100 Jahre “Brot und Rosen” Streik

Im Januar 1912 traten tausende TextilarbeiterInnen in einen unbefristeten Streik, um gegen Lohnkürzungen und für ein besseres Leben zu kämpfen.


 

Lawrence war eine kleine Stadt im Staate Massachusetts, der Namensgeber der Stadt war ein reicher und einflussreicher Industriekapitalist und Kongressabgeordneter, der damals mit einigen anderen Kapitalisten Textilfabriken errichtete. Es gab einen enormen Zustrom von MigrantInnen in die ganze USA, in Lawrence war der Anteil an MigrantInnen am höchsten. Sie kamen in die USA voller optimistischer Illusionen über ein besseres Leben, flüchteten vor Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Doch das Leben in Lawrence sah nicht besser aus. Die Arbeitsbedingungen und Löhne in den Textilfabriken ähnelten sklavischen Zuständen. Oftmals musste die gesamte Familie arbeiten, um die Mieten der überteuerten aber sehr schlechten Wohnungen überhaupt bezahlen zu können. Kinder tauschten bereits mit 13 oder 14 Jahren die Schulbank mit der Fabriksbank.

Frauen machten die Hälfte der ArbeiterInnen aus, Schwangere arbeiteten teilweise bis zur letzten Stunde vor der Entbindung in den Fabriken. Oftmals wurden die Kinder in den Fabrikhallen geboren.

Die niedrigen Löhne, durchschnittlich 12-15 Cent die Stunde, zwangen die ArbeiterInnen 56 Stunden in der Woche zu arbeiten. Das Elend spitzte sich mit einer neuen Gesetzgebung zu, als zum ersten Januar 1912 die Wochenarbeitszeit auf 54 Stunden begrenzt wurde, allerdings ohne Lohnausgleich. Das war eine heuchlerische Reaktion des Kongresses auf das Elend der ArbeiterInnen. Da das Gesetz keinen Lohnausgleich vorschrieb, konnten die Fabrikbesitzer die Löhne entsprechend senken – eine Lohnkürzung, die für viele Arbeiterfamilien sofortige Obdachlosigkeit bedeutet hätte.

Am 11. Januar wurden die ersten Wochenlöhne nach der neuen Gesetzgebung ausgezahlt. Verzweifelte Arbeiterinnen riefen ihre Kolleginnen zum Streik auf und am ersten Tag schloßen sich 2000 ArbeiterInnen zum Streik zusammen. Innerhalb der nächsten 3 Tage schloßen sich weitere 20.000 ArbeiterInnen dem Streik an und kämpften und bestreikten 12 Fabriken 9 Wochen lang für bessere Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen

Streik und Gewerkschaften

Für die bekannteste und größte Gewerkschaft, der American Federation of Labour, waren die ungelernten TextilarbeiterInnen aus über 25 Nationalitäten unmöglich zu organisieren. Sie konzentrierten sich ausschließlich auf weisse, männliche und gelernte Arbeiter und verpassten damit die Möglichkeit, in dem bedeutenden Streik eine Rolle zu spielen bzw. Millionen ungelernter MigrantInnen, einen bedeutenden Teil der amerikanischen Arbeiterklasse, zu vertreten. Die Ausgangslage des Streiks sah also so aus: ein Heer von ungelernten ArbeiterInnen aus über 25 verschiedenen Nationalitäten, völlig unerfahren in Arbeitskämpfen und noch nicht mal gewerkschaftlich organisiert, traten im Januar 1912 in einen unbefristeten Streik. Gerade mal an die 1000 Streikende gehörten der IWW, Industrial Workers of the World, an und bestimmten trotzdem den Verlauf des Streiks.

Die IWW wurde 1905 von sozialistischen, anarchistischen und linken GewerkschafterInnen als Opposition zur AFL gegründet. Die Wobblies, so wurden sie genannt, denn die verschiedensten Akzente der Mitglieder vermischten irgendwann das Ei- Dabbel Yuu-Dabbel Yuu, waren relativ unbekannt unter den migrantischen ArbeiterInnen und unbeliebt bei den AFLern. Doch der Streik in Lawrence zeigt, welche Bedeutung und Rolle eine Gewerkschaft mit einer sozialistischen Ausrichtung spielen kann.

Nationalitäten aller Fabriken vereinigt euch!

Die Wobblies schickten Joseph Ettor und Arturo Giovanitti, zwei kampferprobte Gewerkschafter, nach Lawrence. Anfangs standen die Streikenden den Gewerkschaftern skeptisch gegenüber, nur eine Minderheit war bei der IWW organisiert. Trotzdem schafften sie es mit ihren Vorschlägen, den Streik zu organisieren.

Ein Streikkomittee aus 56 Streikenden wurde demokratisch gewählt – vertreten waren nicht nur die Belegschaften der 12 Fabriken, sondern auch jeweils 4 VertreterInnen der 14 größten Nationalitäten. Für jedes einzelne Komitteemitglied gab es ein Ersatzmitglied, bei Verhaftungswellen sollte die Arbeitsfähigkeit des Komittees garantiert sein. Diverse Unterkomittees für Finanzen, Öffentlichkeitsarbeit etc. wurden formiert. Das Streikkomittee schaffte es nicht nur, sich auf täglicher Basis zu treffen, sie organisierten auch Übersetzungen auf 25 Sprachen, denn die Treffen waren öffentlich zugänglich – absolute Transparenz wurde damit geschaffen.

Die Forderungen waren: Lohnerhöhungen um 15%, eine Wochenarbeitszeit von 54 Stunden, Verdopplung des Lohns bei Überstunden und keine Diskrimierung am Arbeitsplatz.

Solidarität und Selbstorganisation ist die mächtigste Waffe…

Der 9 wöchige Streik konnte nur so lange dauern, weil sich die Streikenden selbst organisierten, für Solidarität in ihrem Städtchen und national kämpften und diesen schließlich auch erhielten. Die IWW besaß keine Streikkasse und sammelte dafür über 74.000$. Sie schickten ihre Mitglieder überall durchs Land, um über den Streik zu berichten und eine breitere Öffentlichkeit zu informieren.

Ein belgischer Bäcker in der Stadt versorgte die Streikenden kostenlos mit Brot. Suppenküchen und Versorgungszentren wurden eingerichtet.

Tausende Streikende beteiligten sich auf täglicher Basis an Kundgebungen, Demonstrationen und Versammlungen. Kinderbetreuung wurde organisiert, denn einen entscheidenden Anteil der Streikenden machten Frauen aus und ihre Entlastung war deshalb besonders wichtig.

…gegen Streikbrecher und staatliche Repression…

Der Streik hatte längst die gesamte Stadt erfasst und versetzte die Herrschenden in Angst und Schrecken. So sehr, dass der Governeur von Massachusetts das Kriegsrecht in Lawrence ausrief und sich überregionale Verstärkung aus Polizei, Miliz und Nationalgarde holte. Dies kostete den Steuerzahlern 4000$ täglich, eine Summe, die die Lohnerhöhungen finanziert hätte.

Öffentliche Versammlungen wurden kurzerhand verboten und massenhaft Streikbrecher eingesetzt. Doch die gut organisierten Streikenden ließen sich nicht einschüchtern. Die IWW ignorierte das Versammlungsverbot und organisierte Free-Speech-Kundgebungen. Streikposten wurden mit tausenden Streikenden tag täglich besetzt – als dezentrale Dauerkundgebungen, Schutz vor Streikbrechern und dauerhafte Blockade der Fabrikstore. Denn der Kampf um die Betriebe ist der Kampf um die Profite, der Achillesverse der Kapitalisten.

Je länger der Streik dauerte, desto mehr spitzte sich die Repression zu. Es gab Massenverhaftungen, brutale Angriffe der Polizei auf einzelne ArbeiterInnen und Demonstrationen – schließlich wurden auf friedliche Versammlungen geschossen. Eine Streikerin und ein Junge kamen dabei ums Leben, viele wurden verwundet. Joseph Ettor und Arturo Giovanitti wurden verhaftet und inhaftiert. Sie wurden später wegen versuchten Mordes angeklagt – was in einem Schauprozeß endete und kämpferische GewerkschafterInnen einschüchtern sollte.

Die IWW hatte mit ihrer Solidaitätskampagne viel Aufmerksamkeit auf den Streik gelenkt, viele linke Ärzte kamen nach Lawrence, um die Verwundeten kostenlos zu versorgen. Da sich die Lage zugespitzt hatte, wurden hunderte Kinder aus der Stadt gebracht. In anderen Städten hatten sich Linke, Sozialisten und Solidarisierende gefunden, die die Kinder der Streikenden bei sich aufnahmen und versorgten. Der erste Zug der Kinder warf ein schockierendes Bild auf den Zustand der Arbeiterklasse – die Kinder waren dem kalten Winter entsprechend kaum ausreichend warm gekleidet und oftmals unterernährt. Als der zweite Zug Lawrence nach New York und Chicago verlassen sollte, wurden die Kinder samt ihrer Mütter brutal von der Polizei niedergeprügelt. Das war zuviel. Die Empörung in der Öffentlichkeit war enorm und bedeutete der entscheidene Wendepunkt im Kampf.

Die Herrschenden sahen sich angesichts der breiten Empörung gezwungen, auf die Forderungen einzugehen. Die American Woolen Company, die größte Textilfabrik, machte ein Angebot am ersten März – eine Lohnerhöhung um 5%. Die Streikversammlung lehnte das Angebot am selben Tag ab und 8 Tage später wurde das nächste Angebot gemacht – eine Lohnerhöhung von 15-21% und erstmalig Einführung von Überstundenzuschlägen. Von diesem Ausgang konnten über 125.000 TextilarbeiterInnen aus 33 Städten profitieren, der Lawrence Streik wurde am 14.März beendet.

Während des Schauprozeßes gegen Joseph Ettor und Arturo Giovanitti organisierten die ArbeiterInnen in Lawrence einen eintägigen Generalstreik und erzwangen so die Freilassung der beiden.

… denn sie kämpfen für Brot und Rosen.

Der Streik ging in die Geschichte ein als der “Bread and Roses” (Brot und Rosen) Streik. Dieser Slogan wurde zum Hauptslogan des Streiks und drückt die Gewichtung und Bedeutung der Frauen, die am Streik beteiligt waren, aus. Erstmals wurde die Forderung nach Brot und Rosen am 8.März 1908 in New York gerufen, als 15.000 Frauen für ökonomische Sicherheit (Brot) und ein besseres Leben (Rosen) demonstrierten.

Die IWW schaffte damals nicht nur migrantische und ungelernte Arbeiter zu organisieren, sie integrierten Frauen in den Kampf und verstanden, sie dafür von der Doppelbelastung zu befreien.

Sozialisten und Sozialistinnen heute können mit Stolz auf diesen Kampf von vor 100 Jahren schauen, denn dieser Kampf zeigt, was ein sozialistisches Programm und das ungebrochene Vertrauen in die Arbeiterklasse erreichen können. Und gerade heute, in Zeiten der tiefsten Weltwirtschaftskrise, einer systemischen Krise des Kapitalismus und der niedrigschwelligen Organisation der Arbeiterklasse international, zeigt uns dieser Kampf den Weg vorwärts!

Ray Stannard Baker, Journalist des “American Magazine”, der damals als Beobachter nach Lawrence geschickt wurde, schrieb:

“Das war der erste Streik, den ich jemals sah, wo gesungen wurde. Ich werde nicht so schnell den kuriosen Auftrieb der Stimmung vergessen, in das das Sammelsurium der verschiedensten Nationalitäten auf den Streikversammlungen in die universale Sprache des Gesangs plötzlich verfiel. Und sie sangen nicht nur auf den Versammlungen, sondern auch in den Suppenküchen und auf den Straßen. Ich sah eine Gruppe von Frauen, die an einem Versorgungszentrum Kartoffeln schälten, wie sie plötzlich die Internationale anstimmten. Sie hatten eine ganze Reihe von Liedern dieser Art – Das achtstunden Lied; Der Banner der Arbeiter; Arbeiter, sollen die Meister uns befehlen?. Aber das beliebteste Lied war die Internationale.”