde von vielen als jemand angesehen, der im Vergleich zu den anderen „die Wahrheit sagt“ und „für Gerechtigkeit kämpft“.
Die Art und Weise, wie er 2005 lautstark gegen US-Senatoren in puncto Irak aufgetreten ist, hat Eindruck hinterlassen.
Der Kandidat der „Labour“-Partei, Imran Hussain, ist Moslem asiatischer Abstammung in einem Wahlkreis mit rund 38 Prozent der Stimmberechtigten, die einen vergleichbaren Hintergrund haben. Für viele von ihnen gehört er aber einem anderen Lager an.
Er war stellvertretender Vorsitzender des Stadtrats, der massive Kürzungen umgesetzt hat; darunter auch der Verlust von bis zu 1.000 Arbeitsplätzen. Und er hat die militärische Präsenz Großbritanniens in Afghanistan verteidigt.
Seine politischen Ansätze waren so unhaltbar, dass er im Wahlkampf öffentliche Debatten mit den anderen Kandidaten ablehnte.
Für Galloway indes drängten sich mehr als 1000 Leute in eine Halle, um dabei zu sein wie er für einen nötigen Wechsel für Bradford sprach.
Seine Seite bei „Facebook“ hatte mehr als 82.000 „follower“ und er bat die Leute dringend soziale Netzwerke zu nutzen und einfach SMSen an alle in den jeweils vorhandenen Adressbüchern zu schreiben, um sie davon zu überzeugen, am Wahltag ihre Stimme für ihn abzugeben.
Spaltende Politik?
Die „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England und Wales) hat Galloway und seine Partei namens „Respect“ in der Vergangenheit häufiger dafür kritisiert, einen zu eng gefassten Ansatz zu vertreten und zu begrenzte Aufrufe zu machen, die sich in erster Linie an Muslima und Moslems richten. Das galt vor allem für die ehemalige Hochburg von „Respect“, den Londoner Stadtteil Tower Hamlets, wo man zwölf Stadträte plus Galloway selbst als Parlamentsabgeordneten für die Bezirke Bethnal Green and Bow hatte, nachdem er eine Mehrheit von 10.000 Stimmen des „Labour“-Abgeordneten Oona King kippen konnte.
In Bradford West jedoch betonte er wiederholt, „alle“ gegen die die Angriffe der Sparpakete vertreten zu wollen, und er machte einen unverblümten Aufruf zum Abzug der britischen Soldaten aus Afghanistan. Wobei er sich sowohl an hellhäutige Familien der Arbeiterklasse wandte als auch an asiatische.
Er kritisierte scharf die „village politics“ im Wahlkampf von „Labour“ (gemeint ist der Ansatz, sich mit speziell auf deren Belange gemünzten Inhalten an die ethnischen Minderheiten zu wenden; Anm. d. Übers.) die in hohem Maße auf Netzwerke in der asiatischen Community aufbaute und die Geschichte, als moslemische Respektspersonen seine politischen Positionen verdreht wurden.
Außerdem wandte er sich gegen das Argument, man müsse den „Labour“-Kandidaten wählen, weil dieser aus Bradford komme: „Was habt ihr davon, wenn ihr für jemanden von hier stimmt, dessen Vater vor 50 Jahren aus demselben Ort kam wie euer Vater?“.
„Wenn ich von hier käme, dann wäre es mir peinlich, all die Probleme hier in dieser Stadt sehen zu müssen und dabei nur sagen zu können, wählt mich, weil ich ein Politiker von hier bin. Diese Politiker von hier sind das Problem und nicht die Lösung.“
Diese Aussagen fielen in der asiatischen Arbeiterklasse-Community auf fruchtbaren Boden, vor allem unter den jungen Leuten.
Mehr als die Hälfte der britischen Menschen asiatischer Abstammung leben in Armut und leiden besonders unter Arbeitslosigkeit.
Das Ergebnis dieser Nachwahl zeigt, dass sie jetzt die traditionell vorhandene Unterstützung ihrer Communities für die „Labour“-Partei stark in Zweifel ziehen und offen sind, wenigstens aus Protest gegen die Kürzungspolitik auch von „New Labour“ zu stimmen.
Eine Schwäche bei Galloways Wahlkampf war allerdings, dass er sich hinsichtlich der „Labour Party“ konfus ausdrückte.
Trotz der Verurteilung der Kürzungspolitik von „Labour“ und gegen ihre Unterstützung der imperialistischen Kriege, sagte er, dass er nur deshalb nicht Mitglied der „Labour Party“ ist, weil die Partei ihn ausgeschlossen hat. „Ich stehe für >Labour, nicht für >New Labour“, erklärte er in seinem Flugblatt. (In den 1990er Jahren rückte die „Labour Party“ unter Tony Blair vom Mittel des Klassenkampfs und dem Fernziel des Sozialismus ab, und der Begriff „New Labour“ hielt Einzug; Anm. d. Übers.)
Anstatt also eine klare Aussage zu machen wie die „Socialist Party“, dass einen neue Massen-Arbeiterpartei dringend aufgebaut werden muss, um ArbeiterInnen eine politische Stimme zu geben, nahm er diesbezüglich eine mehrdeutige Haltung ein.
Auch hat „Respect“ es bisher leider nicht vermocht, eine solide und wachsende aktive Mitgliedschaft auf dauerhafter Grundlage aufzubauen.
Die Partei litt und leidet aufgrund der Tatsache, dass sie keinen überwiegend auf Klassenbasis ruhenden Ansatz vertritt, unter politischen Schwierigkeiten. Auch hat sie bislang keine Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung schlagen können.
In Tower Hamlets wurden die meisten errungenen politischen Positionen teilweise deshalb wieder verloren, weil man eine Reihe von Stadträten hatte, die diesen Standpunkt nicht vertraten. Und 2007 litt man natürlich unter der Spaltung, bei der man sich von der SWP und anderen trennte.
Aussichten für die Linke
Ungeachtet der Kritik, die SozialistInnen an „Respect“ und Galloway üben müssen, ist der Erfolg von Bradford West von hoher Bedeutung und ein Indiz für das Potential, das sich für gegen die Kürzungen und die großen Parteien antretende Kandidaten eröffnet und bei Wahlen besteht.
Zwar ist es leichter in einer Nachwahl fürs Parlament Proteststimmen zu bekommen als bei einer Parlamentswahl selbst. Aber die große Abgeneigtheit gegen die drei großen Parteien ist erstens langfristig und zweitens weit verbreitet. Beweis hierfür ist die Tatsache, dass bei den letzten Parlamentswahlen niemand von ihnen eine Mehrheit erringen konnte.
Das zeigte sich auch im vergangenen Jahr in Schottland, als die „Scottish National Party“ (SNP) die Mehrheit im Regionalparlament erringen konnte.
Die Lib-Dems („Liberaldemokraten“; Erg. d. Übers.) waren in der Vergangenheit immer Nutznießer von Proteststimmen gegen die „Tories“ oder „Labour“, aber jetzt sieht das anders aus, weil die Lib-Dems an einer brutalen Kürzungsregierung beteiligt sind.
Die Nachwahlen von Bradford West sind – wie die „Socialist Party“ an anderer Stelle bereits wiederholt gesagt hat, ebenfalls Indiz dafür, dass nach der Zustimmung zu den Kürzungen der Regierung „Labour“-Kommunalräte nicht mehr als unschuldig angesehen werden.
Dies zeigt das wachsende Potential für KandidatInnen, die sich auf lokaler Ebene gegen Kürzungen einsetzen und für die bevorstehenden Kommunalwahlen im Mai ein wichtiger Faktor ist.
„Respect“ hat entschieden, im Mai in Bradford zu den Kommunalwahlen anzutreten. Und ihre Chancen sind gut, wenn sie dabei bleiben, sämtliche Kürzungen abzulehnen – verbal und in der Praxis.
Überall im Land wird es viele weitere KandidatInnen geben, die sich gegen die Kürzungen wenden; darunter mehr als 100 KandidatInnen der „Trade Unionist and Socialist Coalition“ (TUSC), die momentan noch von den Mainstream-Medien geflissentlich ignoriert werden.
Die Medien behaupten größtenteils, dass es sich bei Bradford West um eine Ausnahme handelt. Dabei wird dann immer betont, dass es „keine anderen George Galloways“ gibt und dass er die einzige Galionsfigur der Linken sei.
Hierbei handelt es sich allerdings um eine bewusste Falschaussage. Tony Mulhearn war in den 1980er Jahren eines der „Aushängeschilder“ des Kampfes des Stadtrats von Liverpool gegen die Kürzungen der damaligen Thatcher-Regierung. Jetzt tritt er für die TUSC gegen den Vorsitzenden der „Labour“-Fraktion im Liverpooler Stadtrat bei der Wahl des neuen Bürgermeisters an.
In Coventry kandidiert der Stadtrat der „Socialist Party“, Dave Nellist, ein ehemaliger sozialistischer Parlamentsabgeordneter, im Bezirk St Michael’s Ward für die Wiederwahl in den Stadtrat.
In London ist Alex Gordon, Vorsitzender der Transportarbeitergewerkschaft „Rail, Maritime and Transport workers union“ Spitzenkandidat der TUSC-Liste für die London Assembly (Legislativ-Organ für „Greater London“; Anm. d. Übers.).
In den nächsten Wochen braucht es einen Wahlkampf, der so stark wie möglich sein muss, um sicherzustellen, dass die WählerInnen in den Gegenden, wo es KandidatInnen der TUSC oder andere gibt, die gegen die Kürzungslogik antreten, überhaupt wissen können, dass sie die Möglichkeit haben, der „Spar“-Politik einen weiteren Schlag zu versetzen und sich auch für eine sozialistische Alternative einsetzen können.