der Widerstand gegen Stuttgart 21 geht weiter
von Ursel Beck und Wolfram Klein, Stuttgart
Wer dachte, der Widerstand gegen Stuttgart 21 werde nach der verlorenen Volksabstimmung zusammenbrechen, hat sich geirrt. Der geplante schnelle Durchmarsch der Bahn – Abriss des Südflügels plus Räumung und Abholzung des Mittleren Schlossgartens – ist geplatzt. Trotzdem wird die Zerstörung des Südflügels vorbereitet und in der Nacht zum 22. Januar wurden etwa 30 Bäume gefällt.
Die Volksabstimmung war ein deutlicher Rückschlag für die Bewegung. Landesweit stimmte eine deutliche und in Stuttgart eine knappe Mehrheit gegen den Ausstieg des Landes aus dem Projekt. Das hatte besonders Rückwirkung auf die Schichten der Bevölkerung, die Stuttgart 21 ablehnen, aber nicht in der Bewegung aktiv sind oder nur sporadisch an Demonstrationen teilnehmen. Der harte Kern von tausenden AktivistInnen hat diese Niederlage dagegen erstaunlich gut weggesteckt.
Das wurde durch Rückenwind von unerwarteter Seite unterstützt. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim stoppte am 16. Dezember erneut die Bauarbeiten am sogenannten „Grundwassermanagement“. Anfang Januar wurde auch klar, dass das Fällen der Bäume im Schlossgarten illegal wäre. Eine weitere Gerichtsentscheidung verschob die Räumung des Zeltdorfs im Schlossgarten.
Solche Gerichtsentscheidungen schüren vielleicht bei einigen AktivistInnen Illusionen in die bürgerliche Justiz. Aber vor allem zeigen diese Entscheidungen, die durch Klagen des BUND und anderer AktivistInnen gegen Stuttgart 21 zustande kommen, wie sehr die Landesregierung Stuttgart 21 verzögern könnte, wenn sie nur auf der Einhaltung von Recht und Gesetz bestehen würde. Der ehemalige Richter Christoph Strecker sagte dazu:
"Wenn die Landesregierung für den Abbruch des Südflügels und das Fällen der Bäume die Polizei einsetzt, dann tut sie das nicht, weil sie hierzu rechtlich verpflichtet wäre, sondern weil sie das Projekt Stuttgart 21 gegen Einwände und Widerstände durchsetzen will und weil sie die Macht hat, sich hierfür der Polizei zu bedienen. Sie könnte stattdessen auch der Bahn vorläufig den Abbruch des Südflügels und das Fällen der Bäume untersagen."
Kein Wunder, wenn sich die Hoffnungen auf die Grünen-SPD-Regierung im Sturzflug befinden.
Zerstörung trotz Planungschaos
Die Regierung und die ihr unterstehende Polizei hatten mit Feuereifer den Großeinsatz zur Räumung des Schlossgartens und Absperrung des Südflügels vorbereitet, den sie dann abblasen mussten. Stattdessen konnte in der Nacht zum 13. Januar „nur“ der Südflügel abgesperrt und ein Bauzaun errichtet werden. Geräumt wurde der Südflügel bereits im Herbst 2010! Seitdem stand er leer.
Und neun Nächte später wurden etwa 30 Bäume beim Wagenburgtunnel neben dem Mittleren Schlossgarten gefällt. Das war der erste Angriff auf die Bäume seit der „Verpflanzung“ von Bäumen auf dem Parkplatz beim Nordausgang des Hauptbahnhofs. Sie wurden herausgerissen, der Großteil ihres Feinwurzelwerks zerstört, dann wurden sie an anderen Stellen dilettantisch wieder eingepflanzt. Landschaftsgärtner sagen voraus, dass sie einen kalten Winter oder heißen Sommer nicht überleben werden. Begründet wurde das mit dem Bau des „Technikgebäudes“ für Stuttgart 21 an dieser Stelle. Tatsächlich hat die Firma Wolff&Müller den Bauauftrag wieder zurückgegeben. Jetzt wird verzweifelt eine andere Firma gesucht, die zu den unrealistischen Konditionen der Bahn (die vortäuschen sollen, dass sich Stuttgart 21 mit den offiziell behaupteten Kosten bauen lässt) den Auftrag übernimmt. Für andere zentrale Bauaufträge wie den „Nesenbach-Düker“ hat es noch nie einen Interessenten gegeben. Die Bäume dort fehlen also schon seit fast einem Jahr für das Stadtklima der Stuttgarter Innenstadt ohne dass an der Stelle der Bau begonnen hätte. Autos parken dort weiterhin.
Und jetzt wurden erneut Bäume in der Innenstadt gefällt, um den Bau von einem Ende eines Tunnels in Angriff nehmen zu können, während die Planung für das andere Tunnelende im Chaos versinkt, selbst Stuttgart-21-Befürworter umfangreiche Änderungen fordern und dort nichts genehmigt ist. Muss man mehr dazu sagen, was für ein Chaos dieses „bestgeplante Bauprojekt“ der Bahn ist?
Der Abriss des Südflügels und damit die weitere Verstümmelung des denkmalgeschützten Hauptbahnhofs wird sich wohl nicht verhindern lassen. Aber Blockaden werden den Abriss verzögern können und den Projektbetreibern klar machen, dass Blockaden so lange stattfinden, bis der Bau gestoppt ist.
Zugleich versucht die Bahn im Eiltempo die Voraussetzungen zu schaffen, um noch vor Beginn der Vegetationszeit (März bis September) die Bäume im Schlossgarten zu fällen. In der Vegetationsperiode braucht die Bahn eine Sondergenehmigung. In jedem Fall würde es als Provokation verstanden. Der BUND geht juristisch gegen die in Eile zusammengeschriebenen neuen „Unterlagen“ der Bahn zum Artenschutz vor. Wir können uns überhaupt nicht darauf verlassen, dass das Eisenbahnbundesamt oder Gerichte diese Einwendungen ernst nehmen, aber es ist möglich, dass die Bäume bis zum Herbst oder Winter gerettet werden können. Der Bewegung kommt auch zugute, dass am 7. Oktober OB-Wahlen in Stuttgart sind.
Abgerissene Gebäude kann man wieder aufbauen, gefällte bis zu 200 Jahre alte Bäume wären unwiederbringlich verloren. Wenn jetzt die Parkbäume gefällt würden, würde das viele AktivistInnen entmutigen und die Bewegung für eine ganze Periode deutlich schwächen. Wenn jetzt „nur“ der Südflügel zerstört wird, wird das keine vergleichbare Wirkung haben. Und in den Monaten kann viel passieren, was der Bewegung neuen Auftrieb geben kann. Stuttgart 21 wird neue Skandale produzieren, die weltweite kapitalistische Krise wird sich früher oder später stark auf das extrem exportabhängige Baden-Württemberg auswirken. Wenn in der Folge dieser Krise die Wirtschaftsbosse Arbeitsplätze vernichten, werden sie unglaubwürdig in ihrer S-21-Propaganda. Wenn die Steuereinnahmen bei Land und Stadt einbrechen und Sozial-Kahlschlag auf die Tagesordnung kommt, werden immer weniger Leute Verständnis dafür haben, dass gleichzeitig Milliarden für Stuttgart 21 vergraben werden sollen. Wenn jetzt noch viele zweifeln, ob nach der Volksabstimmung Widerstand weiterhin legitim ist, können diese Zweifel in ein paar Monaten bei vielen verschwunden sein.
Der Widerstand geht weiter
Das Rückgrat des Widerstandes gegen Stuttgart 21 sind weiter die Montagsdemos. Die ersten beiden im neuen Jahr hatten gut 3.000 TeilnehmerInnen, am 16. Januar – der Montagsdemo nach der Absperrung des Südflügels, die daher nicht vor dem Südflügel sondern daneben im Schlossgarten stattfand – waren es 4.000 TeilnehmerInnen.
Am 7. Januar gab es eine Demonstration vom Schlossplatz zum Südflügel mit ebenfalls etwa 3.000 TeilnehmerInnen. Am folgenden Tag organisierten die Cannstatter gegen Stuttgart 21 eine politisch-satirische Aktion „Check-in in Containamo“. Nach dem Vorbild deutscher TouristInnen, die bekanntlich dafür berüchtigt sind, sich am Strand im Voraus die besten Plätze zu reservieren, zogen gut 500 AktivistInnen zum Containerdorf, das unsere fürsorgliche Polizei beim Cannstatter Wasen für Stuttgart-21-GegnerInnen errichtet hat, um sich dort die besten Plätze zu reservieren.
Weder die Drohung von 9.000 Polizisten, noch die Knast-Container auf dem Cannstatter Wasen hielten 1.000 S-21-Gegner davon ab, in der Nacht vom 12. auf 13. Februar der Polizei bei der Absperrung des Südflügels mit der größten Blockade seit dem 30.9. 2010 zuvorzukommen. Der Versuch der Polizei mit einem martialische und gespenstischen Aufmarsch Leute einzuschüchtern scheiterte ebenso wie die unzähligen Aufrufe der Polizei bei freiem Geleit und ohne Personalienfeststellung das abzusperrende Gelände zu verlassen. Mehrere hundert blieben die ganze Nacht. Viele gingen am Freitagmorgen direkt von der Blockade zur Arbeit. Zwei äußerst mutige Frauen ketteten sich mit Fahrradschlössern um den Hals an Fenstergitter und harrten die ganze Nacht aus. Nach 8.00 Uhr am Morgen wurde ihre Widerstandsaktion von der Polizei mit einer Flex beendet. Mit einer Übermacht von 1.900 Polizisten und eines wochenlang minutiös vorgeplanten Einsatzes konnte die Staatsmacht den Widerstand in dieser Nacht am Ende brechen. Der Stuttgarter Polizeichef, sein Pressesprecher, Oberstaatsanwalt Häußler, alle waren sie persönlich in dieser Nacht präsent. Die Bilder des 30.9. sollten sich nicht wiederholen. Die Polizei wollte sich mit dem Einsatz vom Schwarzen Donnerstag reinwaschen. Sobald die Medien ihre Bilder im Kasten hatten und abgezogen waren, wurde der Schalter umgelegt. Beim Wegtragen wurden Schmerzgriffe angewandt. Wegen Lappalien wie Beleidigung oder Pfefferspray, das beim Durchsuchen von Taschen gefunden wurde, wurden Leute festgenommen. Abseits von den „eingebetteten Journalisten“ wurde zu Beginn des Polizeieinsatzes überfallartig von einem großen Trupp Polizisten in Kampfmontur die Räumung der Zelte vorgetäuscht. Dahinter stand wohl die Absicht, Leute vom Südflügel in den Park zu lenken. Diese Provokation scheiterte jämmerlich.
Für besondere Heiterkeit sorgte ein Bericht der Stuttgarter Zeitung in der Ausgabe für den folgenden Tag, der schon vor Mitternacht den Ablauf der folgenden Stunden schilderte. Es stellte sich aber heraus, dass er nicht ganz korrekt war: die Polizei brauchte wesentlich länger, um den Platz zu räumen. Im Vorfeld hatte es Empörung gegeben, weil die Polizei „embedded journalists“ eingeladen hatte (eine Praxis, die bekanntlich die US-Armee im Irak-Krieg erfand) und damit die Pressefreiheit für die übrigen JournalistInnen einschränkte. Jetzt kursiert der Witz, dass diese eingebetteten Journalisten so heißen, weil die Polizei ihnen aufschreibt, was passieren wird, und sie dann ins Bett gehen können. Die Polizei schreibt in ihrer Presseerklärung, dass 79 Personen, der Aufforderung den Platz zu verlassen, nicht gefolgt seien, und sich hätten wegtragen bzw. wegführen lassen. Diese Zahl ist anzuzweifeln. Interessanterweise hatte die Polizei allerdings kein Interesse bei hunderten von Leuten die Prozedur von Personalienfeststellung und Platzverweis durchzuführen. Pausenlos wurden sogenannte Anti-Konflikt-Teams durch die Reihen geschickt, um Blockierer einzusülzen, doch jetzt bitte so freundlich zu sein, den Platz zu verlassen. Wir würden dann ja auch Geld sparen und würden uns nicht strafbar machen. Das sei doch schließlich in unserem eigenen Interesse. Es wurde versucht, die Trommler mit „Rücksicht auf ihre Instrumente“ zum Weggehen zu überreden. Vergebens. Und unglaublich aber wahr: Blockierer wurden selbst dann noch als die Polizisten schon zum Wegtragen bzw. Wegführen vor ihnen standen, angeboten den Platz unbehelligt und ohne Kosten und Platzverweis zu verlassen, wenn sie jetzt gingen. Und das nachdem uns die ganze Nacht x mal über Lautsprecher von der Polizei erklärt wurde, wir würden uns an einer verbotenen Versammlung beteiligen. Das ist eigentlich nur so zu erklären, dass Polizei und Staatsanwaltschaft in Anbetracht von laut Jura-AK 4.500 laufenden Verfahren gegen S 21-Gegner keine Lust hatte die Aktenberge, deren Abarbeitung ein fast undurchführbares Unterfangen ist, um mehrere hundert Akten zu erhöhen. Von 2.50 Uhr bis nach 8.00 Uhr hat die Polizei gebraucht, den Platz zu räumen.
Neujahrsempfang bei Kretschmann
Unter dem Motto „Schaden abwenden und Abriss verhindern statt Sekt schlürfen, Herr Kretschmann“ besuchten am 14. Januar 1000 AktivistInnen den Neujahrsempfang von Ministerpräsident Kretschmann. Als Zeichen der Verachtung seiner Politik in Sachen S 21 wurden Kretschmann Schuhe gezeigt. Bei der Kundgebung gab es Sprechchöre „Nie wieder grün“. Und Hannes Rockenbauch erklärte: „Wenn wir „oben bleiben“ gesagt haben, dann haben wir nicht gemeint Oben bleiben an der Regierung und das um jeden Preis. Sondern da haben wir gemeint, wir wollen diesen Bahnhof nicht! Und dann gilt auch für diese Landesregierung; Ihr werdet uns nicht los, wir euch schon!“ Leider nahmen einige Sprecher der Bewegung einen auf Kretschmanns Bodyguard geworfenen Espandrillo zum Anlass zu exzessiven Entschuldigungen.
Widerstand gegen Baumfällung
Die Bewegung gegen Stuttgart 21 war seit der Volksabstimmung auf die Verteidigung des Südflügels und der Bäume im Schlossgarten fokussiert. Die Bahn eröffnet jetzt allerdings parallel mehrere Baustellen. Am 21. Januar war wieder eine Kundgebung gegen Stuttgart 21 mit etwa 4.000 TeilnehmerInnen. Trotz Videoüberwachung des gesamten Bahnhofsareals und trotz starker Polizeipräsenz war es Parschützern gelungen während der Kundgebung an der Bahnhofsfassade zur Begeisterung der Teilnehmer ein großes Transparent anzubringen. Der Moderator und Sprecher des Aktionsbündnis, Hannes Rockenbach, informierte die Anwesenden darüber, dass noch in der Nacht die Bäume am Wagenburg-Tunnel gefällt werden könnten. Daraufhin zogen im Anschluss an die Kundgebung am Nachmittag Hunderte DemonstrantInnen zum Gebhard-Müller-Platz vor dem Wagenburgtunnel und blockierten ihn und die angrenzende Grünfläche, auf der 31 Bäume gefällt werden sollten. Gegen 21.00 Uhr marschierten Hundertschaften der Polizei auf und zogen eine Kette mitten durch die Demonstranten. Dadurch waren nur noch ca. 50 Aktivisten auf dem Platz der wegen Baumfällarbeiten abgesperrt werden sollte. Bis um 1.00 Uhr war die Polizei beschäftigt, den Platz abzusperren, zu räumen, Personalien aufzunehmen und Platzverweise zu erteilen. Nach der Räumung gelang es zwei Aktivisten wieder auf das Gelände zu gelangen. Einer davon besetzte den Greifarm eines Baggers und musste durch ein Sondereinsatzkommando geräumt werden. Durch die gesamte Aktion wurden die Bauarbeiten um drei bis vier Stunden verzögert.
S21 kritisch begleiten? S21 stoppen!
Trotz der enormen Ausdauer gibt es in der Bewegung gegen Stuttgart 21 Probleme. Das Aktionsbündnis preist es als großen Erfolg, dass es auch nach der Volksabstimmung zusammengeblieben ist, bis hin zu den Grünen. Aber Einheit ist kein Selbstzweck. Als Ende 2010 Heiner Geißler seinen berüchtigten „Schlichterspruch“ mit Stuttgart 21 plus verkündete, hat die Bewegung das zu Recht abgelehnt (bis auf ein paar Grüne Spitzenpolitiker). Inzwischen hat die Bahn ihre Zusagen, die von Geißler angemahnten Verbesserungen umzusetzen, Stück für Stück fallen gelassen. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck davon, dass Stuttgart 21 ein so verkorkstes Projekt ist, dass man es nicht grundlegend verbessern, sondern nur stoppen kann. Wenn jetzt Teile der Bewegung davon reden, Stuttgart 21 kritisch zu begleiten, dann schüren sie genau die Illusion, durch Detailkritik grundlegende Verbesserungen, irgendein Stuttgart 21 plus erreichen zu können. Dann erwecken sie den Eindruck, die Warnungen der letzten Jahre vor den zerstörerischen Folgen von Stuttgart 21 seien nicht ernst gemeint gewesen.
Am 4. Dezember hatte das Aktionsbündnis zu einem „Großen Ratschlag“ eingeladen, zu dem über 700 AktivistInnen kamen. Ein Ergebnis war, dass die überwältigende Mehrheit für die Fortsetzung der Montagsdemos war. Trotzdem hat sich das Aktionsbündnis aus der Organisation der Montagsdemos zurück gezogen, die jetzt von Parkschützern und anderen Gruppen organisiert werden – mit ähnlich vielen TeilnehmerInnen wie die Aktionsbündnis-Demo am 7. Januar. Die Folge davon ist bisher, dass das Aktionsbündnis deutlich an Bedeutung verloren hat. Bei Montagsdemos kommen jetzt RednerInnen der Basis der Bewegung zu Wort. Des Weiteren gibt es die Chance für eine demokratische Neuformierung der zahlreichen und immer noch sehr aktiven Gruppen des Widerstands.