Welchen Beitrag kann die marxistische Wirtschaftstheorie zur Erklärung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise leisten?
In bürgerlichen Zeitungen und Wirtschaftsjournalen wird die derzeitige Weltwirtschaftskrise wahlweise als „Finanzkrise“ oder „Vertrauenskrise“ bezeichnet. Aus Sicht der marxistischen Wirtschaftstheorie verdient die gegenwärtige Krise dagegen so wenig eine besondere Bezeichnung wie die Krisen 1974-1976 („erste Ölkrise“), 1980-1982 („zweite Ölkrise), 1990-1991 („Immobilienkrise“) und 2001 („Börsenkrise“). Bürgerliche Ökonomen und Politiker neigen häufig dazu, das „Spezielle“ an den Krisen zu betonen, um bewusst oder unbewusst von der Frage nach der grundlegenden Stabilität des Wirtschaftssystems abzulenken. Die marxistische Wirtschaftstheorie verweist dagegen auf die Regelmäßigkeit der Krisen und ihren allgemeinen Charakter, den sie in grundlegenden Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise begründet sieht, ohne dabei den speziellen Verlauf jeder Krise zu negieren. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, in die Grundzüge der marxistischen Wirtschaftstheorie einzuführen und sie für ein Verständnis der aktuellen Weltwirtschaftskrise nutzbar zu machen.
von Lorenz Blume und Wolfram Klein
Ein Ausgangspunkt, um sich die marxistische Krisentheorie zu erschließen, sind die Eigentumsverhältnisse im Kapitalismus. Karl Marx (1818-1883) ist das Privateigentum an den Produktionsmitteln (Fabriken, Maschinen, usw.) wesentliches Charakteristikum der kapitalistischen Produktionsweise. Obwohl es im Kapitalismus auch Staatseigentum, Genossenschaften u.ä. gibt, findet die vorherrschende Wertschöpfung in privatwirtschaftlichen Unternehmen statt und auch die Investitionen sind überwiegend private Investitionen. Marx spricht davon, dass diese Organisation der gesellschaftlichen Produktion dazu führt, dass jeder einzelne Kapitalist bei „Strafe des Untergangs“ (also z.B. des Konkurses) gezwungen ist, sein Kapital immer wieder so profitabel wie möglich zu verwerten (also z.B. neu zu investieren). Diese fortwährende „Selbstverwertung des Kapitals“ erzeugt eine Tendenz zur Akkumulation (Vermehrung, Anhäufung) von Kapital in der Gesamtwirtschaft.
Privateigentum an den Produktionsmitteln
Die Argumentationskette Privateigentum an Produktionsmitteln => Konkurrenz zwischen den Unternehmen => Notwendigkeit der Gewinnmaximierung bei Strafe des Untergangs findet sich auch in zahlreichen bürgerlichen Lehrbüchern, entsprechend ergibt sich daraus noch keine Unterscheidung zwischen marxistischer und bürgerlicher Wirtschaftstheorie. Auch bei der Frage, welche Optionen jeder einzelne Kapitalist hat, um sein Kapital profitabel zu verwerten, liegen beide Theorien nah beieinander. So geht die neoklassische bürgerliche Theorie davon aus, dass die Selbstverwertung des Kapitals im Wesentlichen durch Investitionen stattfindet, die entweder einem Kostenmotiv (Rationalisierungsinvestitionen) oder einem Absatzmotiv (Erweiterungsinvestitionen) folgen. Der volkswirtschaftliche Kreislauf ist dabei immer geschlossen: Die Produktion der Unternehmen erzeugt Einkommen bei den Besitzern der Produktionsfaktoren (Gewinne für Kapitalbesitzer, Löhne für Arbeiter und Renten für Grundbesitzer), dieses Einkommen fließt entweder in Konsum oder wird gespart. Wir werden unten erklären, warum der Begriff „Produktionsfaktoren“ irreführend ist.
Vermittelt über die Banken steht das gesparte Einkommen für Investitionen zur Verfügung. Im Ergebnis schafft sich jedes Angebot seine eigene Nachfrage entweder in Form von Konsumgüternachfrage (nach Nahrung, Kleidung, usw.) oder in Form von Investitionsgüternachfrage (nach Maschinen, Rohstoffen, usw.). Diese als Say’sches Theorem (nach dem französischem Ökonomen Jean-Baptiste Say, 1767-1832) bekannt gewordene Aussage lässt keinen Spielraum für Wirtschaftskrisen und ist daher unfähig, die kapitalistische Wirklichkeit zu verstehen. Für Marx erforderte der „fade Say“ nicht einmal eine ausführliche Kritik. Diese Annahme war auch Ausgangspunkt für die Kritik von John Maynard Keynes (1883-1946), die er unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929-32 an der neoklassischen Spielart der bürgerlichen Ökonomie formulierte. Nach Keynes übersieht die Neoklassik, dass es neben den Gütermärkten, auf denen investiert und konsumiert wird, auch noch Geldmärkte gibt, auf denen die Kapitalisten „spekulieren“ können. Nach seiner Einschätzung hat das Geld nicht nur eine Transaktionsmittelfunktion (für den Tausch von Waren), sondern auch eine Spekulationsfunktion (für die Nachfrage nach Finanzmarktprodukten). Das sich auf Güter- und Geldmarkt einstellende Gleichgewicht führt nach Keynes nicht automatisch zur Vollbeschäftigung und er sieht deshalb die Notwendigkeit zusätzlicher staatlicher Nachfrage in Phasen mit hoher Arbeitslosigkeit.
Strategien der Profitmaximierung
Aus Sicht der marxistischen Wirtschaftstheorie sind „investieren“ und „spekulieren“ ebenfalls zentrale Verwertungsstrategien, auch wenn sie in einem anderem begrifflichen Gewand abgehandelt werden (s.u.). An verschiedenen Stellen des Marx’schen Werkes werden allerdings auch noch andere Strategien der Profitmaximierung abgehandelt: So können Unternehmen ihre Profite erhöhen, in dem sie die Arbeitshetze erhöhen oder die Arbeitszeit verlängern (Marx spricht hier von einer Erhöhung des absoluten Mehrwerts), in dem sie die Löhne absenken, in dem sie Kosten externalisieren (z.B. durch Umweltverschmutzung) oder in dem sie die Kosten für ihre Vorleistungen reduzieren (z.B. Rohstoffkosten). Diese Strategien haben gemeinsam, dass ihre Begrenztheit sehr offensichtlich ist: Die Steigerung des absoluten Mehrwerts hat eine physische Schranke in der Regenerationsfähigkeit der Ware Arbeitskraft, ähnliches gilt für die Belastbarkeit der Umwelt und die Verfügbarkeit billiger Rohstoffe, das Absenken des Lohnniveaus reduziert die kaufkräftige Nachfrage. In all diesen Fällen gilt, dass die Summe der betriebswirtschaftlichen Strategien zu einem Ergebnis führt, durch das sich die Kapitalisten selbst den Ast absägen, auf dem sie sitzen, anders formuliert: es macht für jeden einzelnen Kapitalisten Sinn, so niedrige Löhne wie möglich zu zahlen und Umweltstandards aus Kostengründen abzusenken, auch wenn das den dauerhaften Fortbestand des Kapitalismus bedroht. Dies erscheint als ein Auseinanderfallen von betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Rationalität und ein Wesenszug der auf Konkurrenz basierenden Organisation der kapitalistischen Produktionsweise. Viele Lehrbücher bürgerlicher Ökonomen sind deshalb voll von Vorschlägen wie der Staat (Marx würde formulieren: als ideeller Gesamtkapitalist) die Rahmenbedingungen so setzen kann, dass diese destruktiven Tendenzen des Wirtschaftssystems abgemildert werden. Der marxistische Einwand ist, dass die Konkurrenz den einzelnen Kapitalisten die Gesetzmäßigkeiten des kapitalistischen Systems aufzwingt. Diese betriebswirtschaftliche Rationalität ist zwar gesamtgesellschaftlich höchst irrational und für die arbeitenden Menschen und die Umwelt zerstörerisch, aber eine volkswirtschaftliche Rationalität, die den Anspruch hat, mit Mensch und Umwelt pfleglich und nachhaltig umzugehen, kollidiert auf Schritt und Tritt mit diesen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus.
Deshalb kann der Staat einzelne Auswüchse beseitigen, aber die grundsätzlichen zerstörerischen Folgen der betriebswirtschaftlichen Rationalität nicht verhindern, ohne den Kapitalismus selbst anzugreifen (wozu kein bürgerlicher Staat fähig ist). Die staatlichen Rahmenbedingungen sind deshalb weit davon entfernt, eine Nachhaltigkeit der kapitalistischen Produktionsweise zu gewährleisten (ablesbar etwa am Artensterben, der weltweiten Armutsrate oder der Kriege, die um den Zugang zu Rohstoffen geführt werden).
Technischer Fortschritt und Finanzmarkttransaktionen
Die nächsten großen theoretischen Differenzen, die dann auch zum Kern der Krisentheorie führen, liegen in der Einschätzung der dominanten Verwertungsstrategien „investieren“ und „spekulieren“. Die bürgerliche Ökonomie betont, dass Investitionen in neue Technologien (der technische Fortschritt) als Gewinnmaximierungsstrategie (Wettbewerb als Entdeckungsverfahren) zu einer fortwährenden Erneuerung des Kapitalismus führen und so (zumindest) seine ökonomische Nachhaltigkeit begründen. Die Existenz der Geld- und Finanzmärkte kann zwar zu temporären konjunkturellen Ungleichgewichten führen (in dem z.B. im Aufschwung zu viele Kredite und im Abschwung zu wenig Kredite vergeben werden), aber auch diese Effekte kann der Staat durch Regulierungen und Konjunkturprogramme abmildern. Die Versicherungsfunktion (z.B. durch die Risikostreuung bei Termingeschäften) und Finanzierungsfunktion (z.B. durch Fondsbildung) der Geld- und Finanzmärkte wird als vorteilhaft und stabilisierend beschrieben. Die marxistische Wirtschaftstheorie sieht jedoch in diesen Bereichen sich in Krisen entladende kapitalistische Widersprüche und bestreitet die Nachhaltigkeit der kapitalistischen Produktionsweise nicht nur aus sozialer und ökologischer sondern auch aus ökonomischer Sicht.
Mehrwertrate und Wert der Ware Arbeitskraft
Eine Schlüsselstellung in der marxistischen Argumentation nimmt dabei die relative Mehrwertrate ein. Als Mehrwertrate wird das Verhältnis von Mehrwert, also dem Teil des Produktwertes (der Wert des Produktes wird dabei in Arbeitszeiteinheiten gemessen), den sich die Kapitalisten aneignen (Gewinne bei Eigenkapital, Zinsen bei Fremdkapital und Bodenrenten bei Grundbesitz), und der zur Herstellung des Produkts notwendigen lebendigen Arbeit definiert. Grundannahme ist, dass die Kapitalisten unter dem wettbewerbsbedingten Kostensenkungsdruck der kapitalistischen Produktionsweise dazu tendieren, den Anteil des Werts, den sich die Kapitalisten aneignen, zu erhöhen und den Anteil, den die Lohnarbeiter erhalten, zu verringern. Dass es den Kapitalisten in den entwickelten Volkswirtschaften nicht vollständig gelingt, das Lohnniveau am Existenzminimum auszurichten, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, wie der Stärke der Gewerkschaften und dem bereits erkämpften Wohlstandsniveau der Gesellschaft insgesamt. Wichtig ist, dass auch und gerade in den entwickelten Volkswirtschaften die hohe Produktivität der im Produktionsprozess eingesetzten Arbeiter dazu führt, dass die ausgezahlte Lohnsumme eines Unternehmens vom Gesamtwert seiner Produktion (abzüglich der Kosten für Maschinen, Rohstoffe, usw.) abweicht. In Marx’scher Terminologie entsprechen die ausgezahlten Löhne nur einem Teil der Arbeitszeit, die ein Arbeiter im Jahr in der Fabrik verbringt, in der restlichen Zeit produziert er Mehrwert, den sich der Kapitalist aneignet.
Überproduktionskrisen
Aus Sicht jedes einzelnen Unternehmens stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Das Unternehmen hat einerseits Aufwendung für Maschinen und Vorprodukte (Marx nennt dies konstantes Kapital oder auch „tote Arbeit“, da die Arbeit hierfür in der Vorperiode aufgewendet wurde) und andererseits Löhne und Gehälter für die Beschäftigten (Marx spricht hier auch von variablem Kapital oder „lebendiger Arbeit“). Profitmaximierung heißt dann, dass jedes Unternehmen versucht, das Verhältnis von Mehrwert (der nach Marx kausal ausschließlich mit der lebendigen Arbeit verknüpft wird) zum eingesetzten konstanten und variablen Kapital zu maximieren. Dieses Verhältnis wird auch als Profitrate bezeichnet. Durch eine „Investition“ in neue Maschinen (d.h. technischen Fortschritt) kann nun ein einzelner Kapitalist versuchen, sein Kapital profitabel zu verwerten und seine Profitrate zu erhöhen. Die Investition erfolgt dabei in aller Regel mit dem Ziel, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, in marxistischer Terminologie: die relative Mehrwertrate. Relative Mehrwertrate (im Gegensatz zur bereits oben erwähnten absoluten Mehrwertrate) deshalb, weil es hier nicht darum geht, die Arbeitszeit absolut auszudehnen, sondern vielmehr den relativen Anteil der Arbeitszeit, die nun bedingt durch die neue Technologie auf die Produktion von Mehrwert entfällt, zu erhöhen (bei gleich bleibenden, unter Umständen sogar steigenden, Löhnen). Die Investition erhöht zugleich das Verhältnis von toter zu lebendiger Arbeit (Marx spricht hier von der organischen Zusammensetzung des Kapitals) in der Produktion, d.h. die Aufwendungen für konstantes Kapital nehmen tendenziell zu (wiederum bei unveränderter Lohnhöhe). Für das erste Unternehmen, das solch eine neue Technologie (z.B. eine neue Maschinengeneration) einführt, rechnet sich das Geschäft in aller Regel. Es erhöht zwar seine Aufwendungen (die Summe von konstantem und variablen Kapital), steigert aber auch seinen Ertrag durch die zunehmende relative Mehrwertrate. Es kann gegenüber seinen Konkurrenten einen Extraprofit erzielen. Um keine Marktanteile an dieses nun mit erhöhter Produktivität und damit kostengünstiger produzierende Unternehmen zu verlieren, sind die anderen Unternehmen der gleichen Branche gezwungen, ebenfalls in die neue Technologie zu investieren. Für die unmittelbar nachfolgenden Unternehmen mag sich das Geschäft auch noch rechnen, aber ab einem gewissen Punkt dieses technologischen Erneuerungszyklus stellt sich folgendes Problem: Wenn die ausgezahlte Lohnsumme unverändert bleibt, verändert sich auch die kaufkräftige Nachfrage nicht, d.h. der produktivitätsbedingt höhere Output der Unternehmen trifft auf einen unverändert großen Markt. Paul Sweezy (1910-2004) spricht davon, dass sich ab einem gewissen Punkt des technologischen Erneuerungszyklus ein Realisierungsproblem stellt, die Unternehmen können den durch die neue Technologie relativ gesteigerten Mehrwert nicht mehr realisieren (die Waren zu dem vorgesehenen Preis verkaufen), da die kaufkräftige Nachfrage systematisch hinter den Produktionsmöglichkeiten zurückbleibt. Es kommt zu einer sogenannten Überproduktionskrise, die sich darin ausdrückt, dass die Produktion zurückgefahren werden muss und Überkapazitäten entstehen. Einige Unternehmen werden in der Wirtschaftskrise untergehen oder von anderen erfolgreicheren Unternehmen aufgekauft. Am Ende steht die ganze Branche mit erhöhtem Kapitalstock bei unverändert großem Markt (d.h. auch unverändert hohem realisierbaren Mehrwert) dar. Die Profitrate, also das Verhältnis von eingesetztem Kapital und Ertrag ist gesunken und der technologische Erneuerungszyklus beginnt auf diesem erhöhten Kapitalstock von neuem. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass diese von Investitionen in Ausrüstungen wie Maschinen getriebenen Erneuerungszyklen (auch Juglarzyklen genannt) in erstaunlicher Regelmäßigkeit etwa sieben bis elf Jahre andauern und dann von einer Wirtschaftskrise unterbrochen werden, bevor der neue Konjunkturzyklus beginnt. In eine an Ernest Mandel (1923-1995) angelehnte Zählung lassen sich seit der Entstehung des Kapitalismus bis zum heutigen Zeitpunkt 24 solcher Überproduktionskrisen identifizieren.
Tendenzieller Fall der Profitrate
Klassische bürgerliche Ökonomen wie David Ricardo (1772-1823) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten ähnlich wie später Marx erkannt, dass Werte durch menschliche Arbeit geschaffen werden. Moderne bürgerliche Ökonomen ließen diese Erkenntnis fallen zugunsten der Vorstellung, dass die Arbeit ein Produktionsfaktor unter mehreren sei (neben Kapital und Grund und Boden). Wenn es eine „Natureigenschaft“ des Kapitals ist, Zinsen hervorzubringen (und des Bodens, Renten hervorzubringen), dann ist unverständlich, dass die Ersetzung von Arbeitskräften durch Maschinen für den Kapitalismus ein strukturelles Problem bedeutet. Die dadurch hervorgerufenen Krisen müssen dann zu Zufällen, Folgen von politischen Fehlern, von Sonnenfleckenzyklen etc. erklärt werden.
Im Gegensatz zur bürgerlichen Ökonomie versteht die marxistische Wirtschaftstheorie, dass der technische Fortschritt durch Investitionen im Kapitalismus zu verschärften Widersprüchen führt. Von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus wird die Kluft zwischen Produktionsmöglichkeiten und kaufkräftiger Nachfrage größer. Die Profitrate auf den Gütermärk–ten sinkt tendenziell, da die Gesamtkosten für den Kapitalstock zunehmen und die Realisierung der Produktivitätsgewinne aufgrund der beschränkten Märkte dahinter zurückbleibt. Es gibt zwar eine Reihe von Faktoren, die dem Fallen der Profitrate entgegenwirken können wie sinkende Löhne oder staatliche Nachfrage, aber für jede dieser entgegenwirkenden Faktoren lässt sich belegen, dass sie das Problem nicht grundlegend beheben. So bringen sinkende Löhne (etwa aufgrund von Entlassungen im Zuge der Einführung der neuen Technologie) zwar kurzfristig einen Kostenvorteil, mittelfristig verschärfen sie aber das Realisierungsproblem. Unproduktive staatliche Nachfrage kann dem Realisierungsproblem entgegenwirken, erhöht aber die Produktionskosten (wenn sie durch unternehmensrelevante Steuern finanziert wird) oder senkt mittelfristig die kaufkräftige Nachfrage (wenn sie durch Konsumsteuern finanziert wird). Die somit auf den Gütermärkten von Zyklus zu Zyklus in der Tendenz sinkende Profitrate führt nach Marx zu einer strukturellen Überakkumulation, die sich auf zweierlei Weise ausdrücken kann: Entweder in Form von Überproduktion oder nicht ausgelasteten Kapazitäten auf den Gütermärkten oder in Form von zunehmender „Spekulation“ auf den Geld- und Finanzmärkten. Sind die Profiterwartungen auf den Geld- und Finanzmärkten höher als auf den Gütermärkten, so kann es zum Aufbau von Spekulationsblasen, die sich zumindest phasenweise von den realwirtschaftlichen Prozessen entkoppeln, kommen. Marx spricht hier vom Aufbau fiktiven Kapitals. Allgemein lässt sich festhalten, dass zunehmende Überakkumulation dazu tendiert, sich vermehrt auf den Geld- und Finanzmärkten auszudrücken, wobei diese sich natürlich nie vollständig von den realwirtschaftlichen Prozessen entkoppeln können und es deshalb auch regelmäßig zum Platzen der Blasen kommt (sei es die Aktienblase zu Zeiten der New Economy oder die aktuelle Hypothekenblase). Das Platzen solcher Blasen kann durchaus zum Auslöser von Wirtschaftskrisen werden und es kann ihren Verlauf bestimmen, aber die Ursache liegt immer in der strukturellen Überakkumulation auf den Gütermärkten, also in der Realwirtschaft, begründet.
Wirtschaftskrisen im historischen Verlauf
Nimmt man die auf den Finanzmärkten sichtbare Überakkumulation als Maßstab für die Größe der Kluft zwischen Produktionsmöglichkeiten und kaufkräftiger Nachfrage auf den Gütermärkten, so zeigt sich in einer historischen Betrachtung, dass diese Kluft in den 1920er Jahren größer war als in den 1950er Jahren und seit den 1950er Jahren wieder kontinuierlich auf ein Niveau angewachsen, das nun jenes der 1920er Jahre deutlich übersteigt. Dies liegt darin begründet, dass der Kapitalismus durch eine besondere historische Situation (zwei Weltkriege, Faschismus, Aufstieg der USA zur neuen Hegemonialmacht) in der Lage gewesen ist, dem Gesetz vom tendenziellen Fall der durchschnittlichen Profitrate entgegenzuwirken. Der Nachkriegsaufschwung war durch einen Angleichungsprozess der Profitraten zwischen den USA und Europa gekennzeichnet. Hohe Profitraten in Eu–ropa (u.a. bedingt durch Kriegszerstörung und vom Faschismus geschwächte Gewerkschaften) sowie ein großer Binnenmarkt mit hoher kaufkräftiger Nachfrage in den USA erlaubten große Investitionen in Basistechnologien und neue Produkte, ohne dass dies unmittelbar zu einem Fallen der Profitrate führte. Spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 1974-76 geht der Kapitalismus aber wieder seinen „normalen Gang“ und die strukturelle Überakkumulation baut sich von Zyklus zu Zyklus auf. Im Gegensatz zur bürgerlichen Wirtschaftstheorie erklärt die marxistische Wirtschaftstheorie diese an längeren Zeitreihendaten ablesbaren Tendenzen mit grundlegenden Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise. Während viele bürgerliche Ökonomen dazu neigen, Schwächen der kapitalistischen Produktionsweise bei der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit einzuräumen, stellt die marxistische Wirtschaftstheorie auch die ökonomische Nachhaltigkeit in Frage. Die innere Logik des Kapitalismus mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, die in der Konkurrenz zum Ausdruck kommt (Marx spricht hier auch von der Anarchie des Marktes) führt dazu, dass die Wirtschaft sich nicht an den Bedürfnissen der Mehrheit orientiert, sondern an den Profitinteressen weniger. Dieses Auseinanderfallen von betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Rationalität führt nicht nur zu Klimakatastrophen und Hungertoten, sondern auch zu regelmäßigen Wirtschaftskrisen, deren Kosten aufgrund der von Kapitalinteressen dominierten Regierungen in der Regel nicht von ihren Verursachern getragen werden.