Das Dossier Wulff oder: Es gibt keinen Wulff, ohne die, die hinter ihm stehen.
Im Dezember letzten Jahres sahen wir kurz vor Weihnachten die heilige Dreieinigkeit zerfallen – Unternehmer, höchster Amtsträger der Bundesrepublik und ihre Zeitung, BILD, lagen im Clinch. Der Grund dafür: Ein geplanter Artikel der BILD über die Kreditvermittlung des Unternehmers Geerkens an den Bundespräsidenten Wullf und dessen hitziger Anruf beim Chefredakteur Kai Diekmann, mit der Aufforderung, ihn nicht zu veröffentlichen.
von René Kiesel, Berlin
In der Presseöffentlichkeit gab es einen Aufschrei über Verletzung der Pressefreiheit. Die „Wulff-Affäre“ erfuhr unterschiedliche Wahrnehmung. Während sich die arbeitende Bevölkerung wenig über die Verbindung von Staatsvertretern und Unternehmern wunderte, zweifelten Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit an der Unabhängigkeit und dem Amtsethos der Würdenträger in Deutschland. Die Politikerkaste versuchte Abstand zu gewinnen und möglichst zu vermeiden, dass ihre Verbindungen ebenfalls durchleuchtet werden.
Vor einigen Tagen wurde ein 240-seitiges Antwortpapier von Wulffs Anwälten und Sprechern herausgegeben, in dem er auf den Fragekatalog der „Welt“ eingeht. Selbst für Arbeitende, die sich dafür interessierten, dürfte es kaum möglich sein, sich dieses Pamphlet zu Gemüte zu führen.
Wer ist eigentlich dieser Christian Wulff?
Wulff wuchs in einer römisch-katholischen Familie auf und trat bereits als Schüler der Jugendorganisation der CDU, der Jungen Union (JU), bei. Er wurde deren niedersächsischer Vorsitzender und brachte es wenig später zum Bundesvorsitzenden.
Er war Gründungsmitglied des 1979 gegründeten „Andenpaktes,“ bzw. der Jungen Wilden. Dieser irreführende Name bezeichnete eine männlich-konservative Seilschaft innerhalb der CDU, der prominente CDU-Politiker wie Roland Koch, Günther Oettinger und weitere angehörten. Ziel dieser Seilschaft war es, Kandidaturabsprachen zu treffen und ein innerparteiliches Gegengewicht zu Kohl und Merkel zu bilden. Vielen hohen CDU-Politikern und Funktionären diente dieses Netzwerk als Sprungbrett nach oben. So auch dem Bundespräsidenten.
Als Ministerpräsident von Niedersachsen von 2003 bis 2010, führte das Kabinett unter seiner Führung erhebliche Verschlechterungen ein. Dazu gehörten unter anderem drastische Kürzungen im Bildungsbereich, Streichung des pauschalen Blindengeldes im Jahr 2005 und Wiedereinführung nach Protesten in geringerer Höhe. Unter seiner Feder wurde das Turboabitur im Flächenstaat eingeführt und gleichzeitig die Lernmittelfreiheit abgeschafft sowie die Ausgaben für die innere Sicherheit (vor allem bei der Polizei) erhöht. Sein Engagement für die Laufzeitverlängerung der AKWs, die im letzten Jahr nach massiven Protesten zurückgenommen werden musste, war ein weiterer Schauplatz, auf dem sich der niedersächsische Regierungschef bewegte.
Auf der einen Seite trat Wulff öffentlich dafür ein, dass vom Bankrott bedrohte Staaten die Insolvenz aus moralischen Gründen nicht heraus zögern dürften und sprach sich gegen Euro-Bonds und den Kauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank aus. Damit zählt er zu den Interessenvertretern des Flügels des deutschen Kapitals, der einen Umgang mit der Eurokrise über die Ausweitung von Rettungspaketen für zu riskant und kostspielig für deutsche Unternehmen hält und eher eine Antwort darin sieht, Länder wie Griechenland, Ungarn, u.s.w. in den Bankrott gehen zu lassen, um möglichst viel seines Kapitals zu retten.
Anders sieht es aus, wenn es um die Rettung der eigenen Banken geht. Als der Autobauer Porsche im Zuge der ersten Krisenphase 2008 vor dem drohenden Aus stand, wäre auch die Hausbank des Unternehmens gefährdet gewesen. Die Baden-Württembergische Bank (BW), Tochter der staatlichen Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), erhielt damals Schützenhilfe von Wulff. Als Ministerpräsident war er ein prominenter Vertreter im Aufsichtsrat der Volkswagen AG. Er setzte sich dafür ein, dass VW 49,9% der Aktienanteile der Porsche AG für 3,9 Mrd. Euro erwirbt und diese und möglicherweise auch die BW-Bank vor dem Bankrott rettete. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus konsequent, wenn Wulff als guter Privatkunde der BW-Bank einen günstigen Kredit als Dankeschön erhält. Nebenbei erscheint dies als einleuchtendes Beispiel dafür, dass international tätige Konzerne in Krisensituationen ziemlich genau wissen, auf welchem nationalen Boden sie stehen und wessen Unterstützung sie in Anspruch nehmen. Mal davon abgesehen, welche Unternehmerfreunde durch Dienstreisen mit dem Präsidenten gute Geschäfte machten und es ihm dankten. Eine Hand wäscht die andere.
Als „gute“ Konservative gehören nicht nur BILD-Pfaffe Peter Hahne und Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, sondern ebenso Christian Wulff dem Kuratorium der evangelikalen ProChrist-Vereinigung an. Nachdem in der Öffentlichkeit deren Ablehnung zu Evolutionstheorie, Scheidung, Schwangerschaftsabbruch und deren Einschätzung von Homosexualität als heilbare Krankheit beleuchtet wurde, ließ Wulff für die Dauer seiner Präsidentschaft seine Kuratoriumsmitgliedschaft ruhen. Daneben unterhielt er freundschaftliche Kontakte zum Arbeitskreis Christlicher Publizisten (ACP), die ein stramm homophobes, geschichtsrevisionistisches und rassistisches Programm vertreten. (Zu einer Kritik dazu siehe: http://www.heise.de/tp/artikel/32/32871/1.html)
Von einer Krise in die nächste – die schwarz-gelbe Regierung
Der Präsident der konservativ-liberalen Regierungskoalition verliert immer weiter an Zustimmung. Laut einer Umfrage von ZEIT ONLINE, die vom 18. bis zum 20. Januar durchgeführt wurde, sagten 78% der Befragten, dass Wulff die Affäre eher noch nicht überstanden hätte und 69%, dass er sein Amt eher nicht mehr angemessen ausüben könne. (siehe: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-01/umfrage-wulff-praesident).
Die Legitimationskrise des Staatsoberhauptes vertieft die politische Krise der Bundesregierung. Eine Situation, in der der Kandidat von CDU/CSU und FDP vor einem möglichen Rücktritt steht, wirkt sich auf Merkel und ihr Kabinett aus, die sich öffentlich zu Wulff bekannt haben.
Nachdem die SPD vorher die Füße still hielt, bietet sich bei einem Rücktritt Wulffs die Möglichkeit, ihren rot-grünen Gegenkandidaten Gauck wieder auf die Agenda einer Präsidentenwahl zu stellen. Bei der benannten ZEIT-Umfrage sagten 21%, dass sie Gauck wählen würden, gäbe es eine freie Wahlmöglichkeit für dieses Amt. Ein SPD-Abgeordneter, Heiner Bartling, zieht vor den niedersächsischen Staatsgerichtshof, der über einen etwaigen Verstoß Wulffs als Ministerpräsident gegen die Landesverfassung entscheiden soll. Dieser Fall würde dann eintreten, wenn das Gericht entscheidet, dass die damalige Landesregierung ihrer Auskunftspflicht gegenüber den Landtagsabgeordneten bezüglich der Beteiligung des Landes am Nord-Süd-Dialog (ein Treffen von Unternehmern, zu dem auch PolitikerInnen geladen werden) nicht nachgekommen ist. Wulff sagte als Regierungschef auf eine kleine Anfrage der SPD im Landesparlament, es hätte keine finanzielle Beteiligung gegeben, dabei bezuschusste das Bundesland die Veranstaltung. Ein Urteil hätte für Wulff keine juristischen Folgen, da die gesamte Landesregierung beklagt wäre. Die politischen Folgen für einen Bundespräsidenten, der sich nicht an die Landesverfassung gehalten hat, werden von Bartling jedoch hoch eingeschätzt.
Die BILD und ihr Präsident?
Schon im Jahr 2008 halfen sie, die Scheidung Wulffs von seiner ersten Frau und die Hochzeit mit Bettina Körner nicht zum Bruchpunkt mit der konservativen Öffentlichkeit werden zu lassen. Eine wohlwollend neutrale Berichterstattung über Christian Wulff wurde immer wieder abgelöst durch eine Ikonisierung der heutigen „First Lady“. Nach der von seinen erzkonservativen Freunden sonst so verteufelten Scheidung, erhielt er durch den Springer-Verlag die Absolution.
Liest man allerdings die Artikel aus der Zeit um die Präsidentenwahl im Sommer 2010, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die BILD-Zeitung den Gegenkandidaten Joachim Gauck bevorzugt hat. Möglicherweise liegen dessen Befürwortung von Sarrazins Aussagen und sein konsequenter Antikommunismus näher an der politischen Ausrichtung des Springer-Konzerns. Es ergab sich nach der erfolgreichen Wahl dennoch eine Medienpartnerschaft zwischen den Springer-Zeitungen und Wulff. Fotojournalisten besagter Zeitung durften ihn während seiner Amtseinführung begleiten und Fotoserien darüber veröffentlichen.
Während seiner Ansprache am 03. Oktober 2010, dürfte Wulff mit seiner Aussage, dass „der Islam […] inzwischen auch zu Deutschland“ gehöre, einigen Konservativen vor den Kopf gestoßen haben.
Die BILD ist nicht die zuverlässigste Bündnispartnerin. Es mag zu bezweifeln sein, dass es nicht des Öfteren vorkommt, dass hochrangige Amts- und Würdenträger in Staat und Wirtschaft mit entsprechenden RedakteurInnen Absprachen über die Veröffentlichung von Artikeln treffen. Dennoch ist der Versuch des Bundespräsidenten, derart in die Veröffentlichung eines Artikels einzugreifen, ein Skandal.
Möglicherweise mag das wirtschaftliche Interesse der Zeitung im Angesicht eines solchen Skandals letztendlich über den Bedarf an guten Beziehungen zum Bundespräsident gegangen sein. Darüber kann nur gemutmaßt werden. Was jedoch mit ziemlicher Sicherheit gesagt werden kann, ist, dass die BILD ihren Einfluss, den sie vorher zum Schutze Wulffs einsetzte, nun gegen ihn geltend macht. Der Anruf kann als gute Gelegenheit genutzt worden sein, einem zu weichen Bundespräsidenten klar zu machen, welches die politische Linie des Springer-Verlags ist.
Doch bei allem Gezeter, dass nun von allen Ecken und Enden der Medienlandschaft zu vernehmen ist, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass BILD, Welt und Co. ganz öffentlich Absprachen mit Christian Wulff treffen. Das allerdings wird als Einvernehmen und Rücksichtnahme dargestellt.
Nur eine Frage: wie viele wütende LeserInnen rufen jeden Tag in der BILD-Redaktion an, um sich über einen Artikel zu beschweren, ohne, dass darauf reagiert wird?
Über die Pressefreiheit
„Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten… Da die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften immer größeres Kapital erfordert, wird der Kreis der Personen, die Presseorgane herausgeben, immer kleiner. Damit wird unsere Abhängigkeit immer größer und immer gefährlicher…“ schrieb Paul Sethe in einem Leserbrief an den „Spiegel“ im Jahr 1965. Sethe war einer der fünf Gründungsherausgeber der konservativen Tageszeitung „Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ).“
Die nachvollziehbare Reaktion auf eine redaktionelle Haltung, die nicht der eigenen entspricht, wäre die, einfach das Abonnement der entsprechenden Zeitung zu kündigen und damit seinen Einfluss als Kunde geltend zu machen. Der Meinungsmarkt regelt das. Oder doch nicht?
Zwar machen bei BILD der Verkauf auf der Straße und in den Kiosken sowie die Abos einen Anteil aus (wie bei anderen Zeitungen). Jedoch darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei einem Anzeigenpreis von 414.500,00 Euro pro Seite (Quelle: http://www.axelspringer-mediapilot.de/artikel/BILD-Preise-Formate-2012-BILD_2132981.html) wohl zu verschmerzen ist, sollten ein paar Abos wegfallen. Anders sähe es aus, würde ein prominenter Anzeigenkunde seinen Vertrag etwa wegen einer unangenehmen oder kritischen Berichterstattung zurückziehen. Die BILD ist nicht die einzige Zeitung, die von Anzeigenkunden lebt, aber ein gutes Beispiel, da sie besonders viel Werbung enthält. Bei einer derart kommerziellen und profitorientierten Ausrichtung der Zeitung, muss die Frage gestattet sein, wie viel Pressefreiheit in der Presse steckt.
Im Jahr 2001 wurde ein Fall offenbar, bei dem die Lufthansa sich für ihre Interessen stark machte. Sie hatte ein Großabonnement bei der „Süddeutschen Zeitung“. Diese wurde an alle Fluggäste auf dem Gate oder direkt im Flugzeug verteilt. Dann gab es einen Pilotenstreik, geführt von der Vereinigung Cockpit. Die Lufthansa befand die Berichte darüber in der „Süddeutschen“ zeigten zu wenig Verständnis für die Haltung der Geschäftsführung. Daraufhin wurden 10.000 Abonnements gekündigt (Stellungnahme der Redaktion: http://www.211nff.de/presse.htm.)
Oben angeführte Beispiele zeigen, dass die Moral Wulffs, als auch der bürgerlichen Presse eine doppelte ist und wer oder welches Interesse wirklich hinter ihnen steht. Die „Wahl“ zwischen Wulff und dem, was als Pressefreiheit bezeichnet wird, ist also keine wirkliche.
Umgekehrt sollte nicht der Schluss gezogen werden, dass die Pressefreiheit als eines der bürgerlich-demokratischen Rechte, welches einen Fortschritt gegenüber der feudalen Selbstherrlichkeit und Zensur darstellt, wertlos wäre. In jedem Fall sollte dafür eingetreten werden, dieses Recht zu verteidigen. Es macht einen großen Unterschied, ob eine kritische oder linke Zeitung ihre Artikel allen zugänglich veröffentlichen kann, oder ob sie der Zensur zum Opfer fallen.
Verflechtung von Wirtschaft und Staat
Lenin schrieb 1917 in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“:
„Die „Personalunion“ der Banken mit der Industrie findet ihre Ergänzung in der „Personalunion“ der einen wie der anderen Gesellschaften mit der Regierung. Jeidels schreibt: „Freiwillig werden Aufsichtsratsstellen gewährt an Personen mit gut klingenden Namen, auch ehemaligen Staatsbeamten, die im Verkehr mit den Behörden manche Erleichterung (!!) schaffen können“… „Im Aufsichtsrat einer Großbank sieht man gewöhnlich … ein Parlamentsmitglied oder ein Mitglied der Berliner Stadtverwaltung“.
Wollen wir am naheliegenden Beispiel der Volkswagen AG, als einer der bedeutendsten deutschen Konzerne, mit Sitz in Niedersachsen prüfen, inwiefern es auf dieses Unternehmen zutrifft.
Schaut man auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrates, die maßgeblich von der Höhe des Aktienbesitzes und dem Mitbestimmungsgesetz geregelt wird, an, so ergibt sich ein klares Bild.
Für das Land Niedersachsen, das über eine Tochtergesellschaft 20,01 % der Anteile der Volkswagen AG während Wulffs Regentschaft erworben hat, sitzen als Wulffs Nachfolger der niedersächsische Ministerpräsident David McAllister und Wirtschafts-, Arbeits- und Verkehrsminister Jörg Bode im Aufsichtsrat. Bode ist gleichzeitig im „Ausschuss für Geschäfte mit Großaktionären“ tätig. Für die Skandinaviska Enskilda Banken AB, hierzulande besser als SEB-Bank bekannt, sitzt deren Präsidentin und Vorstandsvorsitzende im gleichen Gremium. (Quellen: http://www.volkswagenag.com/content/vwcorp/content/de/the_group/senior_management.html und http://www.volkswagenag.com/content/vwcorp/content/de/the_group/senior_management/committees.html)
Dies ist kein Einzelfall, denn viele Beteiligungsgesellschaften weisen eine ähnliche Struktur auf. Der ehemalige SPD-Finanzsenator in Berlin und Verfasser der Schmähschrift gegen Muslime, Arme und alle, die nicht in sein sozialdarwinistisches Weltbild passen, Thilo Sarrazin hatte 46 „Nebenjobs“. Darunter fielen Posten in Berliner Immobiliengesellschaften und Banken. (http://www.bz-berlin.de/archiv/finanzsenator-thilo-sarrazin-article326235.html)
Durch diese leicht zugänglichen Informationen und die Zusammenhänge, die dadurch deutlich werden, wird die Frage aufgeworfen, wem dieser Staat, bzw. wem die Repräsentanten des Staates und sogenannte Volksvertreter wirklich dienen. Der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung oder der Minderheit der Kapitalistenklasse, die alle wirtschaftliche Macht in ihren Händen vereint?
Eine Auseinandersetzung mit der marxistischen Staatstheorie würde über den Rahmen des Artikels hinausgehen. Daher sei nur kurz gesagt, dass die Kapitalistenklasse diesen Staat als Ordnungshüter benötigt, so sehr liberale Wirtschaftstheoretiker dessen Rückzug aus wirtschaftlichen Belangen auch beschwören mögen.
Während der ersten Phase der aktuellen Weltwirtschaftskrise wurde plötzlich klar, dass es Banken gibt, die „too big to fail,“ (zu groß, um kaputt zu gehen) sind. Das Risiko, dass eine Unternehmenspleite dieser Dimension das gesamte kapitalistische Gebilde in Gefahr bringt, war zu hoch, als dass man auf ihre Rettung hätte verzichten können. Es wurde ganz unverblümt zugegeben, dass die Banken systemrelevant wären. Um während der Krise der Gegenwehr der Arbeiterklasse entgegen zu wirken, legte man Kurzarbeitergeld und Konjunkturprogramme staatlicherseits auf, über deren Höhe vorher alle Wirtschaftsliberalen ihre weisen Köpfe geschüttelt hätten. Wie sich in Tunesien, Ägypten und Griechenland zeigte, bringen Massenstreiks und Proteste der Arbeiterklasse das herrschende System ins Wanken.
Geht es um die Sicherung ihrer eigenen Macht, vergessen die Kapitalisten leicht ihre Worte von gestern. Zur Sicherung des gesamten System, agiert der Staat in den Worten Friedrich Engels" als „ideeller Gesamtkapitalist“ und schreckt selbst vor Verstaatlichungen nicht zurück. Eine persönliche Einbeziehung politischer VertreterInnen in den Mechanismus der Konzerne in Form von Vorständen und Aufsichtsräten scheint daher nur logisch.
Es geht dabei nicht nur um die Systemerhaltung selbst, sondern um die Durchsetzung ihrer Interessen und Ausweitung ihres Einflusses. Was harmlos Lobbyismus genannt wird, wirkt sich in der Gesetzgebung aus, wenn beispielsweise Wirtschaftskanzleien Gesetzesvorlagen verfassen, die dann beschlossen werden. Im schlimmsten Falle geht der Kampf um die Interessen der Konzerne bis in den Krieg, wenn Märkte neu erschlossen oder aufgeteilt werden müssen, um noch mehr Profit zu generieren und im Wettrennen mit anderen Unternehmen standzuhalten. Der Staat als Organisator der bewaffneten Gruppen, Polizei und Armee, und Exekutive nach innen und gegenüber allen anderen Staaten, ob friedlich oder feindlich gesinnt, erfüllt eine unersetzliche Funktion.
Entflechten oder Abschaffen?
Immer wieder werden die Verflechtungen von Staat und Wirtschaft deutlich. Man kann die Uhr danach stellen, dass nach jedem Bekanntwerden eines solchen Falls, kurz darauf die Forderung laut wird, dass doch endlich diese verfluchte Verbindung von PolitikerInnen und der Wirtschaft durchbrochen und beendet werden muss. Von Bürgerlichen wird der moralische Zeigefinger erhoben. Dabei ist diese Verbindung weder etwas Neues, noch eine Ausnahme. Sie ist ganz alltäglich und immer vorhanden.
In den Lehrbüchern, die einem an Schule und Universität vor die Nase gehalten werden, erhebt sich der Staat bis zu einem gewissen Grad über die Gesellschaft. Tatsächlich regelt er die Beziehungen der Gesellschaft. Ihm obliegt es, Verstöße zu ahnden und die gesellschaftlichen Beziehungen juristisch festzulegen. Was dem zugrunde liegt, sind die realen Beziehungen in der Gesellschaft, das reale Machtgefüge.
Ist es vorstellbar, dass der Staat sich tatsächlich in einer Klassengesellschaft, in der die große arbeitende Mehrheit einer besitzenden Klasse gegenübersteht, die alle Produktionsmittel und Reichtümer auf sich vereint und die Verfügungsgewalt darüber hat, über die Klassen erhebt?
Ein Staat, der gänzlich unabhängig von realen Machtverhältnissen ist, existiert höchstens in der Theorie. Wie könnte er unabhängig von jenen sein, die über die Produktion bestimmen, in deren Macht es liegt tausende von ArbeiterInnen in die Arbeitslosigkeit und Armut zu stürzen, die den Warenverkehr regeln, die entscheiden was und wie produziert wird? Dieses Gebilde zu entflechten, bei dem die staatlichen VertreterInnen obendrein für gute Arbeit entsprechend entlohnt werden (siehe Wulff), ist schwer vorstellbar.
Die einzige Alternative, die dazu bleibt, ist das Machtverhältnis in der Gesellschaft zu verändern. Das bedeutet, dass vor allem die Arbeiterklasse als Mehrheit der Gesellschaft die Macht über die Produktion erlangt und entscheidet, nach welchen Prämissen produziert wird. An Profit orientiert oder nach den Bedürfnissen der Menschen und der Umwelt. Das bedeutet, dass die Mehrheit demokratisch entscheiden und planen muss, um dem Gerecht zu werden. Das bedeutet aber auch, dass der bürgerliche Staat seine grundlegenden Funktionen als Instrument zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Herrschaft nicht mehr erfüllen kann. Er muss dementsprechend abgeschafft und durch einen wirklich demokratischen Arbeiterstaat, der den Bedürfnissen der Mehrheit entspricht, ersetzt werden.