Explosion der Wut

Großbritannien: Im Land von Kahlschlag, Korruption und Polizeigewalt


 

Dieser britische Sommer war extrem ereignisreich. Zuerst enthüllte der Abhörskandal um den Medienmogul Rupert Murdoch die korrupten Verbindungen zwischen Politik, Staatsapparat und den Medien. Dann erschütterten Jugendausschreitungen das Land, eine Woche lang breiteten sie sich von London auf jede größere Stadt Englands aus.

von Christian Bunke, Manchester

Die Ausschreitungen begannen Anfang August als Wutausbruch im Londoner Stadtteil Tottenham gegen einen weiteren Toten in den Händen der Polizei. 100 Menschen starben in den letzten fünf Jahren in Polizeigewahrsam. Die wenigsten Fälle wurden aufgeklärt.

Brutalität des Staatsapparates

Jüngstes Opfer war der Migrant Mark Duggan, der von der Polizei aus nächster Nähe erschossen wurde. FreundInnen und Verwandte organisierten daraufhin am Samstag, den 6. August eine Kundgebung vor der Polizeiwache in Tottenham. Sie wollten mit einem führenden Polizeioffizier über den Vorfall reden. Um 17 Uhr begann die Kundgebung. Um 21 Uhr warteten die Menschen immer noch. Als einige Polizisten dann provozierten, kam es zur Eskalation.

Die im Anschluss einsetzenden Unruhen spülten über Jahre verdeckte Frustrationen der Jugend an die Oberfläche. Tottenham hat eine Jugenderwerbslosigkeit von 25 Prozent. In ganz Großbritannien liegt diese Zahl bei 20,2 Prozent. Das sind 949.000 erwerbslose junge Menschen.

Beispiellose Rotstiftpolitik

Für diese Situation sind alle neoliberalen Regierungen seit Margaret Thatcher verantwortlich. Auch die Labour-Regierungen unter Tony Blair und Gordon Brown. Die jetzt durchgeführten Kürzungen gießen aber massiv Öl ins Feuer. Die von David Cameron geführte liberal-konservative Koalitionsregierung will in vier Jahren die staatliche Neuverschuldung auf null Prozent senken. Dafür wird alles, was vom britischen Sozialstaat noch übrig ist, zerlegt.

So werden in Manchester und Salford alle Jugendeinrichtungen ersatzlos gestrichen. In Camerons eigenem Wahlkreis in Oxfordshire streiken JugendarbeiterInnen, um Einrichtungen zu retten.

Im Bildungswesen wird das Erlangen einer akademischen Qualifikation für die meisten zum Ding der Unmöglichkeit. Ab 2012 erhöhen viele Universitäten die Studiengebühren auf 9.000 Pfund pro Jahr, weil ihnen das Lehrbudget um 80 Prozent gekürzt wird. Viele Kurse werden ersatzlos gestrichen. Derzeit kämpfen rund 100.000 SchulabgängerInnen um 20.000 Studienplätze. Die meisten von ihnen werden bald in der Erwerbslosenstatistik auftauchen.

Cameron – „Ein Mann sieht rot“

Der Millionär und Premierminister Cameron spielte während und nach den Krawallen den Moralapostel. Er sprach von „hirnloser Kriminalität“ und davon, sich bei der Strafverfolgung nicht durch „Menschenrechtsblödsinn“ aufhalten lassen zu wollen. Er forderte den Einsatz der Armee und den Ausbau der Polizei zur Bürgerkriegstruppe. Dumm nur, dass auch bei der Polizei Tausende Stellen wegen der Kürzungen abgebaut werden.

Rund 2.000 überwiegend erwerbslose Jugendliche wurden bislang inhaftiert und wegen teils sehr kleiner Delikte für Monate oder Jahre ins Gefängnis gesteckt: Sechs Monate Haft für eine junge Frau, die eine 3,50 Pfund teure Wasserflasche klaute; vier Jahre Haft für zwei junge Männer, die auf Facebook über die Unruhen posteten. Unter den so Inhaftierten sind viele Minderjährige.

Für massenhaften, organisierten Widerstand gegen Sozialraub

Die Gewerkschaft für Staatsangestellte (PCS) schrieb in einer Stellungnahme richtigerweise: „Sich über die Ursachen der Krawalle Gedanken zu machen, bedeutet nicht, sie gut zu heißen. (…) Das viel größere Problem als die Jugendlichen ist aber die Kriminalität der Eliten aus Finanz und Politik.“ Cameron behauptet hingegen, für die Krawalle gäbe es keine sozialen Ursachen. Das sehen die 3.000 DemonstrantInnen anders, die nach den Unruhen auch auf Initiative der Socialist Party hin durch London demonstrierten und Widerstand gegen Sozialabbau sowie ein Ende der Repression gegen Jugendliche forderten.

Für die britischen Gewerkschaften müssen die Ausschreitungen ein Warnsignal sein. Viel wurde über Massenstreiks im Herbst geredet, doch die Führungsspitzen des Gewerkschaftsbundes TUC verschleppen die Umsetzung dieser Worte in Taten. Am 11. September organisiert das gewerkschaftsoppositionelle „National Shop Stewards Network“ eine Kundgebung vor dem TUC-Kongress in London. Gefordert wird ein 24-stündiger Generalstreik im Öffentlichen Dienst. Die Zeit dafür drängt. n

Zwei Welten

Wie eine im Mai veröffentlichte Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt, sind die Einkommen nirgendwo in der Europäischen Union (EU) so ungleich verteilt wie in Großbritannien. Laut einem im letzten Jahr vorgelegten Bericht der britischen Regierung ist in der drittgrößten EU-Ökonomie das Vermögen der oberen zehn Prozent der Bevölkerung mehr als hundertmal so groß wie das der unteren zehn Prozent.