Baden-Württemberg unter dem ersten grünen Ministerpräsidenten
Fast ein halbes Jahr ist nun seit der „historischen“ Wahl in Baden-Württemberg vergangen. Die Grünen sind zum ersten Mal auf Landesebene stärkste Regierungskraft und stellen mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten. Doch was ist übriggeblieben von der euphorischen Stimmung? Fand und findet ein Politikwechsel statt? Partizipieren die Menschen nun tatsächlich mehr an der politischen Entscheidungsfindung?
von Alexander Brandner, Stuttgart
Die ersten einhundert Tage Grün-Rot – nach 58 Jahren „schwarzem Filz“ – sind vorüber und Grüne wie auch SPD zeigen sich mit ihrer Arbeit zufrieden. Sieht man jedoch genauer hin, ist außer rhetorischen Sprechblasen und mehr oder minder unverbindlichen Absichtserklärungen wenig geschehen.
Eine Zwischenbilanz
Dass es vorerst mit ihrem „grünen“ Kapitalismus nichts wird, mussten sie schon gleich zu Beginn erfahren: Porsche und Daimler halten nicht viel von kleineren, Sprit sparenden und weniger Automobilen.
Ein weiterer Schwerpunkt war die Bildung, jedoch sind die ersten Ergebnisse dürftig: Grundschulempfehlungen abschaffen? Ja – aber recht unverbindlich. Turbogymnasien abschaffen? Jein – wenn gewünscht und Kapazitäten vorhanden, können Gymnasien wieder ein neunjähriges Abitur anbieten. Hochschulgebühren abschaffen? Ja – aber erst zum Sommersemester 2012. Neue Lehrerstellen? Bisher nicht, aber dafür soll die Polizei 1.000 neue Stellen bekommen und adäquat ausgerüstet werden (was dann wohl die Leute bemerken werden, die „Mehr Demokratie“ nicht nur für eine hohle Phrase halten).
Die Grünen brüsten sich zudem damit, dass sie am „Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg“ aus der Atomenergie entscheidend mitgewirkt haben. Aber ein Weiterbetrieb der AKW bis 2022 (dem das Land Baden-Württemberg im Bundesrat zustimmte) nach Fukushima kann nicht als Erfolg betrachtet werden.
Und schließlich Stuttgart 21: Für Verkehrsminister Winfried Hermann hat die SPD de facto einen Maulkorb durchgesetzt. Die Kriminalisierung des S-21-Widerstands geht weiter. Kretschmann verweist auf Verträge, statt zu argumentieren, dass diese nichtig sind, da die Bahn die Abgeordneten nach Strich und Faden getäuscht hat (Professor Hans Meyer von der HU Berlin beispielsweise erstellte für die Landtagsfraktion der Grünen 2010 ein Gutachten, wonach die Mischfinanzierung von S21 verfassungswidrig sei).
Eine Art Rezension
Anfang des Jahres kam Jutta Ditfurths neues Buch „Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die Grünen“ in den Handel. Teilweise wurde ihr von anderen RezensentInnen vorgeworfen, wenig Neues zu bringen, dafür eigentlich schon lange bekanntes aufgewärmt zu haben und mit bestimmten ehemaligen Parteikollegen wie Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit, Claudia Roth und Renate Künast abzurechnen.
Das mag zwar sein, trotzdem ist das Buch lesenswert, auch für die Generationen, die aufgrund ihres jungen Alters die Anfänge nicht live miterlebt haben. Dort können sie nachlesen, wie sich die Grünen von einst „basisdemokratischen“ Positionen, wie „kein Abgeordneteneinkommen höher als ein Facharbeitergehalt“, wegen Macht- und Karriereansprüchen und des Mitregierens um jeden Preis wegentwickelt haben. Davon könnten manche in der LINKEN einiges lernen – zum Beispiel, dass die Tolerierung eines Haushalts auch die Tolerierung von Repressionsmitteln und dass Mitregieren im Bund die Zustimmung zu „Staatsräson“ und NATO beinhaltet.
Sie könnten ebenso sehen, wie die Protagonisten der Südwest-Grünen schon in den Achtzigern mit einer schwarz-grünen Option liebäugelten – Winfried Kretschmann brachte dies immer wieder auf die Agenda, sein langjähriger Parteifreund Oswald Metzger aus Biberach ist ja schon in der CDU angekommen.
Es wird in einem Extra-Kapitel aufgezeigt, wie die Grünen bei Stuttgart 21 im Stil eines „Dalai Lama“ handeln – mit unverbindlichen Allerweltsweisheiten, ohne wirkliches Vertrauen in soziale Bewegungen (die aus ihrer eigenen Kraft Stärke schöpfen).
So lässt sich nachvollziehen, wenn auf Seite 36 steht: „Überall haben ihre ersten WählerInnen erfahren müssen, dass die Grünen zentrale Positionen verraten und Wahlversprechen gebrochen haben.“