Interview mit Gaz, Aziz, Jackie, Aktivisten aus Tunesien, über die Lage in Tunesien vor und nach dem Sturz Ben Alis
Zunächst einmal: Welche Auswirkungen hatte die Diktatur auf den Alltag vor der Revolution?
Gaz: Während der Diktatur waren die Leute immer und ständig in Angst, es war undenkbar in der Öffentlichkeit z.B. über Politik zu diskutieren, und man versuchte immer irgendwie der Polizei auszuweichen. Während den 23 Jahren von Ben Alis Diktatur waren die Menschen immer damit beschäftigt, irgendwie einen Ausweg aus ihrer Lage zu finden, durch Bestechung z.B., oder indem man sehr Paranoid war. Es war eine unheimliche Last für das Alltagsleben.
Aziz: Ben Ali hat die Interessen das Kapitalismus in Tunesien vertreten, also die seines Clans, seiner Freunde und des internationalen Kapitals im Land. Um zu verhindern, dass die Armen gegen das korrupte System aufstehen hat er den Polizeiapparat massiv verstärkt, und den Staat in einen Zustand versetzt, in dem jede kleinste oppositionelle Regung mit härtesten Mitteln niedergeschlagen wurde. Es war der Bergarbeiteraufstand 2008 in Gafsa, der diesen Zustand das erste mal aufbrach, und als Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 sich selbst in Flammen setzte, war das das Signal für eine Wiederholung dieses Szenarios in einem noch größeren Maßstab. Die Leute wussten: Das ist das Signal etwas zu tun, es ist jetzt Zeit auf die Straße zu gehen und das System ein für allemal loszuwerden.
Wie hat sich das Leben nach der Revolution in dieser Hinsicht geändert?
Jackie: Es wurde natürlich viele Zugeständnisse in dieser Revolutionären Atmosphäre erkämpft, die neu gewonnene Meinungsfreiheit lässt z.B. die politische Diskussionskultur sprießen, aber der revolutionäre Prozess ist noch nicht abgeschlossen: Das System, dass Ben Ali geschützt hatte, ist immer noch an der Macht, und alles, was am 14. Januar [der Tag, an dem Ben Ali floh] gewonnen wurde, ist dadurch in Gefahr und kann jederzeit wieder verloren werden.
Aziz: Was die politische Atmosphäre angeht hat allerdings ein phantastischer Wandel stattgefunden. Wenn man sich vor der Revolution über Politik unterhalten wollte musste man einen sicheren Ort in irgendeiner Kneipe oder einem Café finden, wo man sich leise flüsternd und immer in Angst vor Polizeiagenten austauschen musste. In der Hinsicht hat sich die Situation total geändert, es hat eine richtige Explosion von politischen Diskussionen überall gegeben, schon fünfjährige Kinder versuchen genau zu verstehen was um sie herum vorgeht und reden über Politik! Diese Atmosphäre gibt es jetzt überall, im ganzen Land, das ist wirklich beeindruckend. Die Revolutionäre müssen diese Atmosphäre jetzt nutzen, um ihre Ideen zu entwickeln und dem Kampf einen weg nach vorne aufzuweisen.
Was sind denn die Themen dieser Diskussionen, und wo können wir ansetzen?
Gaz: Das Establishment versucht alle Diskussionen in eine technische Richtung zu drängen, also über das Wahlsystem oder das Datum für die verfassungsgebende Versammlung, oder versuchen einen Konflikt zwischen Säkularismus und Islamismus zu beschwören; das sind aber nicht die Inhalte der Diskussionen, die in der Bevölkerung stattfinden. Die Hauptsorgen der Menschen bleiben soziale Fragen wie die hohe Arbeitslosigkeit, und an diesen Punkten versuchen auch wir anzusetzen. Wie kann man neue Jobs schaffen, was sind die Gründe für die Arbeitslosigkeit, was ist mit den Auslandsschulden, die das Ben Ali Regime hinterlassen hat und laut dem Regime von der einfachen Bevölkerung bezahlt werden soll, aber auch betriebliche Fragen wie die von flexiblen Arbeitsverträgen, oder auch die Rolle der Gewerkschaftsführung während der Revolution. Das sind die Fragen, die die Mehrheit wirklich betreffen.
Aziz: Wir brauchen dringend eine verstärkte Interaktion zwischen den Gruppen revolutionärer Marxisten und der Masse der Arbeiterklasse, den Arbeitslosen und den Jugendlichen, welche die Revolution gemacht haben. Nur in ständiger Diskussionen mit ihnen kann man etwas gewinnen, anstatt mit 3 Leuten über Politik zu debattieren.
Unsere Aufgabe ist es, die Revolution weiter voran zu treiben indem wir soziale Fragen aufwerfen. Die Frage von Ben Alis Auslandsschulden sind dafür ein guter Ansatz: Wir fordern, dass die Schulden nicht zurückgezahlt werden, die während des Ben Ali Regimes angehäuft wurden. Wir fordern, dass die Banken und die Medienkonzerne verstaatlicht und in die Hände der Revolution übergeben werden, und die Gelder aus den Banken eingesetzt werden, um Armut und Arbeitslosigkeit etwas entgegen zu setzen. Außerdem natürlich die Vergesellschaftung des gesamten Vermögens und aller Firmen, die in den Händen des Ben Ali/Trabelsi-Clan waren, die 49 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung Tunesiens ausmachen. Das wäre ein entscheidender Schritt hin zu einer sozialistischen Planung der Wirtschaft, in Verbindung mit demokratischer Arbeiterkontrolle über die Produktion.
Wie sieht denn die politische Landschaft jetzt aus, wie sieht eure politische Arbeit aus?
Jackie: Die Menschen, die sich Marxisten oder gar Trotzkisten nennen sind nur eine kleine Minderheit, und es ist eine enorme Herausforderung daraus etwas wie eine Massenkraft aufzubauen. Die Linke insgesamt spielt momentan eine große Rolle, die Frage ist, wie können wir eine Programm oder eine Plattform aufbauen, die der großen Sehnsucht nach einer anderen Gesellschaft Ausdruck verleihen kann? Das ist die Hauptaufgabe für die nächste Periode.
Aziz: Schon während der Diktatur spielten die Trotzkisten eine gewisse Rolle. In jedem Kampf, der sich gegen das Regime entwickelte, haben sie aktiv und offen z.B. für die Freilassung von politischen Gefangenen agitiert, oder für gewerkschaftliche Rechte und den Kampf gegen die Bürokratie. Auch wenn sie jetzt noch in der Minderheit sind, sie waren immer die mutigsten Aktivisten, die Avantgarde der Opposition gegen Ben Ali, auch während den dunkelsten Jahren der Diktatur. Deswegen genießen die Trotzkisten viel Respekt von andern Aktivisten als ernsthafte Kämpfer.
Gaz: Um mal ein konkretes Beispiel zu nennen: Wenn man sich z.B. die Bilder der Revolution auf Al Jazeera ansieht, sieht man oft einige GenossInnen. Es gibt ein berühmtes Bild vom Abend bevor Ben Ali floh. Da läuft ein einzelner Mann über die Avenue Bourgiba [Hauptstraße in Tunis], während der Ausgangssperre, und ruft wie verrückt Slogans gegen Ben Ali ruft (lacht) – nun, er war ein Genosse von uns. Ein weiteres berühmtes Bild ist, wie ein Aktivist direkt vor einer Polizeikette steht und ihnen mit dem Zeigefinger droht: auch ein Genosse. Wir waren einfach immer an vorderster Front! (lacht)
Was können wir in Deutschland oder International tun, um den revolutionären Prozess zu unterstützen?
Jackie: Das wichtigste ist, öffentlich darüber zu reden, zu erklären was gerade passiert. Es gibt nicht mehr so viel Medienberichte darüber, was gerade passiert, und das ist das wichtigste, die aktuellen Entwicklungen aufzuzeigen, wie die Übergangsregierung in Wirklichkeit das alte Regime vertritt usw. Ihr müsst eure Publikationen nutzen, um da Gegenöffentlichkeit herzustellen!