Erasmus Schöfer zum Achtzigsten
Als ich dem in Köln lebenden Schriftsteller Erasmus Schöfer einmal einen Glückwunsch zum Geburtstag schickte, antwortete er mir mit einer Beschwerde. Wieso ich ihm nicht zu etwas gratuliere, was er vollbracht hat. Heute gratuliere ich ihm zu seinem achtzigsten Geburtstag – und zu der Leistung Achtzig zu werden und sich so viel Originalität, Kreativität, Offenheit und vor allem den Geist der Rebellion erhalten zu haben.
von Sascha Stanicic
Schöfer wurde am 4. Juni 1931 in der Nähe Berlins geboren, hat als Kind Faschismus und Krieg miterleben müssen. Er ist Doktor der Philosophie, Arbeiter, Literat und politischer Aktivist. Seit 1962 hat er als freier Schriftsteller Theaterstücke, Hörspiele, Gedichte, Romane, Artikel verfasst. 1969 war er Mitbegründer des „Werkkreises Literatur der Arbeitswelt“. Dieser entstand aus der Schriftstellervereinigung „Gruppe 61“ und versuchte Literatur zu fördern, die sich mit der Arbeitswelt und der Arbeiterbewegung auseinander setzte und vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter selbst zu Wort kommen ließ. Arbeiterinnen und Arbeiter sollten selber als Schriftsteller agieren. Der Werkkreis veröffentlichte circa sechzig verschiedene Bände und erreichte eine Auflage von über einer Million Exemplare. Schöfer war in der Anfangszeit sein Sprecher und einer der entscheidende Köpfe. Bis zu 500 Mitglieder hatte er in seinen besten Zeiten und veröffentlichte sowohl Reportagen aus der Arbeitswelt („Ein Baukran stürzt um. Berichte aus der Arbeitswelt“) und Texte über die Geschichte der Arbeiterbewegung („Der rote Großvater erzählt“).
Schöfer war immer ein engagierter Schriftsteller, der gesellschaftliche Verhältnisse darstellt, kritisiert und zum Tanzen bringen will. Er war auch viele Jahre in der DKP, aber, wie er selbst sagt, „nie ein parteihöriger Schriftsteller.“
Werner Jung schreibt in seinem Nachwort zum kürzlich erschienen Sammelband „Diesseits von Gut und Böse“, in dem Artikel Schöfers aus fünf Jahrzehnten zusammengefasst wurden: „Die verbindende Klammer im Schaffen des Schriftstellers Erasmus Schöfer besteht darin, dass dieser Autor stets Literatur in der Bewegung und zugleich in Bewegung verfasst hat.“
Jung zitiert Schöfer auch mit dem Satz „Der realistische Schriftsteller versucht Typisches im Individuellen zu treffen.“ Das ist ihm in seinem Meisterwerk, der Romantetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ einzigartig gelungen. In den zwischen 2001 und 2008 erschienen vier Romanbänden zeichnet Schöfer auf über zweitausend Seiten anhand des Lebensverlaufs seiner ProtagonistInnen die Geschichte der westdeutschen Linken von 1968 bis 1989 nach. Darin erweckt er nicht nur wichtige Kämpfe und Bewegungen wieder zum Leben – unter anderem die APO, den Widerstand gegen das Kernkraftwerk Whyl, die Kämpfe für den Erhalt der Glashütte Süßmuth und des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen – , er zeichnet auch Debatten und Auseinandersetzungen innerhalb der Linken nach. Beispielhaft in den Diskussionen zwischen zwei seiner Hauptfiguren, dem DKP-Mitglied Viktor Bliss und dem eher spontaneistisch veranlagten Gewerkschafter Manfred Anklam, im dritten Band „Sonnenflucht“, der im wesentlichen in Griechenland spielt und auch einen tiefen Einblick in die griechische Gesellschaft und Arbeiterbewegung gibt.
„Die Kinder des Sisyfos“ sind ein besonderes Stück Literatur. Zumindest mir ist kein vergleichbares Werk bekannt, das für die von Schöfer behandelte Thematik die Bezeichnung „bedeutendes literarisches Geschichtsbuch“ (sein Verleger Volker Dittrich) verdient hätte. Bedeutend daran ist auch, dass es sich nicht um eine reine Rückschau handelt, sondern dass Schöfers Empörung über die herrschenden Verhältnisse in jeder Zeile spürbar ist und diese Empörung geradezu dazu aufruft, es seinen ProtagonistInnen gleich zu tun und gegen diese Verhältnisse zu rebellieren. Dittrich sagt dazu, dass diese Romane heutigen AktivistInnen die Möglichkeit geben, „auf diese Erfahrungen zurückzugreifen, sich daran zu orientieren und sie für ihr eigenes Handeln nutzbar zu machen.“
Der Sisyfos-Mythos ist dabei nicht pessimistisch zu interpretieren. Schöfer sagte selber dazu: „Mir geht es bei dem Sisyfos-Mythos nicht um die Vergeblichkeit, sondern um die Beständigkeit in dem Versuch, den Stein auf den Berg zu bringen und sich nicht entmutigen zu lassen.“ Angesichts des Atom-GAUs in Fukushima, der zunehmenden Verarmung breiter Teile der Arbeiterklasse auch in den entwickelten kapitalistischen Staaten und der sich seit 2007 entwickelnden kapitalistischen Weltkrise ist ein solcher Aufruf gegen Entmutigung dringender denn je. Und angesichts der unzähligen Massenkämpfe der ArbeiterInnen, Armen und Jugendlichen, wie wir sie aktuell in Südeuropa sehen, ist es unerlässlich, die Erfahrungen vergangener Generationen und ihrer Kämpfe gegen den Kapitalismus der heutigen Generation zugänglich zu machen. Schöfers „Kinder des Sisyfos“ sind dazu ein wichtiger Beitrag. Dass sie auch eine literarische Freude sind, spannend wie ein guter „Tatort“ und eine eigenwillige Sprache verwenden, der es gelingt das Innerste der ProtagonistInnen nachempfindbar zu machen, machen aus den vier Bänden große Literatur.
Die großen Verlage haben eine Veröffentlichung der Sisyfos-Tetralogie abgelehnt. Auch darin drückt sich der Klassencharakter dieser Gesellschaft aus. Ein Sarrazin bekommt Vorabdrucke seiner rassistischen Hetztiraden in SPIEGEL und BILD und wird in einem großen Verlag aufgelegt. Dann ist es nicht schwer, eine Millionenauflage zu erreichen. Ein Schöfer baut auf linken Kongressen selber kleine Büchertische auf und bewirbt seine Bücher. Bei einem solchen Kongress drückte er mir einen Werbezettel für den ersten Band „Ein Frühling irrer Hoffnungen“ in die Hand, der mein Interesse weckte. Ich las das Buch und schrieb eine Besprechung dazu, in der Hoffnung, so einen kleinen Beitrag zur Verbreitung zu leisten. Irgendwann erhielt ich einen Anruf des Autors, der über meine Rezension gestolpert war und wissen wollte, wer da auf einer marxistischen Webseite begeistert, aber nicht unkritisch, über seinen Roman schrieb. Ich habe seitdem das Glück gehabt, ihn etwas kennen zu lernen. Dass der Autor den Rezensenten kontaktiert, sagt auch etwas über den Menschen Schöfer aus, der einem trotz Altersunterschied auf gleicher Augenhöhe begegnet. Sein ehrliches Interesse an den Meinungen anderer, seine Offenheit und auch seine Fähigkeit sich leidenschaftlich auseinanderzusetzen, haben mich beeindruckt.
Also: Herzlichen Glückwunsch zum Achtzigsten, Erasmus! Hoffen wir, dass die Kinder des Sisyfos immer mehr werden!
Erasmus Schöfer – Das neue Wort
Aus dem 1982 erschienenen Gedichtband „Zeit-Gedichte“ über die Militärdiktatur in Chile
Sohn,
du hast ein neues Wort gelernt:
Chile.
Nicht aus der Schule
kommst du mit der Frage.
Du hörtest mich zu deiner Mutter sagen:
Chile –
und fragst, warum ich das so sage
wie damals:
Angela –
mit dieser Stimme.
Wie so oft:
Vietnam –
mit dem finstern Gesicht,
sagst du.
Chile ist ein Land,
das liegt so weit wie Vietnam.
Und Chile heißt,
dass unser Hauswirt bei der Polizei anruft:
Hier wohnen Kommunisten!
Im Morgendämmern
halten Jeeps vor unserm Haus,
kommen zehn Soldaten in grauen Uniformen,
klingeln nicht, brechen die Tür auf,
stehn an deinem Bett,
Maschinenpistolen, die sind kälter
als die Plastikdinger deiner Freunde,
stehn an deinem Bett,
fragen nach deinem Vater und du hörst sie sagen nebenan:
Hände hoch! Keine Bewegung!
Doch das ist kein Spiel.
Vor ihren schwarz glänzenden Läufen
geht dein Vater zu den Jeeps,
die Nachbarn schauen aus den Fenstern
und deine Mutter
nimmt dich in den Arm
und weint nicht.
Später sagt sie dir,
ich sei mit sehr vielen Freunden
im Stadion des 1. FC Köln.
Bald werden wir ihm Essen bringen
und etwas Warmes für die Nacht!
Zusammen packt ihr einen Koffer.
Das ist Chile.
Chile heißt auch,
dass der Hauswirt mittags wieder anruft
bei der Polizei:
Die Mutter ist nicht besser als der Mann
und eine rote Hure!
Abends schon kommen Zivilisten,
Gummiknüppel und Pistolen in den Gürteln,
die lachen diesmal, sind besoffen,
reißen deiner Mutter die Kleider ab,
stoßen sie auf den blauen Teppich
und stechen die Schwänze in ihren Leib
wie Messer,
dass sie schreit und schlägt.
Aber die Männer lachen nur.
Sie gehen durch die Zimmer,
schmeißen Bücher von den Borden,
auch deine: Rotfuchs, Spartakus der Sklavenfeldherr,
machen damit Feuer an im Hof,
obwohl es warm ist.
Sie werfen die Möbel um,
in denen du gewohnt hast,
und scheißen in die Küche –
auf das abgerissne Lenin-Bild.
Die Mutter stoßen sie in unser Auto,
du willst mit ihr,
doch sie schlagen dir ins Gesicht
und fahren ab. Du stehst vor unserm Haus, allein,
und diesmal schaut kein Nachbar
aus dem Fenster. Das, mein Sohn, ist Chile.
Und Chile heißt,
dass nachts Herr Müller
aus dem Nachbarhaus
durch die zerbrochne Tür kommt,
in allen Zimmern hast Du Licht gelassen aus Angst,
steigt über Scherben und Möbeltrümmer
an dein Bett,
wo du angezogen nicht schläfst
auf deinen nassen Kissen.
Er streicht dir übers Haar.
Nimmt deinen Bären, deinen Legokasten
und dich mit durch den Garten in sein Haus.
Am Morgen fragt er dich nach unsern Freunden
und bringt dich
zur Familie Zimmermann ins Vorgebirge.
Du siehst die Panzer in den Straßen,
Soldaten, hörst Schüsse, Männer
liegen auf dem Boden, Blut, verbrannte Bücher.
Und du hast viele Tage schulfrei.
Aber die Kinder dürfen nicht mehr
mit dir spielen.
Das ist Chile.
Später sagt der Doktor Zimmermann,
dein Vater sei schwer krank
und deine Mutter weit verreist –
du glaubst es fast,
denn er ist Arzt.
Noch später hörst du sie im Nebenzimmer reden
über die Militärregierung
und hörst:
dein Vater sei erschossen worden
auf der Flucht
und deine Mutter im Gefängnis Ossendorf
weil sie in der Gewerkschaft
Funktionär gewesen ist und
hinter einer roten Fahne ging.
Chile, mein Sohn,
das gab es vor vierzig Jahren
hier bei uns in Deutschland
und kann es wieder geben,
wenn wir nicht wachsam sind
und lernen
aus den Erfahrungen der Sozialisten.
Wenn du jetzt weinst,
mein Sohn,
wie manchmal, als wir
abends dich allein ließen
wegen der Schulung
oder den Sonntagsausflug mit dir
durch die Kölner Straßen machten,
begleitet von viel Polizei und Wasserwerfern,
hörst du –
da haben wir geholfen,
Angela Davis zu befrein
und die Bomben aufzuhalten
gegen Vietnams Schulkinder!
Millionen deiner Eltern haben so
in USA, Laos, in Guinea und Italien
gekämpft gegen die Ausbeuter und Unterdrücker
für den Sozialismus
in dem nichts die Eltern daran hindern kann,
bei schönem Wetter mit ihren Kindern
sonntags ins Bad zu gehen.
Hast du das neue Wort verstanden, Sohn?
Hier nimm mein Taschentuch.
Kommst du nun morgen mit zur Kundgebung
für Chile?